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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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von der Herkunft der baltischen Geschlechter

beziehungen unterhielt. Da standen in erster Reihe die an den großen Straßen
gelegenen, schon seit den ältesten Zeiten den Verkehr nach dem Osten ver¬
mittelnden Städte: Münster. Soest, Dortmund. Aber auch Hamm, Unna,
Kamen, Recklinghausen, Essen, Arnsberg, Geseke und andere scheinen in fast
ununterbrochenem Verkehr mit den Ostseeprovinzen gestanden zu haben. Selbst
in kleinen, seinerzeit kaum über die Grenzen Westfalens hinaus bekannten
Städten, wie Wenden, Westhofen, Wetter, Schwelm. Hattingen, Attendorn usw.
sitzen damals oft die lachenden Erben der im fernen Livland verstorbenen
Verwandten, die von Abenteuer- und Unternehmungslust getrieben, der Heimat
den Rücken gekehrt und in den Ostseeprovinzen ihr Glück gemacht hatten. Es
ist dasselbe Bild, wie in nicht allzu ferner Vergangenheit die zahlreichen
Auswanderungen nach Amerika erfolgten und so manchem ein ganz unver¬
hofftes Glück im reichen Nachlaß des Onkels in Amerika beschieden war. Und
wie stark gerade in diesen Gegenden noch nach Jahrhunderten der "Handlungs¬
geist" war, davon erzählt Ende des achtzehnten Jahrhunderts Johann Stephan
Pütter. damals Rechtslehrer in Göttingen, in seiner Selbstbiographie: wenn
er in seiner Heimat zur Erholung weilend, hier die westfälischen Jungen einmal
fragte, was sie werden wollten, so erhielt er stets kurz zur Antwort: Koopmann.
Es ist der Geist der Hanseaten, der einst See- und Weltgeltung schaffte und der auch
heute wieder -- aber im Gegensatz zum Mittelalter von fester Staatsform umschlossen
-- Deutschland zur Höhe emporgeführt hat und es befähigt, gegen eine Welt in
Waffen zu streiten und, so Gott will, auch zu siegen und seinen Platz zu behaupten.

Nicht ohne Spott hält es im sechzehnten Jahrhundert der Lübecker
Chronist Reimar Kock seinen Wismarer und Rostocker Landsleuten vor, daß sie
an Wagemut und Unternehmungslust weit hinter den "Westfelynghen" zurück
ständen, weil die reichen Leute sich von ihren Kindern nicht trennen wollten
und der Ansicht seien, wenn sie bis Lübeck gewesen, "so hätten sie die Welt
ferne genug besehen". So sei es nun gekommen, daß Gott in die Städte der
Ostseeprovinzen armer Leute Kinder aus Westfalen schicke, die zunächst als
Jungen und Knechte dienen und dulden, dann Gesellen und Handlungsgehilfen
werden müßten, dann Handel und Gut erbten und schließlich das Regiment
erlangten. Gewiß mochte gar mancher arme Teufel, den daheim Sorge und
Not quälte, leichten Herzens den Weg nach Livland finden, und selbst unter
den kinderreichen Familien des Adels hat es wohl an solchen Leuten nicht
gefehlt. Nicht wenige werden, wie der 1673 in Mitau verstorbene Gerichts¬
vogt Möller, nur mit einem Stab ins Land gekommen sein. Auf seinem in
Mitau noch vorhandenen Grabstein heißt es unter anderem:

Minden war mein Vaterland,
Mitau Haus und Speisekammer,
Wo ich Glück und Ehre fand,
Auch dabei viel Kreuz und Jammer.
Ich kam her mit einem Stab,
Nam auch nichts mit mir ins Grab.

1ö-
von der Herkunft der baltischen Geschlechter

beziehungen unterhielt. Da standen in erster Reihe die an den großen Straßen
gelegenen, schon seit den ältesten Zeiten den Verkehr nach dem Osten ver¬
mittelnden Städte: Münster. Soest, Dortmund. Aber auch Hamm, Unna,
Kamen, Recklinghausen, Essen, Arnsberg, Geseke und andere scheinen in fast
ununterbrochenem Verkehr mit den Ostseeprovinzen gestanden zu haben. Selbst
in kleinen, seinerzeit kaum über die Grenzen Westfalens hinaus bekannten
Städten, wie Wenden, Westhofen, Wetter, Schwelm. Hattingen, Attendorn usw.
sitzen damals oft die lachenden Erben der im fernen Livland verstorbenen
Verwandten, die von Abenteuer- und Unternehmungslust getrieben, der Heimat
den Rücken gekehrt und in den Ostseeprovinzen ihr Glück gemacht hatten. Es
ist dasselbe Bild, wie in nicht allzu ferner Vergangenheit die zahlreichen
Auswanderungen nach Amerika erfolgten und so manchem ein ganz unver¬
hofftes Glück im reichen Nachlaß des Onkels in Amerika beschieden war. Und
wie stark gerade in diesen Gegenden noch nach Jahrhunderten der „Handlungs¬
geist" war, davon erzählt Ende des achtzehnten Jahrhunderts Johann Stephan
Pütter. damals Rechtslehrer in Göttingen, in seiner Selbstbiographie: wenn
er in seiner Heimat zur Erholung weilend, hier die westfälischen Jungen einmal
fragte, was sie werden wollten, so erhielt er stets kurz zur Antwort: Koopmann.
Es ist der Geist der Hanseaten, der einst See- und Weltgeltung schaffte und der auch
heute wieder — aber im Gegensatz zum Mittelalter von fester Staatsform umschlossen
— Deutschland zur Höhe emporgeführt hat und es befähigt, gegen eine Welt in
Waffen zu streiten und, so Gott will, auch zu siegen und seinen Platz zu behaupten.

