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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Großbritanniens Vstsccpolitik

abzielte, war selbstverständlich. Der russische Finanzminister Graf Witte hat
in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts diese Bestrebungen warm unter¬
stützt und im Herbst 1901 die Entsendung russischer Landwirte nach London
veranlaßt, damit sie sich über die Aufnahmefähigkeit des englischen Markes für
die Erzeugnisse der russischen Landwirtschaft unterrichten. Eine englische Ab¬
ordnung machte später einen Gegenbesuch in der russischen Residenz, wo eine
russisch-englische Handelskammer begründet wurde. Die damaligen Bestrebungen
zur Zurückdrängung des deutschen Handelsverkehrs hatten jedoch keinen Erfolg.
In der Zeit von 1902 bis 1908 stieg nach der deutschen Statistik die deutsche
Einfuhr aus Rußland von 159 auf 945 Millionen Mark, die deutsche Ausfuhr
nach Rußland von 299 auf 450 Millionen Mark, während der gesamte Außen¬
handel Rußlands kein entsprechendes Wachstum zeigte. Nach wie vor blieb
Deutschland der größte Abnehmer für russtche Erzeugnisse und der größte
Lieferant für den russischen Markt. Englands Güteraustausch mit Rußland hatte
in dieser Zeit Rückschläge und Steigerungen, doch nicht die stetige Zunahme
aufzuweisen, wie sie in dem deutsch-russischen Güterverkehr zutage trat.

Die russischen Ostseehäfen sind für England von jeher an sich wertvoll
gewesen und müssen in den Rechnungen bezüglich eines gesteigerten Handels¬
verkehrs mit Rußland erst recht an Bedeutung gewinnen. Gelingt es Rußland,
aus dem wirren Chaos, in das es durch seine frevelhafte Beteiligung am Über-
fallskriege auf die Mittelmächte hineingeraten, das Baltikum -- hoffentlich zon
mindesten unter Verlust des von uns besetzten Kurlands -- in seinem Besitz
zu erhalten, so werden in den bei Rußland verbliebenen baltischen Häfen Handel
und Wandel alsbald wiederum einen regen Aufschwung nehmen. Man darf
voraussetzen, daß die dort ansässigen deutsch-baltischen Kaufmannskreise von den
vernichtenden Schlägen, unter denen auch sie reichlich haben leiden müssen,
rascher als an den anderen russischen Handelsplätzen sich erholen werden, weil
die Folgen der revolutionären Umwälzung nicht mit so unmittelbaren Wirkungen
sie heimgesucht haben. An tatkräftiger Wiederaufrichtung der unterbrochenen
geschäftlichen Beziehungen mit Westeuropa werden die baltischen Handelshafen
es jedenfalls nicht fehlen lassen. Und ihnen wird zugute kommen, daß der
Außenhandel am ehesten dort sich seine Stützpunkte suchen wird, wo solide
Ordnungen von altersher heimisch gewesen sind und auch durch die wilde Kriegs¬
zeit nicht ausgerottet sein werden. Grund genug zur Überlegung, wer in jenen
wichtigen Handelsplätzen, in denen die rein russische Kaufmannschaft niemals eine
führende Rolle beansprucht hat, nach den Stürmen der Gegenwart die merkantile
Vorherrschaft vertreten soll, Deutschland oder England?

Der prozentuale Anteil der Ostseehäfen an Rußlands Einfuhr betrug
Riga und Reval zusammen, also für die beiden größten in russischem Besitz
befindlichen baltischen Häfen im Jahre 1912 24 Prozent, stellte sich für Liba"
und Windau, die unter deutscher Verwaltung stehen, auf etwa 6 Prozent und
für Petersburg auf etwa 20 Prozent. Von der russischen Ausfuhr entfielen in


Großbritanniens Vstsccpolitik

abzielte, war selbstverständlich. Der russische Finanzminister Graf Witte hat
in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts diese Bestrebungen warm unter¬
stützt und im Herbst 1901 die Entsendung russischer Landwirte nach London
veranlaßt, damit sie sich über die Aufnahmefähigkeit des englischen Markes für
die Erzeugnisse der russischen Landwirtschaft unterrichten. Eine englische Ab¬
ordnung machte später einen Gegenbesuch in der russischen Residenz, wo eine
russisch-englische Handelskammer begründet wurde. Die damaligen Bestrebungen
zur Zurückdrängung des deutschen Handelsverkehrs hatten jedoch keinen Erfolg.
In der Zeit von 1902 bis 1908 stieg nach der deutschen Statistik die deutsche
Einfuhr aus Rußland von 159 auf 945 Millionen Mark, die deutsche Ausfuhr
nach Rußland von 299 auf 450 Millionen Mark, während der gesamte Außen¬
handel Rußlands kein entsprechendes Wachstum zeigte. Nach wie vor blieb
Deutschland der größte Abnehmer für russtche Erzeugnisse und der größte
Lieferant für den russischen Markt. Englands Güteraustausch mit Rußland hatte
in dieser Zeit Rückschläge und Steigerungen, doch nicht die stetige Zunahme
aufzuweisen, wie sie in dem deutsch-russischen Güterverkehr zutage trat.

