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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Die Stellung des höheren Lehrerstandes

in 499 preußischen Städten, die höhere Knabenschulen besaßen; nur 56 Stadt¬
verordnete aus dem Oberlehrerstande gewählt waren. Was die Volksbildung
angeht, so geben zunächst Volksunterhaltungsabende Gelegenheit, die Wissen¬
schaft einem größeren Kreise zu vermitteln und zugleich auch mit anders ge¬
artetsten Bevölkerungsschichteu in Verbindung zu treten. Eine Ausdehnung
der Interessen über das eng Fachwissenschaftliche wird die mannigfachsten Ge¬
biete erschließen, die in unmittelbarem Zusammenhange mit der Gegenwart
stehen. Der Germanist möge sich der neuesten Literatur- und Kunstbewegung
widmen; dem Historiker liegt das politische, soziale und wirtschaftliche Leben
nahe; der Mathematiker und Naturwissenschaftler sieht sich auf statistische und
technische Fragen hingewiesen, der Biologe auf Volkshygiene, Bevölkerungslehre,
auch auf wirtschaftlich-soziale Probleme. Ein weites Feld zu fruchtbarer
Arbeit im Dienste des Volkes tut sich hier auf. Und weit entfernt, daß solche
Tätigkeit dem Schulbetriebe, der freilich immer die erste Pflicht des Lehrers
bleibt, schaden müßte, kann sie vielmehr belebend und erfrischend auf ihn
zurückwirken. Denn nur wer das Leben in der Fülle seiner Anforderungen
und Bedürfnisse kennt, dürfte auch volles Verständnis für Schule und Jugend¬
erziehung besitzen. Ja, die Schule der Zukunft soll (nach der Forderung Hugo
Gaudigs ("Die deutsche Schule und die deutsche Zukunft", herausgegeben von
Jakob Wychgram. 1916, S. 94) selbst ein "Lebenskreis" fein, in dem sich
reiches, mannigfaltiges Leben entfalten kann. Nicht nur vom Katheder aus,
sondern aus der Wirklichkeit des Lebens soll die Jugend betrachtet werden. --
Daß der Philologe bei der öffentlichen Teilnahme an politischen und religiösen
Angelegenheiten sich einer gewissen taktvollen Zurückhaltung zu befleißigen hat,
ist durch seine Stellung als Jugenderzieher und freilich noch mehr durch die
unerquicklichen Partei- und Konfessionsverhältnisse bedingt. Wem es aber
gelingt, feste persönliche Überzeugungen mit wahrer Duldsamkeit und Gerechtig¬
keit gegen Andersdenkende zu vereinigen, der wird gerade als Jugendbildner
einen starken sittlichen Einfluß ausüben können.

Was mit allem Gesagten verlangt wird, ist also ein erhöhtes Kultur¬
bewußtsein, eine Erweiterung der bisher zu engen Bestrebungen des höheren
Lehrerstandes wie überhaupt der akademischen Berufe. Es muß bei ihnen das
Gefühl entstehen, zu einer führenden Rolle in der nationalen geistigen Be¬
wegung der Zukunft berufen zu sein. Wir bedürfen dringend einer Aristokratie
des Geistes als Gegengewicht gegen die Geldaristokratie des Jndustrialismus
wie auch gegen eine allzu demokratische Verflachung unserer Bildung. Diese
neue Aristokratie muß sich , als Trägerin und Hüterin einer geistigen Kultur
wissen, deren Erhaltung für das Leben des Staates noch wichtiger ist als dre
bloß technische Zivilisation, die uns Menschen der Gegenwart ganz in ihren
Bann gezwungen hatte. Es bleibt schließlich doch das Wort Platos zu Recht
bestehen, daß im vollkommenen Staate die im tiefsten Sinne Einsichtsvollen
und Gebildeten -- Plato nannte sie die Philosophen -- herrschen sollten-




