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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Dichtungen, die heute kann mehr aufzutreiben sind, gibt Schemann einen so
verheißungsvoller Begriff, daß ein Neudruck des Werks dringend erwünscht
scheint; namentlich von dem "Lapitulaire ac Le. />.vit", das die Schicksale
eines französischen Klosters an der Hand einer ausgewählten Reihe scharf-
umrissener Bildnisse seiner Äbte durch die Jahrhunderte verfolgt, gewinnt man
den Eindruck, als handle es sich hier um eine Bekenntnisschrift von hoher
Bedeutung. Aber auch ein neues Feld eröffnet sich Gobineau in Athen: er
wird zum Bildhauer, dessen weitere Entwicklung durch anderthalb Jahrzehnte
die Biographie mit großer Liebe verfolgt: Auf Grund meiner -- freilich nicht
llzufrischen -- Erinnerung an die in Straßburg aufbewahrten Werke umbr
amanches, was bei Schemann wider Willen des Verfassers zwischen den Zeile
steht, kann ich freilich die Vermutung nicht unterdrücken, daß zwischen den
hohen Absichten des Bildners und ihrer Ausführung doch ein beträchtlicher
Abstand geblieben sei. Stark sticht alsdann von Athen das Jahr auf dem ent¬
legenen Posten in Rio de Janeiro (1869 auf 1870) ab, denn so hoch die
Freundschaft des trefflichen Kaisers Dom Pedro für Gobineau anzuschlagen sein
mag. für seine starken Entbehrungen und die schwere Schädigung seiner Gesund¬
heit bot auch sie keinen hinreichenden Ersatz. So hält es denn auch schwer,
aus Schemanns Analyse der merkwürdigen dorthin gehörigen Dichtung "I^e
Paraäi8 cle Löovult" etwas zu machen, die übrigens mit dem angelsächsischen
Helden nichts zu tun hat, sondern in seltsamer Weise auf Dantes Spuren
wandelt, und daß Rio den Abschluß der umfänglichen zweibändigen Perser¬
geschichte (1869) bringt, wirkt auch nicht gerade erhebend. Zwar wenn Scilliere
die Sache so darstellt, als handle es sich dabei eben nur um die tollen Sprünge
einer ausgearteten Phantasie, so wird davon genug abzudingen sein; auf
richtigeren Wege war jedenfalls Wagner, den bei der Lesung "Gobineau oft
wehr interessierte als die Perser". Daß es sich trotzdem um ein gerade in
seinen wissenschaftlichen Hauptpunkten durchaus verfehltes Werk handelt, be¬
streitet aber auch Schemann nicht.

über Gobineaus Erlebnisse im Frankreich des Jahres 1870 und seine
Stellung zu den Ereignissen hat sich Schemann im vierundstebzigsten Jahrgang
der "Grenzboten" (Ur. 15 und 16) ebensowohl eingehend ausgesprochen wie
über die leider unvollendete Schrift, in der er seine damaligen Ansichten und
Erfahrungen niedergelegt hat. Es mag daher die Feststellung genügen, daß
diese Erfahrungen ihn trotz aller gewissenhaften Treue, mit welcher er in
schwerer Zeit die Interessen seines Vaterlandes wahrte, seinem Volke unheilbar
entfremdeten. Aber auch sonst hebt sich seine letzte diplomatische Tätigkeit in
Stockholm von dunklem Hintergrunde ab: als erster bringt Schemann reiches
Material zu einer herben Familientragödie, der schroffen Trennung Gobineaus
von seiner Frau und den Seinen, Licht und Schatten mit der peinlichsten
Gewissenhaftigkeit verleitend, wobei die größere Last der Schuld aber doch auf
die anspruchsvolle und bei aller Intelligenz innerlich verständnislose weid-


Dichtungen, die heute kann mehr aufzutreiben sind, gibt Schemann einen so
verheißungsvoller Begriff, daß ein Neudruck des Werks dringend erwünscht
scheint; namentlich von dem „Lapitulaire ac Le. />.vit", das die Schicksale
eines französischen Klosters an der Hand einer ausgewählten Reihe scharf-
umrissener Bildnisse seiner Äbte durch die Jahrhunderte verfolgt, gewinnt man
den Eindruck, als handle es sich hier um eine Bekenntnisschrift von hoher
Bedeutung. Aber auch ein neues Feld eröffnet sich Gobineau in Athen: er
wird zum Bildhauer, dessen weitere Entwicklung durch anderthalb Jahrzehnte
die Biographie mit großer Liebe verfolgt: Auf Grund meiner — freilich nicht
llzufrischen — Erinnerung an die in Straßburg aufbewahrten Werke umbr
amanches, was bei Schemann wider Willen des Verfassers zwischen den Zeile
steht, kann ich freilich die Vermutung nicht unterdrücken, daß zwischen den
hohen Absichten des Bildners und ihrer Ausführung doch ein beträchtlicher
Abstand geblieben sei. Stark sticht alsdann von Athen das Jahr auf dem ent¬
legenen Posten in Rio de Janeiro (1869 auf 1870) ab, denn so hoch die
Freundschaft des trefflichen Kaisers Dom Pedro für Gobineau anzuschlagen sein
mag. für seine starken Entbehrungen und die schwere Schädigung seiner Gesund¬
heit bot auch sie keinen hinreichenden Ersatz. So hält es denn auch schwer,
aus Schemanns Analyse der merkwürdigen dorthin gehörigen Dichtung „I^e
Paraäi8 cle Löovult" etwas zu machen, die übrigens mit dem angelsächsischen
Helden nichts zu tun hat, sondern in seltsamer Weise auf Dantes Spuren
wandelt, und daß Rio den Abschluß der umfänglichen zweibändigen Perser¬
geschichte (1869) bringt, wirkt auch nicht gerade erhebend. Zwar wenn Scilliere
die Sache so darstellt, als handle es sich dabei eben nur um die tollen Sprünge
einer ausgearteten Phantasie, so wird davon genug abzudingen sein; auf
richtigeren Wege war jedenfalls Wagner, den bei der Lesung „Gobineau oft
wehr interessierte als die Perser". Daß es sich trotzdem um ein gerade in
seinen wissenschaftlichen Hauptpunkten durchaus verfehltes Werk handelt, be¬
streitet aber auch Schemann nicht.

über Gobineaus Erlebnisse im Frankreich des Jahres 1870 und seine
Stellung zu den Ereignissen hat sich Schemann im vierundstebzigsten Jahrgang
der „Grenzboten" (Ur. 15 und 16) ebensowohl eingehend ausgesprochen wie
über die leider unvollendete Schrift, in der er seine damaligen Ansichten und
Erfahrungen niedergelegt hat. Es mag daher die Feststellung genügen, daß
diese Erfahrungen ihn trotz aller gewissenhaften Treue, mit welcher er in
schwerer Zeit die Interessen seines Vaterlandes wahrte, seinem Volke unheilbar
entfremdeten. Aber auch sonst hebt sich seine letzte diplomatische Tätigkeit in
Stockholm von dunklem Hintergrunde ab: als erster bringt Schemann reiches
Material zu einer herben Familientragödie, der schroffen Trennung Gobineaus
von seiner Frau und den Seinen, Licht und Schatten mit der peinlichsten
Gewissenhaftigkeit verleitend, wobei die größere Last der Schuld aber doch auf
die anspruchsvolle und bei aller Intelligenz innerlich verständnislose weid-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/229>, abgerufen am 01.07.2024.