Nicht ohne Spott hält es im sechzehnten Jahrhundert der Lübecker
Chronist Reimar Kock seinen Wismarer und Rostocker Landsleuten vor, daß sie
an Wagemut und Unternehmungslust weit hinter den „Westfelynghen" zurück
ständen, weil die reichen Leute sich von ihren Kindern nicht trennen wollten
und der Ansicht seien, wenn sie bis Lübeck gewesen, „so hätten sie die Welt
ferne genug besehen". So sei es nun gekommen, daß Gott in die Städte der
Ostseeprovinzen armer Leute Kinder aus Westfalen schicke, die zunächst als
Jungen und Knechte dienen und dulden, dann Gesellen und Handlungsgehilfen
werden müßten, dann Handel und Gut erbten und schließlich das Regiment
erlangten. Gewiß mochte gar mancher arme Teufel, den daheim Sorge und
Not quälte, leichten Herzens den Weg nach Livland finden, und selbst unter
den kinderreichen Familien des Adels hat es wohl an solchen Leuten nicht
gefehlt. Nicht wenige werden, wie der 1673 in Mitau verstorbene Gerichts¬
vogt Möller, nur mit einem Stab ins Land gekommen sein. Auf seinem in
Mitau noch vorhandenen Grabstein heißt es unter anderem:

Minden war mein Vaterland,
Mitau Haus und Speisekammer,
Wo ich Glück und Ehre fand,
Auch dabei viel Kreuz und Jammer.
Ich kam her mit einem Stab,
Nam auch nichts mit mir ins Grab.

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[0255] von der Herkunft der baltischen Geschlechter beziehungen unterhielt. Da standen in erster Reihe die an den großen Straßen gelegenen, schon seit den ältesten Zeiten den Verkehr nach dem Osten ver¬ mittelnden Städte: Münster. Soest, Dortmund. Aber auch Hamm, Unna, Kamen, Recklinghausen, Essen, Arnsberg, Geseke und andere scheinen in fast ununterbrochenem Verkehr mit den Ostseeprovinzen gestanden zu haben. Selbst in kleinen, seinerzeit kaum über die Grenzen Westfalens hinaus bekannten Städten, wie Wenden, Westhofen, Wetter, Schwelm. Hattingen, Attendorn usw. sitzen damals oft die lachenden Erben der im fernen Livland verstorbenen Verwandten, die von Abenteuer- und Unternehmungslust getrieben, der Heimat den Rücken gekehrt und in den Ostseeprovinzen ihr Glück gemacht hatten. Es ist dasselbe Bild, wie in nicht allzu ferner Vergangenheit die zahlreichen Auswanderungen nach Amerika erfolgten und so manchem ein ganz unver¬ hofftes Glück im reichen Nachlaß des Onkels in Amerika beschieden war. Und wie stark gerade in diesen Gegenden noch nach Jahrhunderten der „Handlungs¬ geist" war, davon erzählt Ende des achtzehnten Jahrhunderts Johann Stephan Pütter. damals Rechtslehrer in Göttingen, in seiner Selbstbiographie: wenn er in seiner Heimat zur Erholung weilend, hier die westfälischen Jungen einmal fragte, was sie werden wollten, so erhielt er stets kurz zur Antwort: Koopmann. Es ist der Geist der Hanseaten, der einst See- und Weltgeltung schaffte und der auch heute wieder — aber im Gegensatz zum Mittelalter von fester Staatsform umschlossen — Deutschland zur Höhe emporgeführt hat und es befähigt, gegen eine Welt in Waffen zu streiten und, so Gott will, auch zu siegen und seinen Platz zu behaupten. Nicht ohne Spott hält es im sechzehnten Jahrhundert der Lübecker Chronist Reimar Kock seinen Wismarer und Rostocker Landsleuten vor, daß sie an Wagemut und Unternehmungslust weit hinter den „Westfelynghen" zurück ständen, weil die reichen Leute sich von ihren Kindern nicht trennen wollten und der Ansicht seien, wenn sie bis Lübeck gewesen, „so hätten sie die Welt ferne genug besehen". So sei es nun gekommen, daß Gott in die Städte der Ostseeprovinzen armer Leute Kinder aus Westfalen schicke, die zunächst als Jungen und Knechte dienen und dulden, dann Gesellen und Handlungsgehilfen werden müßten, dann Handel und Gut erbten und schließlich das Regiment erlangten. Gewiß mochte gar mancher arme Teufel, den daheim Sorge und Not quälte, leichten Herzens den Weg nach Livland finden, und selbst unter den kinderreichen Familien des Adels hat es wohl an solchen Leuten nicht gefehlt. Nicht wenige werden, wie der 1673 in Mitau verstorbene Gerichts¬ vogt Möller, nur mit einem Stab ins Land gekommen sein. Auf seinem in Mitau noch vorhandenen Grabstein heißt es unter anderem: Minden war mein Vaterland, Mitau Haus und Speisekammer, Wo ich Glück und Ehre fand, Auch dabei viel Kreuz und Jammer. Ich kam her mit einem Stab, Nam auch nichts mit mir ins Grab. 1ö-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/255>, abgerufen am 04.07.2024.