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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologischen Grundlagen der flämischen
Literatur
von Dr. R. Schacht

jn weit größerem Maße noch als in der den Romanen so schwer
verständlichen Seele des deutschen, treffen sich in der Seele des
flämischen Volkes starke und verstandesmäßig unvereinbare Gegen¬
sätze. Die Kunstgeschichte belehrt uns darüber, daß das flämische
^ das Kulturvolk des modernen Europas ist, das am frühesten eine aus¬
gesprochene Freude am Gegenständlichen hat. Der Italiener benutzt das Gegenstand-
"che als stimmungsgebendes Moment, der Franzose als Mittel zur Konstituierung
Ittner konventionellen Formenwelt, der Deutsche schwärmt darüber hinweg oder
> anne es an und bleibt daran hängen, die Hingegebenheit an das Gegenständliche,
Mre Erschöpfung und Durchdringung, die Freude am Stilleben (für das der
Franzose bezeichnenderweise nur einen im Flamischen unmöglichen Ausdruck,
"nature morte" hat) finden sich zuerst auf flämischen Boden. Die flämische
Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts ist ein Hochgesang auf die Schönheit, besser
^was auf die innere Lebenskraft der Malerei. Der Flame gibt sich an die Materie
"N, durchdringt sie und zwingt sie zu lebendigem aber klarem, genauem und doch
rundem Ausdruck ihrer selbst. Eine gewaltige, nicht zu unterdrückende Lebenskraft
efnhigt ihn zu solcher Verschwendung. Sehen wir aber vom Künstlerischen ab,
'° äußert sich diese Lebenskraft im Drang nach üppigsten Lebensgenuß. Man
'Wucht gar nicht den bis zum Überdruß immer wieder zur Charakteristik heran¬
gezogenen Rubens zu bemühen, der einfache Anblick einer in Brüssel, Antwerpen
"der Gent schmausenden Gesellschaft lehrt schon, wie der Flame die Materie ein-
'Hatze und wie er sie genießt.

^ Aber kein Genuß, wie langdauernd und üppig er sei, vermag den Lebens-
Wng, man könnte sagen, die Lebenswut flämischer Seelen abzustumpfen. Es
leibt ein Unbefriedigtes, das leicht zur Unrast von VermeylenS "Ewigen Juden"
lehren kann, auf jeden Fall aber ein merkwürdiges Jnsichgekehrtsein, eine seltsame
^sgelostheit von den Dingen zeitigt. Gerade weil der Flame die Möglichkeiten
^ Materie kennt wie niemand sonst, ist er, ohne sich immer darüber klar zu
^n, tiefinnerlichst überzeugt, daß die Materie etwas Unwesentliches, ein Bild, ein
Viel ist. Darum verträgt er auch, wie ein jedes seiner Volksstücke schlagend
"reut, die größten Gegensätze unvermittelt nebeneinander: das Groteske neben
^ Tragischen, den Ernst, die Grausamkeit neben dem Abgeschmackten und
urrilen, Wüstheit neben Innigkeit, Roheit neben Zarten, eben seit die Dinge
r ^ Wichtigkeit an sich, gewissermaßen nur vorübergehende Zustände der Welt-
^' mit der sich die Seele der Flamen identifiziert, sind. Von dieser Erkenntnis




Die psychologischen Grundlagen der flämischen
Literatur
von Dr. R. Schacht

jn weit größerem Maße noch als in der den Romanen so schwer
verständlichen Seele des deutschen, treffen sich in der Seele des
flämischen Volkes starke und verstandesmäßig unvereinbare Gegen¬
sätze. Die Kunstgeschichte belehrt uns darüber, daß das flämische
^ das Kulturvolk des modernen Europas ist, das am frühesten eine aus¬
gesprochene Freude am Gegenständlichen hat. Der Italiener benutzt das Gegenstand-
"che als stimmungsgebendes Moment, der Franzose als Mittel zur Konstituierung
Ittner konventionellen Formenwelt, der Deutsche schwärmt darüber hinweg oder
> anne es an und bleibt daran hängen, die Hingegebenheit an das Gegenständliche,
Mre Erschöpfung und Durchdringung, die Freude am Stilleben (für das der
Franzose bezeichnenderweise nur einen im Flamischen unmöglichen Ausdruck,
»nature morte« hat) finden sich zuerst auf flämischen Boden. Die flämische
Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts ist ein Hochgesang auf die Schönheit, besser
^was auf die innere Lebenskraft der Malerei. Der Flame gibt sich an die Materie
"N, durchdringt sie und zwingt sie zu lebendigem aber klarem, genauem und doch
rundem Ausdruck ihrer selbst. Eine gewaltige, nicht zu unterdrückende Lebenskraft
efnhigt ihn zu solcher Verschwendung. Sehen wir aber vom Künstlerischen ab,
'° äußert sich diese Lebenskraft im Drang nach üppigsten Lebensgenuß. Man
'Wucht gar nicht den bis zum Überdruß immer wieder zur Charakteristik heran¬
gezogenen Rubens zu bemühen, der einfache Anblick einer in Brüssel, Antwerpen
»der Gent schmausenden Gesellschaft lehrt schon, wie der Flame die Materie ein-
'Hatze und wie er sie genießt.

