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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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von der Herkunft der baltischen Geschlechter

Aber auch lockerer Vögel wird es genug gegeben haben, die daheim alles
im Stich ließen, wenn Aussicht auf Erwerb, auf "Glück und Ehre" in-Livland
sie lockte. So hören wir 1430 von einem Essener Bürger, der damals schon
lange, wie Reval der Stadt Essen mitteilte, rechtlich, redlich und ehrlich als
der Revaler lieber Mitbürger in der betriebsamen Hansestadt am Gestade der
Ostsee lebte. Wir dürfen annehmen, daß er ohne Wissen seiner Frau nach
Livland ausgewandert war und wider Erwarten schnell sein Glück gemacht
hatte. Das ihm ausgestellte gute Zeugnis sollte wohl die zürnende Gattin
versöhnen und ihr den Entschluß zur Übersiedlung leichter machen, wenn er sie
jetzt auffordern ließ, ihm nach Reval zu folgen. Man hat übrigens (1502)
dem Ordensmeister Wolter von Plettenberg, einem Westfalen, den Vorwurf
gemacht, daß er seine Leute in großer Zahl aus der Heimat ins Land ziehe
und diese Weib und Kind zu Hause sitzen ließen.

Trotz allem ist es eine Übertreibung Koels, wenn er behauptet, nur armer
LeuteKinder aus Westfalen hätten als Kaufleute den Weg in die baltischen Provinzen
gefunden. Lassen sich doch neben dem zahlreich vertretenen westfälischen Adel
auch Söhne aus anerkannten Patrizierfamilien Münsters, Soests und Dortmunds
aufweisen und gar manche von ihnen nennen noch Grund und Boden in der
Heimat ihr eigen.

Wie ernstlich man schon früh das Kolonisationswerk in Angriff nahm,
beweist die Tatsache, daß bereits zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts
wohl ganze Familien nach Livland übersiedelten. Die Witwe eines Wigbert
von Wenden zog 1240, als ihr Mann gestorben war, in die Heimat zurück.
Später war das selbstverständlich. Im fünfzehnten Jahrhundert wanderte die
Soester Patrizierfamilie von Hattorp dorthin aus.

Wenn 1223 Bischof Albert von Riga im münsterländischen Kloster Kappen¬
berg für sein Domkapitel die Prämonstratenser Regel übernimmt, etwa zwanzig
Jahre später auf Veranlassung eines Münsterschen Domherrn im Dom in Riga
das Fest des heiligen Ludgerus eingeführt wird, um 1350 der Graf von Lim-
burg (Hohenlimburg) einen vermeintlichen Leibeigenen von der Stadt Riga
zurückfordert und wenn endlich ein Revaler Bürger von den Richtern zu West-
hofen in Westfalen Lehen nimmt, so scheint in der Tat die weite Entfernung
zwischen Westfalen und Livland vergessen, und dies alles ist ein sprechender
Beweis für das Gemeinschaftsgefühl zwischen Kolonie und Heimat. Selbst zu
einer Zeit, als die baltischen Provinzen schon mehrere Jahre unter schwedischer
und polnischer Herrschaft standen (seit 1562), war bei den westfälischen Städten
die Anteilnahme an den Geschicken ihrer Kolonie noch nicht verloschen. Auf
einem Hansetage zu Soest im Jahre 1576 hat man eifrig beratschlagt, wie man
den livländischen Schwestern und besonders Reval behilflich sein könne.

Auch im Klerus Livlands sind die Westfalen zahlreich vertreten; in den
Klöstern, den Domkapiteln, selbst auf den Bischofsstühlen finden wir sie. Noch
einer der letzten Erzbischöfe von Riga, der wackere Kaspar Linde, war aus


von der Herkunft der baltischen Geschlechter

Aber auch lockerer Vögel wird es genug gegeben haben, die daheim alles
im Stich ließen, wenn Aussicht auf Erwerb, auf „Glück und Ehre" in-Livland
sie lockte. So hören wir 1430 von einem Essener Bürger, der damals schon
lange, wie Reval der Stadt Essen mitteilte, rechtlich, redlich und ehrlich als
der Revaler lieber Mitbürger in der betriebsamen Hansestadt am Gestade der
Ostsee lebte. Wir dürfen annehmen, daß er ohne Wissen seiner Frau nach
Livland ausgewandert war und wider Erwarten schnell sein Glück gemacht
hatte. Das ihm ausgestellte gute Zeugnis sollte wohl die zürnende Gattin
versöhnen und ihr den Entschluß zur Übersiedlung leichter machen, wenn er sie
jetzt auffordern ließ, ihm nach Reval zu folgen. Man hat übrigens (1502)
dem Ordensmeister Wolter von Plettenberg, einem Westfalen, den Vorwurf
gemacht, daß er seine Leute in großer Zahl aus der Heimat ins Land ziehe
und diese Weib und Kind zu Hause sitzen ließen.

Trotz allem ist es eine Übertreibung Koels, wenn er behauptet, nur armer
LeuteKinder aus Westfalen hätten als Kaufleute den Weg in die baltischen Provinzen
gefunden. Lassen sich doch neben dem zahlreich vertretenen westfälischen Adel
auch Söhne aus anerkannten Patrizierfamilien Münsters, Soests und Dortmunds
aufweisen und gar manche von ihnen nennen noch Grund und Boden in der
Heimat ihr eigen.

