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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

Den tagtäglich steigenden angelsächsischen Einfluß in dieser Richtung lasse ich
dabei ganz außer acht. Aber einmal ist es doch ganz klar, daß der dumpfen
und gefügigen slawischen Natur noch auf Jahrzehnte hin die zaristischen Über¬
lieferungen tief im Blute stecken und nicht durch einen in Petersburg in-
szenierten Staatsstreich einfach überwunden werden können. Man darf nie
vergessen, daß Petersburg nicht entfernt im selben Sinne die Seele Rußlands
ist. wie etwa Paris Herz und Hirn Frankreichs. Mit dem vielleicht auch nur
vorübergehend gestürzten äußeren Zarismus ist der innere Zarismus des
russischen Volkes noch lange nicht abgetan. Wenn aber wirklich der Sozia¬
lismus des Proletariats und seiner Parteigänger die Leitung der russischen
Geschicke auf die Dauer in der Hand behalten sollte, so kann auch darin ein
zentralistisches Moment nicht verkannt werden. Genau wie etwa die inter¬
nationalistische Sozialdemokratie Europas innerhalb des europäischen Staaten-
systems eine Kraft der zwischenstaatlichen Angliederung und damit auch eines
organisatorischen Zentralismus bedeutet, so müßten auch die zum Sieg ge¬
langenden proletarischen Klasseninteressen innerhalb des rußlündischen Völker¬
gemenges auf Vereinheitlichung hinwirken.

Halten wir uns nun vor Augen, wie gering die Kraft des unreifen,
keineswegs auf ausgebildete Sonderkulturen gestützten Nationalismus Osteuropas
als einzige zentrifugale Kraft gegenüber den aufgeführten zentripetalen Stre¬
bungen einzuschätzen ist, dann wird so recht offenbar, wie naiv und oberflächlich
die weitreichenden Hoffnungen sind, die die deutsche Öffentlichkeit auf die russische
Revolution in der Richtung auf eine fortdauernde Schwächung des europäischen
Ostens setzt.

Eine zwingende Logik politischer Tatsachen trieb unsere Überlegung von
der Anarchie zum Föderalismus. Aber sie treibt uns noch weiter, sie führt
auch vom Föderalismus zum Gedanken an die Wiederkehr irgendeiner neuen
Tyrannis. Auch hier kann die bereits in Erwägung gezogene Möglichkeit
einer föderalistischen Republik als ein Übergangstypus gedeutet werden. Denn
es ist sicher, daß in einer solchen nicht die Kalmücken, die Tschuwaschen oder
irgendein sibirischer Stamm denselben Einfluß gewinnen kann, wie die ent¬
wickelteren Völker des europäischen Rußlands. Und es ist ferner zum min¬
desten wahrscheinlich, daß von den beiden einzig ernsthaften Wettbewerbern um
die Hegemonie, den Großrussen und den Ukrainern, die erstgenannten auch hi^
wieder die Vorherrschaft erlangen würden, wie sie das ja auch in der bis¬
herigen Geschichte Rußlands in jahrhundertelangen Kämpfen durchgesetzt haben.

Unter den erlesenen Vertretern, die der russische "Volkswille" in die erste
Duma vor einem Jahrzehnt sandte, befanden sich mehrere, die des Lesens und
Schreibens unkundig waren. Selbst unter Moskaner Großunternehmern gibt
es Analphabeten. Im gesamten russischen Volk betragen diese etwa 80 Prozent.
Ein Volk, das auf dieser niederen Stufe der Zivilisation steht, ist vorerst selbst¬
verständlich nicht imstande, sich im westlichen Sinne selbst zu regieren.


Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

Den tagtäglich steigenden angelsächsischen Einfluß in dieser Richtung lasse ich
dabei ganz außer acht. Aber einmal ist es doch ganz klar, daß der dumpfen
und gefügigen slawischen Natur noch auf Jahrzehnte hin die zaristischen Über¬
lieferungen tief im Blute stecken und nicht durch einen in Petersburg in-
szenierten Staatsstreich einfach überwunden werden können. Man darf nie
vergessen, daß Petersburg nicht entfernt im selben Sinne die Seele Rußlands
ist. wie etwa Paris Herz und Hirn Frankreichs. Mit dem vielleicht auch nur
vorübergehend gestürzten äußeren Zarismus ist der innere Zarismus des
russischen Volkes noch lange nicht abgetan. Wenn aber wirklich der Sozia¬
lismus des Proletariats und seiner Parteigänger die Leitung der russischen
Geschicke auf die Dauer in der Hand behalten sollte, so kann auch darin ein
zentralistisches Moment nicht verkannt werden. Genau wie etwa die inter¬
nationalistische Sozialdemokratie Europas innerhalb des europäischen Staaten-
systems eine Kraft der zwischenstaatlichen Angliederung und damit auch eines
organisatorischen Zentralismus bedeutet, so müßten auch die zum Sieg ge¬
langenden proletarischen Klasseninteressen innerhalb des rußlündischen Völker¬
gemenges auf Vereinheitlichung hinwirken.

Halten wir uns nun vor Augen, wie gering die Kraft des unreifen,
keineswegs auf ausgebildete Sonderkulturen gestützten Nationalismus Osteuropas
als einzige zentrifugale Kraft gegenüber den aufgeführten zentripetalen Stre¬
bungen einzuschätzen ist, dann wird so recht offenbar, wie naiv und oberflächlich
die weitreichenden Hoffnungen sind, die die deutsche Öffentlichkeit auf die russische
Revolution in der Richtung auf eine fortdauernde Schwächung des europäischen
Ostens setzt.

