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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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politischer Neubau
von Dr. Lügen Nübling

meer dieser Überschrift hat in der "Württemberger Zeitung" vom
30. April 1917 Professor Dr. Hermann Loses-Stuttgart einen
interessanten Aufsatz veröffentlicht, der Gedanken entwickelt, die
verdienen, daß man sich eingehender mit ihnen beschäftigt.

Loses tadelt, daß wir Deutschen gerade jetzt, wo wir mit
einer Welt von Feinden um unsere Zukunft kämpfen müssen, uns an der so¬
genannten "Neuorientierung" aufregen, und meint dann, wenn wir darunter
verstehen, daß das preußische Landtagswahlrecht geändert werden solle, weil es
veraltet sei, so treffe dieses Veraltetsein allerdings zu; denn das preußische Landtags"
Wahlrecht sei rückschrittlich, weil es den Reichtum und nicht die persönliche Tüch¬
tigkeit mit einem Pluralwahlrecht bedenke. Es sei aber noch viel anderes ver¬
altet, z. B. auch das Neichstagswahlrecht; denn ein Wahlrecht, nach dem die
Stimme des in Hohenzollern wohnenden preußischen Staatsbürgers mehr als
sechsmal so hoch bewertet werde als die des Berliners, sei in der Tat reaktionär.
Man würde deshalb auch rückschrittlich handeln, wenn man ein neues Wahlrecht
für Preußen auf der Grundlage des Reichstagswahlrechts durchführen würde;
denn das territoriale, d. h. das auf geographisch begrenzte Wahlkreise gegründete
Wahlrecht sei ein Erzeugnis des sogenannten liberalen Zeitalters, das 1739
begonnen und 1890 geendet habe; seither stehe man im wirtschaftlichen Zeit¬
alter, im Zeitalter der Sozialreform und Sozialpolitik, und durch diese Neu¬
entwicklung seien die politischen Parteien überholt worden: Die Konservativen
seien vom Bund der Landwirte überwuchert, die Nationalliberalen in die Leitung
der Jndustriesekretäre, die Freisinnigen unter die Hand des Handels, die Sozial-
dnnokraten unter die Gewerkschaftsführer gekommen.

Johes zieht nun aus dieser Tatsache der wachsenden Beherrschung der
einzelnen politischen Parteien durch bestimmte berufliche Staudesinteressen die
bedeutsame Folgerung, daß das seitherige Parlament der Parteien in ein Par¬
lament der Berufe verwandelt werden müsse, daß an die Stelle der territorial
begrenzten Reichstagswahlkreise künftig Vertretungen der Berufsinteressen Z"
treten hätten, wobei selbverständlich das allgemeine, geheime und unmittelbare
Wahlrecht beizubehalten sei. Loses erklärt, er wolle damit nicht die alte
"Ständevertretung" galvanisieren, sondern vielmehr etwas völlig Neuzeitliches
schaffen, er meint, man könne in dieser Frage mit völlig offenen Karten spielen,




politischer Neubau
von Dr. Lügen Nübling

meer dieser Überschrift hat in der „Württemberger Zeitung" vom
30. April 1917 Professor Dr. Hermann Loses-Stuttgart einen
interessanten Aufsatz veröffentlicht, der Gedanken entwickelt, die
verdienen, daß man sich eingehender mit ihnen beschäftigt.

Loses tadelt, daß wir Deutschen gerade jetzt, wo wir mit
einer Welt von Feinden um unsere Zukunft kämpfen müssen, uns an der so¬
genannten „Neuorientierung" aufregen, und meint dann, wenn wir darunter
verstehen, daß das preußische Landtagswahlrecht geändert werden solle, weil es
veraltet sei, so treffe dieses Veraltetsein allerdings zu; denn das preußische Landtags«
Wahlrecht sei rückschrittlich, weil es den Reichtum und nicht die persönliche Tüch¬
tigkeit mit einem Pluralwahlrecht bedenke. Es sei aber noch viel anderes ver¬
altet, z. B. auch das Neichstagswahlrecht; denn ein Wahlrecht, nach dem die
Stimme des in Hohenzollern wohnenden preußischen Staatsbürgers mehr als
sechsmal so hoch bewertet werde als die des Berliners, sei in der Tat reaktionär.
Man würde deshalb auch rückschrittlich handeln, wenn man ein neues Wahlrecht
für Preußen auf der Grundlage des Reichstagswahlrechts durchführen würde;
denn das territoriale, d. h. das auf geographisch begrenzte Wahlkreise gegründete
Wahlrecht sei ein Erzeugnis des sogenannten liberalen Zeitalters, das 1739
begonnen und 1890 geendet habe; seither stehe man im wirtschaftlichen Zeit¬
alter, im Zeitalter der Sozialreform und Sozialpolitik, und durch diese Neu¬
entwicklung seien die politischen Parteien überholt worden: Die Konservativen
seien vom Bund der Landwirte überwuchert, die Nationalliberalen in die Leitung
der Jndustriesekretäre, die Freisinnigen unter die Hand des Handels, die Sozial-
dnnokraten unter die Gewerkschaftsführer gekommen.