^ Aber kein Genuß, wie langdauernd und üppig er sei, vermag den Lebens-
Wng, man könnte sagen, die Lebenswut flämischer Seelen abzustumpfen. Es
leibt ein Unbefriedigtes, das leicht zur Unrast von VermeylenS „Ewigen Juden"
lehren kann, auf jeden Fall aber ein merkwürdiges Jnsichgekehrtsein, eine seltsame
^sgelostheit von den Dingen zeitigt. Gerade weil der Flame die Möglichkeiten
^ Materie kennt wie niemand sonst, ist er, ohne sich immer darüber klar zu
^n, tiefinnerlichst überzeugt, daß die Materie etwas Unwesentliches, ein Bild, ein
Viel ist. Darum verträgt er auch, wie ein jedes seiner Volksstücke schlagend
"reut, die größten Gegensätze unvermittelt nebeneinander: das Groteske neben
^ Tragischen, den Ernst, die Grausamkeit neben dem Abgeschmackten und
urrilen, Wüstheit neben Innigkeit, Roheit neben Zarten, eben seit die Dinge
r ^ Wichtigkeit an sich, gewissermaßen nur vorübergehende Zustände der Welt-
^' mit der sich die Seele der Flamen identifiziert, sind. Von dieser Erkenntnis


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[0291] [Abbildung] Die psychologischen Grundlagen der flämischen Literatur von Dr. R. Schacht jn weit größerem Maße noch als in der den Romanen so schwer verständlichen Seele des deutschen, treffen sich in der Seele des flämischen Volkes starke und verstandesmäßig unvereinbare Gegen¬ sätze. Die Kunstgeschichte belehrt uns darüber, daß das flämische ^ das Kulturvolk des modernen Europas ist, das am frühesten eine aus¬ gesprochene Freude am Gegenständlichen hat. Der Italiener benutzt das Gegenstand- "che als stimmungsgebendes Moment, der Franzose als Mittel zur Konstituierung Ittner konventionellen Formenwelt, der Deutsche schwärmt darüber hinweg oder > anne es an und bleibt daran hängen, die Hingegebenheit an das Gegenständliche, Mre Erschöpfung und Durchdringung, die Freude am Stilleben (für das der Franzose bezeichnenderweise nur einen im Flamischen unmöglichen Ausdruck, »nature morte« hat) finden sich zuerst auf flämischen Boden. Die flämische Malerei des fünfzehnten Jahrhunderts ist ein Hochgesang auf die Schönheit, besser ^was auf die innere Lebenskraft der Malerei. Der Flame gibt sich an die Materie "N, durchdringt sie und zwingt sie zu lebendigem aber klarem, genauem und doch rundem Ausdruck ihrer selbst. Eine gewaltige, nicht zu unterdrückende Lebenskraft efnhigt ihn zu solcher Verschwendung. Sehen wir aber vom Künstlerischen ab, '° äußert sich diese Lebenskraft im Drang nach üppigsten Lebensgenuß. Man 'Wucht gar nicht den bis zum Überdruß immer wieder zur Charakteristik heran¬ gezogenen Rubens zu bemühen, der einfache Anblick einer in Brüssel, Antwerpen »der Gent schmausenden Gesellschaft lehrt schon, wie der Flame die Materie ein- 'Hatze und wie er sie genießt. ^ Aber kein Genuß, wie langdauernd und üppig er sei, vermag den Lebens- Wng, man könnte sagen, die Lebenswut flämischer Seelen abzustumpfen. Es leibt ein Unbefriedigtes, das leicht zur Unrast von VermeylenS „Ewigen Juden" lehren kann, auf jeden Fall aber ein merkwürdiges Jnsichgekehrtsein, eine seltsame ^sgelostheit von den Dingen zeitigt. Gerade weil der Flame die Möglichkeiten ^ Materie kennt wie niemand sonst, ist er, ohne sich immer darüber klar zu ^n, tiefinnerlichst überzeugt, daß die Materie etwas Unwesentliches, ein Bild, ein Viel ist. Darum verträgt er auch, wie ein jedes seiner Volksstücke schlagend "reut, die größten Gegensätze unvermittelt nebeneinander: das Groteske neben ^ Tragischen, den Ernst, die Grausamkeit neben dem Abgeschmackten und urrilen, Wüstheit neben Innigkeit, Roheit neben Zarten, eben seit die Dinge r ^ Wichtigkeit an sich, gewissermaßen nur vorübergehende Zustände der Welt- ^' mit der sich die Seele der Flamen identifiziert, sind. Von dieser Erkenntnis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/291>, abgerufen am 01.07.2024.