Eine zwingende Logik politischer Tatsachen trieb unsere Überlegung von
der Anarchie zum Föderalismus. Aber sie treibt uns noch weiter, sie führt
auch vom Föderalismus zum Gedanken an die Wiederkehr irgendeiner neuen
Tyrannis. Auch hier kann die bereits in Erwägung gezogene Möglichkeit
einer föderalistischen Republik als ein Übergangstypus gedeutet werden. Denn
es ist sicher, daß in einer solchen nicht die Kalmücken, die Tschuwaschen oder
irgendein sibirischer Stamm denselben Einfluß gewinnen kann, wie die ent¬
wickelteren Völker des europäischen Rußlands. Und es ist ferner zum min¬
desten wahrscheinlich, daß von den beiden einzig ernsthaften Wettbewerbern um
die Hegemonie, den Großrussen und den Ukrainern, die erstgenannten auch hi^
wieder die Vorherrschaft erlangen würden, wie sie das ja auch in der bis¬
herigen Geschichte Rußlands in jahrhundertelangen Kämpfen durchgesetzt haben.

Unter den erlesenen Vertretern, die der russische „Volkswille" in die erste
Duma vor einem Jahrzehnt sandte, befanden sich mehrere, die des Lesens und
Schreibens unkundig waren. Selbst unter Moskaner Großunternehmern gibt
es Analphabeten. Im gesamten russischen Volk betragen diese etwa 80 Prozent.
Ein Volk, das auf dieser niederen Stufe der Zivilisation steht, ist vorerst selbst¬
verständlich nicht imstande, sich im westlichen Sinne selbst zu regieren.


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[0222] Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft Den tagtäglich steigenden angelsächsischen Einfluß in dieser Richtung lasse ich dabei ganz außer acht. Aber einmal ist es doch ganz klar, daß der dumpfen und gefügigen slawischen Natur noch auf Jahrzehnte hin die zaristischen Über¬ lieferungen tief im Blute stecken und nicht durch einen in Petersburg in- szenierten Staatsstreich einfach überwunden werden können. Man darf nie vergessen, daß Petersburg nicht entfernt im selben Sinne die Seele Rußlands ist. wie etwa Paris Herz und Hirn Frankreichs. Mit dem vielleicht auch nur vorübergehend gestürzten äußeren Zarismus ist der innere Zarismus des russischen Volkes noch lange nicht abgetan. Wenn aber wirklich der Sozia¬ lismus des Proletariats und seiner Parteigänger die Leitung der russischen Geschicke auf die Dauer in der Hand behalten sollte, so kann auch darin ein zentralistisches Moment nicht verkannt werden. Genau wie etwa die inter¬ nationalistische Sozialdemokratie Europas innerhalb des europäischen Staaten- systems eine Kraft der zwischenstaatlichen Angliederung und damit auch eines organisatorischen Zentralismus bedeutet, so müßten auch die zum Sieg ge¬ langenden proletarischen Klasseninteressen innerhalb des rußlündischen Völker¬ gemenges auf Vereinheitlichung hinwirken. Halten wir uns nun vor Augen, wie gering die Kraft des unreifen, keineswegs auf ausgebildete Sonderkulturen gestützten Nationalismus Osteuropas als einzige zentrifugale Kraft gegenüber den aufgeführten zentripetalen Stre¬ bungen einzuschätzen ist, dann wird so recht offenbar, wie naiv und oberflächlich die weitreichenden Hoffnungen sind, die die deutsche Öffentlichkeit auf die russische Revolution in der Richtung auf eine fortdauernde Schwächung des europäischen Ostens setzt. Eine zwingende Logik politischer Tatsachen trieb unsere Überlegung von der Anarchie zum Föderalismus. Aber sie treibt uns noch weiter, sie führt auch vom Föderalismus zum Gedanken an die Wiederkehr irgendeiner neuen Tyrannis. Auch hier kann die bereits in Erwägung gezogene Möglichkeit einer föderalistischen Republik als ein Übergangstypus gedeutet werden. Denn es ist sicher, daß in einer solchen nicht die Kalmücken, die Tschuwaschen oder irgendein sibirischer Stamm denselben Einfluß gewinnen kann, wie die ent¬ wickelteren Völker des europäischen Rußlands. Und es ist ferner zum min¬ desten wahrscheinlich, daß von den beiden einzig ernsthaften Wettbewerbern um die Hegemonie, den Großrussen und den Ukrainern, die erstgenannten auch hi^ wieder die Vorherrschaft erlangen würden, wie sie das ja auch in der bis¬ herigen Geschichte Rußlands in jahrhundertelangen Kämpfen durchgesetzt haben. Unter den erlesenen Vertretern, die der russische „Volkswille" in die erste Duma vor einem Jahrzehnt sandte, befanden sich mehrere, die des Lesens und Schreibens unkundig waren. Selbst unter Moskaner Großunternehmern gibt es Analphabeten. Im gesamten russischen Volk betragen diese etwa 80 Prozent. Ein Volk, das auf dieser niederen Stufe der Zivilisation steht, ist vorerst selbst¬ verständlich nicht imstande, sich im westlichen Sinne selbst zu regieren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/222>, abgerufen am 01.07.2024.