Wie ernstlich man schon früh das Kolonisationswerk in Angriff nahm,
beweist die Tatsache, daß bereits zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts
wohl ganze Familien nach Livland übersiedelten. Die Witwe eines Wigbert
von Wenden zog 1240, als ihr Mann gestorben war, in die Heimat zurück.
Später war das selbstverständlich. Im fünfzehnten Jahrhundert wanderte die
Soester Patrizierfamilie von Hattorp dorthin aus.

Wenn 1223 Bischof Albert von Riga im münsterländischen Kloster Kappen¬
berg für sein Domkapitel die Prämonstratenser Regel übernimmt, etwa zwanzig
Jahre später auf Veranlassung eines Münsterschen Domherrn im Dom in Riga
das Fest des heiligen Ludgerus eingeführt wird, um 1350 der Graf von Lim-
burg (Hohenlimburg) einen vermeintlichen Leibeigenen von der Stadt Riga
zurückfordert und wenn endlich ein Revaler Bürger von den Richtern zu West-
hofen in Westfalen Lehen nimmt, so scheint in der Tat die weite Entfernung
zwischen Westfalen und Livland vergessen, und dies alles ist ein sprechender
Beweis für das Gemeinschaftsgefühl zwischen Kolonie und Heimat. Selbst zu
einer Zeit, als die baltischen Provinzen schon mehrere Jahre unter schwedischer
und polnischer Herrschaft standen (seit 1562), war bei den westfälischen Städten
die Anteilnahme an den Geschicken ihrer Kolonie noch nicht verloschen. Auf
einem Hansetage zu Soest im Jahre 1576 hat man eifrig beratschlagt, wie man
den livländischen Schwestern und besonders Reval behilflich sein könne.

Auch im Klerus Livlands sind die Westfalen zahlreich vertreten; in den
Klöstern, den Domkapiteln, selbst auf den Bischofsstühlen finden wir sie. Noch
einer der letzten Erzbischöfe von Riga, der wackere Kaspar Linde, war aus


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[0256] von der Herkunft der baltischen Geschlechter Aber auch lockerer Vögel wird es genug gegeben haben, die daheim alles im Stich ließen, wenn Aussicht auf Erwerb, auf „Glück und Ehre" in-Livland sie lockte. So hören wir 1430 von einem Essener Bürger, der damals schon lange, wie Reval der Stadt Essen mitteilte, rechtlich, redlich und ehrlich als der Revaler lieber Mitbürger in der betriebsamen Hansestadt am Gestade der Ostsee lebte. Wir dürfen annehmen, daß er ohne Wissen seiner Frau nach Livland ausgewandert war und wider Erwarten schnell sein Glück gemacht hatte. Das ihm ausgestellte gute Zeugnis sollte wohl die zürnende Gattin versöhnen und ihr den Entschluß zur Übersiedlung leichter machen, wenn er sie jetzt auffordern ließ, ihm nach Reval zu folgen. Man hat übrigens (1502) dem Ordensmeister Wolter von Plettenberg, einem Westfalen, den Vorwurf gemacht, daß er seine Leute in großer Zahl aus der Heimat ins Land ziehe und diese Weib und Kind zu Hause sitzen ließen. Trotz allem ist es eine Übertreibung Koels, wenn er behauptet, nur armer LeuteKinder aus Westfalen hätten als Kaufleute den Weg in die baltischen Provinzen gefunden. Lassen sich doch neben dem zahlreich vertretenen westfälischen Adel auch Söhne aus anerkannten Patrizierfamilien Münsters, Soests und Dortmunds aufweisen und gar manche von ihnen nennen noch Grund und Boden in der Heimat ihr eigen. Wie ernstlich man schon früh das Kolonisationswerk in Angriff nahm, beweist die Tatsache, daß bereits zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts wohl ganze Familien nach Livland übersiedelten. Die Witwe eines Wigbert von Wenden zog 1240, als ihr Mann gestorben war, in die Heimat zurück. Später war das selbstverständlich. Im fünfzehnten Jahrhundert wanderte die Soester Patrizierfamilie von Hattorp dorthin aus. Wenn 1223 Bischof Albert von Riga im münsterländischen Kloster Kappen¬ berg für sein Domkapitel die Prämonstratenser Regel übernimmt, etwa zwanzig Jahre später auf Veranlassung eines Münsterschen Domherrn im Dom in Riga das Fest des heiligen Ludgerus eingeführt wird, um 1350 der Graf von Lim- burg (Hohenlimburg) einen vermeintlichen Leibeigenen von der Stadt Riga zurückfordert und wenn endlich ein Revaler Bürger von den Richtern zu West- hofen in Westfalen Lehen nimmt, so scheint in der Tat die weite Entfernung zwischen Westfalen und Livland vergessen, und dies alles ist ein sprechender Beweis für das Gemeinschaftsgefühl zwischen Kolonie und Heimat. Selbst zu einer Zeit, als die baltischen Provinzen schon mehrere Jahre unter schwedischer und polnischer Herrschaft standen (seit 1562), war bei den westfälischen Städten die Anteilnahme an den Geschicken ihrer Kolonie noch nicht verloschen. Auf einem Hansetage zu Soest im Jahre 1576 hat man eifrig beratschlagt, wie man den livländischen Schwestern und besonders Reval behilflich sein könne. Auch im Klerus Livlands sind die Westfalen zahlreich vertreten; in den Klöstern, den Domkapiteln, selbst auf den Bischofsstühlen finden wir sie. Noch einer der letzten Erzbischöfe von Riga, der wackere Kaspar Linde, war aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/256>, abgerufen am 03.07.2024.