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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Ein verhältniswahlverfahren als politisches Machtmittel

Die Aufklärung des Volkes über diese hochaktuellen Fragen müßte eigent¬
lich doch einer Wahlrechtsreform zur naturgetreuen Ableitung des "Volkswillens"
vorangehen. Zu Wahlrechtsänderungen liegt zurzeit infolge der durch den
Ostererlaß dem Proletariat für die Zukunft gegebenen Sicherheiten auf keiner
Seite ein dringendes Bedürfnis vor.. Überdies muß den paar hundert deutschen
Staatsbürgern im Reichstage, die unter ganz anderen tatsächlichen Voraus¬
setzungen gewählt sind, die materielle Legitimation rundweg abgesprochen werden,
ohne Befragen der Wählerschaft die bewährten Bismarckschen Verfafsungs-
einrichtungen abzuändern. Wohl aber könnte die Sozialdemokratie ihre An¬
hängerschaft gewaltig vermehren, indem sie jetzt zeigt, was die sozialistische
Idee gegenüber den Anforderungen einer neuen Zeit vermag. Wenn die
sozialistische Neugestaltung unserer Volkswirtschaft so nahe bevorsteht, daß sich
einige Parteiführer schon nach einem dazu passenden Wahlverfahren umsehen,
werden sie uns doch auch sagen können, wie es gemacht werden soll. Und
wenn der sozialistische Gedanke tatsächlich etwas zu leisten imstande ist, muß
sich so kurze Zeit vor seiner Verwirklichung auch sehen und sagen lassen: auf
die und jene Weise ist das und das zu erreichen.

Die Sozialdemokratie befindet sich derzeit in einer außerordentlich günstigen
Situation. Sie hat vor den anderen Parteien voraus den Besitztitel am
Sozialismus. Nur ihr Parteiprogramm enthält wissenschaftlich begründete
sozialistische Grundsätze, und wir befinden uns mitten in einer Zeit, die den
Sozialismus zu einer flüssigen Frage gemacht hat. ohne daß über das Wie
und über den Umfang der Anwendbarkeit sowie über den positiven Nutzen
sozialistischer Wirtschaftsweise Klarheit bestände. Da ist es nun die Pflicht der
sozialdemokratischen Parteiführer, die Regierung sachkundig zu beraten und uns.
das stimmberechtigte Volk, darüber aufzuklären, worin die demnächstigen prak¬
tischen Aufgaben des Sozialismus bestehen. Diese Pflicht wird ihnen durch
die Entstehungsgeschichte ihrer Partei und durch die Marxsche Lehre selbst
auferlegt. Auch im Sinne der Marxschen Lehre läge die Einleitung der
sozialistischen Wirtschaftsepoche durch klare, lichte Erkenntnis -- nämlich tat¬
sächlicher wirtschaftlicher Erfordernisse --, nicht aber durch einen "Sprung ins
Dunkle", zu dem uns Südekum mit seinem Wahlverfahren ausdrücklich einlädt.

Wenn endlich Südekum davon spricht, daß die Entwicklung der Dinge
über die, welche die Zeichen der Zeit nicht erkennen, hinweggehen werde, sei
es über eine Negierung, sei es über ein Parlament, so kann man noch einen
Schritt weiter gehen und das gleiche Schicksal einer einzelnen politischen Partei
voraussagen, die ihren politisch-historischen Beruf nicht erfüllt. Auf welchen
Wegen dieses Schicksal auch die sozialdemokratische Partei ereilen könnte, liegt
klar zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, daß im innersten Grunde nicht
das demokratische Prinzip, sondern der sozialistische Gedanke es ist, was dieser
großen Partei ihre Stärke verleiht.




Grenzboten III 19172
Ein verhältniswahlverfahren als politisches Machtmittel

Die Aufklärung des Volkes über diese hochaktuellen Fragen müßte eigent¬
lich doch einer Wahlrechtsreform zur naturgetreuen Ableitung des „Volkswillens"
vorangehen. Zu Wahlrechtsänderungen liegt zurzeit infolge der durch den
Ostererlaß dem Proletariat für die Zukunft gegebenen Sicherheiten auf keiner
Seite ein dringendes Bedürfnis vor.. Überdies muß den paar hundert deutschen
Staatsbürgern im Reichstage, die unter ganz anderen tatsächlichen Voraus¬
setzungen gewählt sind, die materielle Legitimation rundweg abgesprochen werden,
ohne Befragen der Wählerschaft die bewährten Bismarckschen Verfafsungs-
einrichtungen abzuändern. Wohl aber könnte die Sozialdemokratie ihre An¬
hängerschaft gewaltig vermehren, indem sie jetzt zeigt, was die sozialistische
Idee gegenüber den Anforderungen einer neuen Zeit vermag. Wenn die
sozialistische Neugestaltung unserer Volkswirtschaft so nahe bevorsteht, daß sich
einige Parteiführer schon nach einem dazu passenden Wahlverfahren umsehen,
werden sie uns doch auch sagen können, wie es gemacht werden soll. Und
wenn der sozialistische Gedanke tatsächlich etwas zu leisten imstande ist, muß
sich so kurze Zeit vor seiner Verwirklichung auch sehen und sagen lassen: auf
die und jene Weise ist das und das zu erreichen.

