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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Gin verhältmswahlverfahren als politisches Machtmittel

politischen Herrschaft durch die organisierte Lohnarbeiterklasse im Sinne des
Kommunistischen Manifestes geschlagen haben könnte. Darauf und auf nichts
anderes zielt sein Vorschlag ab, indem er der sozialdemokratischen Partei zu¬
nächst einmal die Herrschaft im Parlament zu verschaffen sucht.

Über die Frage, ob der nach Marx aus innerer Notwendigkeit hervor¬
wachsende historische Zeitpunkt der Sozialisierung der Volkswirtschaft jetzt ge¬
kommen ist, läßt sich nun natürlich nach den verschiedensten Richtungen hin
vielerlei sagen, was hier aber zu weit führen würde. Es sollen hieran mu
ein paar kurze Betrachtungen geknüpft werden.

Wenn man auf den Marxschen Sozialismus eingeschworen ist. so kann
man bei nüchterner Erwägung dennoch nicht der Meinung sein, daß bei uns
im Deutschen Reiche bereits diejenige Entwicklungsstufe kapitalistischer Wirt¬
schaft erreicht ist, die in Marxscher Darstellung die Voraussetzung für die not¬
wendig werdende Übernahme der Produktionsmittel in das Gemeineigentum
bildet. Sonst müßte in den Vereinigten Staaten, wo die Akkumulation des
Kapitals und die technische Konzentration in Riesenbetrieben schon viel weiter
gediehen sind als bei uns, die sozialistische Umwälzung, die ja nach Marx mit
Naturnotwendigkeit eintreten soll, schon früher eingetreten sein. Freilich weiß ich
nicht, ob Südekum und seine Parteigenossen auf die Erfordernisse der Marxistischen
Theorie noch großen Wert legen, oder ob sie nach dem Rezept des Peter Mortens-
gard in "Nosmersholm" unbekümmert um den Sinn ihrer theoretischen Ideale,
gegebenenfalls willkürlich auch im Widerspruch zu ihnen, handeln würden.

Versteht man dagegen den Sozialismus ganz allgemein dahin, daß auf
einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte neuartige, über
den Gesichtspunkt des Privatkapitals hinausreichende Unternehmungsformen
notwendig werden, so sind die Zeichen der Zeit, die darauf hindeuten, aller¬
dings mit Händen zu greifen. Die Gegenwart enthält, durch den Krieg teils
hervorgerufen, teils kompliziert, wirtschaftliche und Bevölkerungs-Probleme, zu
deren Lösung die privatkapitalistische Wirtschaftsverfassung, für sich genommen,
ganz und gar unfähig ist. Ob der Sozialismus zur Lösung dieser Probleme
prädestiniert ist. das ist die Frage, um die es sich handelt, und für deren Be¬
antwortung die Führer der sozialdemokratischen Partei eigentlich die berufenen
Sachverständigen sein sollten.

Daß die bloße Übernahme in den Staatsbetrieb, die für vereinzelte Wirt¬
schaftszweige wohl mit Recht jetzt gefordert wird, das nicht leisten kann, bedarf
keines besonderen Beweises. Durch den bloßen Besitzwechsel wird an sich zu¬
nächst gar nichts erreicht, abgesehen von der Schädigung der wirtschaftlichen
Produktivität, die dadurch entsteht, daß das brennende Interesse der privaten
Unternehmer als wirtschaftliche Triebkraft verloren geht. Aber ist denn die
platte Verstaatlichungsidee das einzige, was der Sozialismus hervorzubringen ver¬
mag? Gibt es nicht vielleicht noch andere dem Sozialismus entspringende Wege,
auf denen die Leistungsfähigkeit des sozialistischen Gedankens sich erweisen läßt?


Gin verhältmswahlverfahren als politisches Machtmittel

politischen Herrschaft durch die organisierte Lohnarbeiterklasse im Sinne des
Kommunistischen Manifestes geschlagen haben könnte. Darauf und auf nichts
anderes zielt sein Vorschlag ab, indem er der sozialdemokratischen Partei zu¬
nächst einmal die Herrschaft im Parlament zu verschaffen sucht.

Über die Frage, ob der nach Marx aus innerer Notwendigkeit hervor¬
wachsende historische Zeitpunkt der Sozialisierung der Volkswirtschaft jetzt ge¬
kommen ist, läßt sich nun natürlich nach den verschiedensten Richtungen hin
vielerlei sagen, was hier aber zu weit führen würde. Es sollen hieran mu
ein paar kurze Betrachtungen geknüpft werden.

Wenn man auf den Marxschen Sozialismus eingeschworen ist. so kann
man bei nüchterner Erwägung dennoch nicht der Meinung sein, daß bei uns
im Deutschen Reiche bereits diejenige Entwicklungsstufe kapitalistischer Wirt¬
schaft erreicht ist, die in Marxscher Darstellung die Voraussetzung für die not¬
wendig werdende Übernahme der Produktionsmittel in das Gemeineigentum
bildet. Sonst müßte in den Vereinigten Staaten, wo die Akkumulation des
Kapitals und die technische Konzentration in Riesenbetrieben schon viel weiter
gediehen sind als bei uns, die sozialistische Umwälzung, die ja nach Marx mit
Naturnotwendigkeit eintreten soll, schon früher eingetreten sein. Freilich weiß ich
nicht, ob Südekum und seine Parteigenossen auf die Erfordernisse der Marxistischen
Theorie noch großen Wert legen, oder ob sie nach dem Rezept des Peter Mortens-
gard in „Nosmersholm" unbekümmert um den Sinn ihrer theoretischen Ideale,
gegebenenfalls willkürlich auch im Widerspruch zu ihnen, handeln würden.

Versteht man dagegen den Sozialismus ganz allgemein dahin, daß auf
einer gewissen Entwicklungsstufe der materiellen Produktivkräfte neuartige, über
den Gesichtspunkt des Privatkapitals hinausreichende Unternehmungsformen
notwendig werden, so sind die Zeichen der Zeit, die darauf hindeuten, aller¬
dings mit Händen zu greifen. Die Gegenwart enthält, durch den Krieg teils
hervorgerufen, teils kompliziert, wirtschaftliche und Bevölkerungs-Probleme, zu
deren Lösung die privatkapitalistische Wirtschaftsverfassung, für sich genommen,
ganz und gar unfähig ist. Ob der Sozialismus zur Lösung dieser Probleme
prädestiniert ist. das ist die Frage, um die es sich handelt, und für deren Be¬
antwortung die Führer der sozialdemokratischen Partei eigentlich die berufenen
Sachverständigen sein sollten.

Daß die bloße Übernahme in den Staatsbetrieb, die für vereinzelte Wirt¬
schaftszweige wohl mit Recht jetzt gefordert wird, das nicht leisten kann, bedarf
keines besonderen Beweises. Durch den bloßen Besitzwechsel wird an sich zu¬
nächst gar nichts erreicht, abgesehen von der Schädigung der wirtschaftlichen
Produktivität, die dadurch entsteht, daß das brennende Interesse der privaten
Unternehmer als wirtschaftliche Triebkraft verloren geht. Aber ist denn die
platte Verstaatlichungsidee das einzige, was der Sozialismus hervorzubringen ver¬
mag? Gibt es nicht vielleicht noch andere dem Sozialismus entspringende Wege,
auf denen die Leistungsfähigkeit des sozialistischen Gedankens sich erweisen läßt?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/28>, abgerufen am 29.06.2024.