Johes zieht nun aus dieser Tatsache der wachsenden Beherrschung der
einzelnen politischen Parteien durch bestimmte berufliche Staudesinteressen die
bedeutsame Folgerung, daß das seitherige Parlament der Parteien in ein Par¬
lament der Berufe verwandelt werden müsse, daß an die Stelle der territorial
begrenzten Reichstagswahlkreise künftig Vertretungen der Berufsinteressen Z»
treten hätten, wobei selbverständlich das allgemeine, geheime und unmittelbare
Wahlrecht beizubehalten sei. Loses erklärt, er wolle damit nicht die alte
„Ständevertretung" galvanisieren, sondern vielmehr etwas völlig Neuzeitliches
schaffen, er meint, man könne in dieser Frage mit völlig offenen Karten spielen,


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[0242] [Abbildung] politischer Neubau von Dr. Lügen Nübling meer dieser Überschrift hat in der „Württemberger Zeitung" vom 30. April 1917 Professor Dr. Hermann Loses-Stuttgart einen interessanten Aufsatz veröffentlicht, der Gedanken entwickelt, die verdienen, daß man sich eingehender mit ihnen beschäftigt. Loses tadelt, daß wir Deutschen gerade jetzt, wo wir mit einer Welt von Feinden um unsere Zukunft kämpfen müssen, uns an der so¬ genannten „Neuorientierung" aufregen, und meint dann, wenn wir darunter verstehen, daß das preußische Landtagswahlrecht geändert werden solle, weil es veraltet sei, so treffe dieses Veraltetsein allerdings zu; denn das preußische Landtags« Wahlrecht sei rückschrittlich, weil es den Reichtum und nicht die persönliche Tüch¬ tigkeit mit einem Pluralwahlrecht bedenke. Es sei aber noch viel anderes ver¬ altet, z. B. auch das Neichstagswahlrecht; denn ein Wahlrecht, nach dem die Stimme des in Hohenzollern wohnenden preußischen Staatsbürgers mehr als sechsmal so hoch bewertet werde als die des Berliners, sei in der Tat reaktionär. Man würde deshalb auch rückschrittlich handeln, wenn man ein neues Wahlrecht für Preußen auf der Grundlage des Reichstagswahlrechts durchführen würde; denn das territoriale, d. h. das auf geographisch begrenzte Wahlkreise gegründete Wahlrecht sei ein Erzeugnis des sogenannten liberalen Zeitalters, das 1739 begonnen und 1890 geendet habe; seither stehe man im wirtschaftlichen Zeit¬ alter, im Zeitalter der Sozialreform und Sozialpolitik, und durch diese Neu¬ entwicklung seien die politischen Parteien überholt worden: Die Konservativen seien vom Bund der Landwirte überwuchert, die Nationalliberalen in die Leitung der Jndustriesekretäre, die Freisinnigen unter die Hand des Handels, die Sozial- dnnokraten unter die Gewerkschaftsführer gekommen. Johes zieht nun aus dieser Tatsache der wachsenden Beherrschung der einzelnen politischen Parteien durch bestimmte berufliche Staudesinteressen die bedeutsame Folgerung, daß das seitherige Parlament der Parteien in ein Par¬ lament der Berufe verwandelt werden müsse, daß an die Stelle der territorial begrenzten Reichstagswahlkreise künftig Vertretungen der Berufsinteressen Z» treten hätten, wobei selbverständlich das allgemeine, geheime und unmittelbare Wahlrecht beizubehalten sei. Loses erklärt, er wolle damit nicht die alte „Ständevertretung" galvanisieren, sondern vielmehr etwas völlig Neuzeitliches schaffen, er meint, man könne in dieser Frage mit völlig offenen Karten spielen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/242>, abgerufen am 01.07.2024.