Die Stellung des höheren Lehrerstandes

in 499 preußischen Städten, die höhere Knabenschulen besaßen; nur 56 Stadt¬
verordnete aus dem Oberlehrerstande gewählt waren. Was die Volksbildung
angeht, so geben zunächst Volksunterhaltungsabende Gelegenheit, die Wissen¬
schaft einem größeren Kreise zu vermitteln und zugleich auch mit anders ge¬
artetsten Bevölkerungsschichteu in Verbindung zu treten. Eine Ausdehnung
der Interessen über das eng Fachwissenschaftliche wird die mannigfachsten Ge¬
biete erschließen, die in unmittelbarem Zusammenhange mit der Gegenwart
stehen. Der Germanist möge sich der neuesten Literatur- und Kunstbewegung
widmen; dem Historiker liegt das politische, soziale und wirtschaftliche Leben
nahe; der Mathematiker und Naturwissenschaftler sieht sich auf statistische und
technische Fragen hingewiesen, der Biologe auf Volkshygiene, Bevölkerungslehre,
auch auf wirtschaftlich-soziale Probleme. Ein weites Feld zu fruchtbarer
Arbeit im Dienste des Volkes tut sich hier auf. Und weit entfernt, daß solche
Tätigkeit dem Schulbetriebe, der freilich immer die erste Pflicht des Lehrers
bleibt, schaden müßte, kann sie vielmehr belebend und erfrischend auf ihn
zurückwirken. Denn nur wer das Leben in der Fülle seiner Anforderungen
und Bedürfnisse kennt, dürfte auch volles Verständnis für Schule und Jugend¬
erziehung besitzen. Ja, die Schule der Zukunft soll (nach der Forderung Hugo
Gaudigs („Die deutsche Schule und die deutsche Zukunft", herausgegeben von
Jakob Wychgram. 1916, S. 94) selbst ein „Lebenskreis" fein, in dem sich
reiches, mannigfaltiges Leben entfalten kann. Nicht nur vom Katheder aus,
sondern aus der Wirklichkeit des Lebens soll die Jugend betrachtet werden. —
Daß der Philologe bei der öffentlichen Teilnahme an politischen und religiösen
Angelegenheiten sich einer gewissen taktvollen Zurückhaltung zu befleißigen hat,
ist durch seine Stellung als Jugenderzieher und freilich noch mehr durch die
unerquicklichen Partei- und Konfessionsverhältnisse bedingt. Wem es aber
gelingt, feste persönliche Überzeugungen mit wahrer Duldsamkeit und Gerechtig¬
keit gegen Andersdenkende zu vereinigen, der wird gerade als Jugendbildner
einen starken sittlichen Einfluß ausüben können.

Was mit allem Gesagten verlangt wird, ist also ein erhöhtes Kultur¬
bewußtsein, eine Erweiterung der bisher zu engen Bestrebungen des höheren
Lehrerstandes wie überhaupt der akademischen Berufe. Es muß bei ihnen das
Gefühl entstehen, zu einer führenden Rolle in der nationalen geistigen Be¬
wegung der Zukunft berufen zu sein. Wir bedürfen dringend einer Aristokratie
des Geistes als Gegengewicht gegen die Geldaristokratie des Jndustrialismus
wie auch gegen eine allzu demokratische Verflachung unserer Bildung. Diese
neue Aristokratie muß sich , als Trägerin und Hüterin einer geistigen Kultur
wissen, deren Erhaltung für das Leben des Staates noch wichtiger ist als dre
bloß technische Zivilisation, die uns Menschen der Gegenwart ganz in ihren
Bann gezwungen hatte. Es bleibt schließlich doch das Wort Platos zu Recht
bestehen, daß im vollkommenen Staate die im tiefsten Sinne Einsichtsvollen
und Gebildeten — Plato nannte sie die Philosophen — herrschen sollten-




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/290>, abgerufen am 03.07.2024.