Die russischen Ostseehäfen sind für England von jeher an sich wertvoll
gewesen und müssen in den Rechnungen bezüglich eines gesteigerten Handels¬
verkehrs mit Rußland erst recht an Bedeutung gewinnen. Gelingt es Rußland,
aus dem wirren Chaos, in das es durch seine frevelhafte Beteiligung am Über-
fallskriege auf die Mittelmächte hineingeraten, das Baltikum — hoffentlich zon
mindesten unter Verlust des von uns besetzten Kurlands — in seinem Besitz
zu erhalten, so werden in den bei Rußland verbliebenen baltischen Häfen Handel
und Wandel alsbald wiederum einen regen Aufschwung nehmen. Man darf
voraussetzen, daß die dort ansässigen deutsch-baltischen Kaufmannskreise von den
vernichtenden Schlägen, unter denen auch sie reichlich haben leiden müssen,
rascher als an den anderen russischen Handelsplätzen sich erholen werden, weil
die Folgen der revolutionären Umwälzung nicht mit so unmittelbaren Wirkungen
sie heimgesucht haben. An tatkräftiger Wiederaufrichtung der unterbrochenen
geschäftlichen Beziehungen mit Westeuropa werden die baltischen Handelshafen
es jedenfalls nicht fehlen lassen. Und ihnen wird zugute kommen, daß der
Außenhandel am ehesten dort sich seine Stützpunkte suchen wird, wo solide
Ordnungen von altersher heimisch gewesen sind und auch durch die wilde Kriegs¬
zeit nicht ausgerottet sein werden. Grund genug zur Überlegung, wer in jenen
wichtigen Handelsplätzen, in denen die rein russische Kaufmannschaft niemals eine
führende Rolle beansprucht hat, nach den Stürmen der Gegenwart die merkantile
Vorherrschaft vertreten soll, Deutschland oder England?

Der prozentuale Anteil der Ostseehäfen an Rußlands Einfuhr betrug
Riga und Reval zusammen, also für die beiden größten in russischem Besitz
befindlichen baltischen Häfen im Jahre 1912 24 Prozent, stellte sich für Liba»
und Windau, die unter deutscher Verwaltung stehen, auf etwa 6 Prozent und
für Petersburg auf etwa 20 Prozent. Von der russischen Ausfuhr entfielen in


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[0304] Großbritanniens Vstsccpolitik abzielte, war selbstverständlich. Der russische Finanzminister Graf Witte hat in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts diese Bestrebungen warm unter¬ stützt und im Herbst 1901 die Entsendung russischer Landwirte nach London veranlaßt, damit sie sich über die Aufnahmefähigkeit des englischen Markes für die Erzeugnisse der russischen Landwirtschaft unterrichten. Eine englische Ab¬ ordnung machte später einen Gegenbesuch in der russischen Residenz, wo eine russisch-englische Handelskammer begründet wurde. Die damaligen Bestrebungen zur Zurückdrängung des deutschen Handelsverkehrs hatten jedoch keinen Erfolg. In der Zeit von 1902 bis 1908 stieg nach der deutschen Statistik die deutsche Einfuhr aus Rußland von 159 auf 945 Millionen Mark, die deutsche Ausfuhr nach Rußland von 299 auf 450 Millionen Mark, während der gesamte Außen¬ handel Rußlands kein entsprechendes Wachstum zeigte. Nach wie vor blieb Deutschland der größte Abnehmer für russtche Erzeugnisse und der größte Lieferant für den russischen Markt. Englands Güteraustausch mit Rußland hatte in dieser Zeit Rückschläge und Steigerungen, doch nicht die stetige Zunahme aufzuweisen, wie sie in dem deutsch-russischen Güterverkehr zutage trat. Die russischen Ostseehäfen sind für England von jeher an sich wertvoll gewesen und müssen in den Rechnungen bezüglich eines gesteigerten Handels¬ verkehrs mit Rußland erst recht an Bedeutung gewinnen. Gelingt es Rußland, aus dem wirren Chaos, in das es durch seine frevelhafte Beteiligung am Über- fallskriege auf die Mittelmächte hineingeraten, das Baltikum — hoffentlich zon mindesten unter Verlust des von uns besetzten Kurlands — in seinem Besitz zu erhalten, so werden in den bei Rußland verbliebenen baltischen Häfen Handel und Wandel alsbald wiederum einen regen Aufschwung nehmen. Man darf voraussetzen, daß die dort ansässigen deutsch-baltischen Kaufmannskreise von den vernichtenden Schlägen, unter denen auch sie reichlich haben leiden müssen, rascher als an den anderen russischen Handelsplätzen sich erholen werden, weil die Folgen der revolutionären Umwälzung nicht mit so unmittelbaren Wirkungen sie heimgesucht haben. An tatkräftiger Wiederaufrichtung der unterbrochenen geschäftlichen Beziehungen mit Westeuropa werden die baltischen Handelshafen es jedenfalls nicht fehlen lassen. Und ihnen wird zugute kommen, daß der Außenhandel am ehesten dort sich seine Stützpunkte suchen wird, wo solide Ordnungen von altersher heimisch gewesen sind und auch durch die wilde Kriegs¬ zeit nicht ausgerottet sein werden. Grund genug zur Überlegung, wer in jenen wichtigen Handelsplätzen, in denen die rein russische Kaufmannschaft niemals eine führende Rolle beansprucht hat, nach den Stürmen der Gegenwart die merkantile Vorherrschaft vertreten soll, Deutschland oder England? Der prozentuale Anteil der Ostseehäfen an Rußlands Einfuhr betrug Riga und Reval zusammen, also für die beiden größten in russischem Besitz befindlichen baltischen Häfen im Jahre 1912 24 Prozent, stellte sich für Liba» und Windau, die unter deutscher Verwaltung stehen, auf etwa 6 Prozent und für Petersburg auf etwa 20 Prozent. Von der russischen Ausfuhr entfielen in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/304>, abgerufen am 30.06.2024.