Die Sozialdemokratie befindet sich derzeit in einer außerordentlich günstigen
Situation. Sie hat vor den anderen Parteien voraus den Besitztitel am
Sozialismus. Nur ihr Parteiprogramm enthält wissenschaftlich begründete
sozialistische Grundsätze, und wir befinden uns mitten in einer Zeit, die den
Sozialismus zu einer flüssigen Frage gemacht hat. ohne daß über das Wie
und über den Umfang der Anwendbarkeit sowie über den positiven Nutzen
sozialistischer Wirtschaftsweise Klarheit bestände. Da ist es nun die Pflicht der
sozialdemokratischen Parteiführer, die Regierung sachkundig zu beraten und uns.
das stimmberechtigte Volk, darüber aufzuklären, worin die demnächstigen prak¬
tischen Aufgaben des Sozialismus bestehen. Diese Pflicht wird ihnen durch
die Entstehungsgeschichte ihrer Partei und durch die Marxsche Lehre selbst
auferlegt. Auch im Sinne der Marxschen Lehre läge die Einleitung der
sozialistischen Wirtschaftsepoche durch klare, lichte Erkenntnis — nämlich tat¬
sächlicher wirtschaftlicher Erfordernisse —, nicht aber durch einen „Sprung ins
Dunkle", zu dem uns Südekum mit seinem Wahlverfahren ausdrücklich einlädt.

Wenn endlich Südekum davon spricht, daß die Entwicklung der Dinge
über die, welche die Zeichen der Zeit nicht erkennen, hinweggehen werde, sei
es über eine Negierung, sei es über ein Parlament, so kann man noch einen
Schritt weiter gehen und das gleiche Schicksal einer einzelnen politischen Partei
voraussagen, die ihren politisch-historischen Beruf nicht erfüllt. Auf welchen
Wegen dieses Schicksal auch die sozialdemokratische Partei ereilen könnte, liegt
klar zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, daß im innersten Grunde nicht
das demokratische Prinzip, sondern der sozialistische Gedanke es ist, was dieser
großen Partei ihre Stärke verleiht.




Grenzboten III 19172
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[0029] Ein verhältniswahlverfahren als politisches Machtmittel Die Aufklärung des Volkes über diese hochaktuellen Fragen müßte eigent¬ lich doch einer Wahlrechtsreform zur naturgetreuen Ableitung des „Volkswillens" vorangehen. Zu Wahlrechtsänderungen liegt zurzeit infolge der durch den Ostererlaß dem Proletariat für die Zukunft gegebenen Sicherheiten auf keiner Seite ein dringendes Bedürfnis vor.. Überdies muß den paar hundert deutschen Staatsbürgern im Reichstage, die unter ganz anderen tatsächlichen Voraus¬ setzungen gewählt sind, die materielle Legitimation rundweg abgesprochen werden, ohne Befragen der Wählerschaft die bewährten Bismarckschen Verfafsungs- einrichtungen abzuändern. Wohl aber könnte die Sozialdemokratie ihre An¬ hängerschaft gewaltig vermehren, indem sie jetzt zeigt, was die sozialistische Idee gegenüber den Anforderungen einer neuen Zeit vermag. Wenn die sozialistische Neugestaltung unserer Volkswirtschaft so nahe bevorsteht, daß sich einige Parteiführer schon nach einem dazu passenden Wahlverfahren umsehen, werden sie uns doch auch sagen können, wie es gemacht werden soll. Und wenn der sozialistische Gedanke tatsächlich etwas zu leisten imstande ist, muß sich so kurze Zeit vor seiner Verwirklichung auch sehen und sagen lassen: auf die und jene Weise ist das und das zu erreichen. Die Sozialdemokratie befindet sich derzeit in einer außerordentlich günstigen Situation. Sie hat vor den anderen Parteien voraus den Besitztitel am Sozialismus. Nur ihr Parteiprogramm enthält wissenschaftlich begründete sozialistische Grundsätze, und wir befinden uns mitten in einer Zeit, die den Sozialismus zu einer flüssigen Frage gemacht hat. ohne daß über das Wie und über den Umfang der Anwendbarkeit sowie über den positiven Nutzen sozialistischer Wirtschaftsweise Klarheit bestände. Da ist es nun die Pflicht der sozialdemokratischen Parteiführer, die Regierung sachkundig zu beraten und uns. das stimmberechtigte Volk, darüber aufzuklären, worin die demnächstigen prak¬ tischen Aufgaben des Sozialismus bestehen. Diese Pflicht wird ihnen durch die Entstehungsgeschichte ihrer Partei und durch die Marxsche Lehre selbst auferlegt. Auch im Sinne der Marxschen Lehre läge die Einleitung der sozialistischen Wirtschaftsepoche durch klare, lichte Erkenntnis — nämlich tat¬ sächlicher wirtschaftlicher Erfordernisse —, nicht aber durch einen „Sprung ins Dunkle", zu dem uns Südekum mit seinem Wahlverfahren ausdrücklich einlädt. Wenn endlich Südekum davon spricht, daß die Entwicklung der Dinge über die, welche die Zeichen der Zeit nicht erkennen, hinweggehen werde, sei es über eine Negierung, sei es über ein Parlament, so kann man noch einen Schritt weiter gehen und das gleiche Schicksal einer einzelnen politischen Partei voraussagen, die ihren politisch-historischen Beruf nicht erfüllt. Auf welchen Wegen dieses Schicksal auch die sozialdemokratische Partei ereilen könnte, liegt klar zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, daß im innersten Grunde nicht das demokratische Prinzip, sondern der sozialistische Gedanke es ist, was dieser großen Partei ihre Stärke verleiht. Grenzboten III 19172

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/29>, abgerufen am 29.06.2024.