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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

Dazu tritt nun aber das Entgegenwirken anderer Faktoren, insbesondere
der heute so wichtigen wirtschaftlichen Lebensbedingungen der bislang unter dem
Zarenzepter vereinten osteuropäischen Völker. Wenn man auch die Wirkung
der wirtschaftlichen Interessen Rußlands nicht gerade als schlechthin zentralisierend
ansprechen kann, so müssen diese doch zu mindesten einer nationalistischen Des¬
organisation entgegenwirken. Die einzelnen Wirtschaftsgebiete Rußlands sind
vielfach derartig einseitig entwickelt, daß sie schlechterdings aufeinander ange¬
wiesen sind. Wirtschaftliche Autarkie oder Selbstgenügsamkeit, wie sie neuerdings
als politische Lebensbedingung eines Einzelstaates anerkannt ist. wird sich für
viele der etwaigen Teilreiche schwer auch nur in einigem Maße erzielen lassen.
Einem nationalen Autonomismus muß sich daher von vornherein ein wirt¬
schaftlicher Föderalismus entgegenstemmen. Und wie sehr ein solcher gerade
im gegenwärtigen kapitalistischen Zeitalter geneigt ist, sich auch in einen politischen
M verwandeln, braucht nicht erst durch das Beispiel des Zollvereins oder der
Idee Mitteleuropa erhärtet zu werden. So müssen alle Versuche einer Zer-
ttennung Rußlands in lebensfähige Teilreiche auf schwere Widerstände wirt¬
schaftlicher Natur stoßen. Ja selbst bei vollzogenen Zerfall des Reiches müßte
immer mit starken Wiedervereinigungsbestrebungen gerechnet werden. Denn
diese wirtschaftliche Wechselabhängigkeit und Solidarität Osteuropas muß natur¬
gemäß alle vorhandenen zentralistischen Kräfte an sich heranziehen, um sie ihren
Zwecken dienstbar zu machen.

Solche zentralistische Kräfte aber sind auch außerhalb des wirtschaftlichen
Gebiets in reichem Maße vorhanden. Aller sehr weitreichenden sektiererischen
Zerspaltung zum Trotz bedeutet die Einheit der orthodoxen Kirche, die im
Zäsaropapismus bereits ihre politische Umbiegung erfuhr, eine gerade gefühls¬
mäßig auch heute noch keineswegs zu unterschätzende Gewalt. Sie verbindet
freilich, was in Deutschland lange nicht genügend bekannt und wohl zu beachten
ist, nur das eigentliche, das außer-mitteleuropäische Rußland. Was westlich
der Linie wohnt, die sich von der Narwa und dem Peipussee nördlich und
südlich erstreckt, ist fast durchweg protestantisch oder römisch-katholisch. Das
ganze Westslawentum gehört religiös nicht zum Osten, sondern zu Europa.
Aber die religiöse Einheit überwölbt beispielsweise den stärksten inneren nationalen
Gegensatz Rußlands, den zwischen Großrussen und Ukrainern, und hat bei der
freiwilligen Loslösung der Ukraine von Polen und ihrem Anschluß an das
Moskowiterreich bereits einmal in der Geschichte eine Rolle gespielt. Und es
muß als ein hoher ideologischer Glücksfall für die politische Leidenschaft Rußlands
anerkannt werden, daß sich schon bislang im Kriegsziel Konstantinopel der
wirtschaftliche wie auch der religiöse Zentralismus die Hände reichen. Die
Volkstümlichkeit dieses Gedankens muß dadurch jedenfalls wesentlich befördert werden.

Und wenn nun schließlich vom nationalen über das wirtschaftliche und
religiöse Gebiet der Schritt auf das rein politische vollzogen wird: auch hier
sehen wir von zwei Seiten her einen energischen Zentralismus am Werke.


"renzbotm III 1917 14
Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

Dazu tritt nun aber das Entgegenwirken anderer Faktoren, insbesondere
der heute so wichtigen wirtschaftlichen Lebensbedingungen der bislang unter dem
Zarenzepter vereinten osteuropäischen Völker. Wenn man auch die Wirkung
der wirtschaftlichen Interessen Rußlands nicht gerade als schlechthin zentralisierend
ansprechen kann, so müssen diese doch zu mindesten einer nationalistischen Des¬
organisation entgegenwirken. Die einzelnen Wirtschaftsgebiete Rußlands sind
vielfach derartig einseitig entwickelt, daß sie schlechterdings aufeinander ange¬
wiesen sind. Wirtschaftliche Autarkie oder Selbstgenügsamkeit, wie sie neuerdings
als politische Lebensbedingung eines Einzelstaates anerkannt ist. wird sich für
viele der etwaigen Teilreiche schwer auch nur in einigem Maße erzielen lassen.
Einem nationalen Autonomismus muß sich daher von vornherein ein wirt¬
schaftlicher Föderalismus entgegenstemmen. Und wie sehr ein solcher gerade
im gegenwärtigen kapitalistischen Zeitalter geneigt ist, sich auch in einen politischen
M verwandeln, braucht nicht erst durch das Beispiel des Zollvereins oder der
Idee Mitteleuropa erhärtet zu werden. So müssen alle Versuche einer Zer-
ttennung Rußlands in lebensfähige Teilreiche auf schwere Widerstände wirt¬
schaftlicher Natur stoßen. Ja selbst bei vollzogenen Zerfall des Reiches müßte
immer mit starken Wiedervereinigungsbestrebungen gerechnet werden. Denn
diese wirtschaftliche Wechselabhängigkeit und Solidarität Osteuropas muß natur¬
gemäß alle vorhandenen zentralistischen Kräfte an sich heranziehen, um sie ihren
Zwecken dienstbar zu machen.

Solche zentralistische Kräfte aber sind auch außerhalb des wirtschaftlichen
Gebiets in reichem Maße vorhanden. Aller sehr weitreichenden sektiererischen
Zerspaltung zum Trotz bedeutet die Einheit der orthodoxen Kirche, die im
Zäsaropapismus bereits ihre politische Umbiegung erfuhr, eine gerade gefühls¬
mäßig auch heute noch keineswegs zu unterschätzende Gewalt. Sie verbindet
freilich, was in Deutschland lange nicht genügend bekannt und wohl zu beachten
ist, nur das eigentliche, das außer-mitteleuropäische Rußland. Was westlich
der Linie wohnt, die sich von der Narwa und dem Peipussee nördlich und
südlich erstreckt, ist fast durchweg protestantisch oder römisch-katholisch. Das
ganze Westslawentum gehört religiös nicht zum Osten, sondern zu Europa.
Aber die religiöse Einheit überwölbt beispielsweise den stärksten inneren nationalen
Gegensatz Rußlands, den zwischen Großrussen und Ukrainern, und hat bei der
freiwilligen Loslösung der Ukraine von Polen und ihrem Anschluß an das
Moskowiterreich bereits einmal in der Geschichte eine Rolle gespielt. Und es
muß als ein hoher ideologischer Glücksfall für die politische Leidenschaft Rußlands
anerkannt werden, daß sich schon bislang im Kriegsziel Konstantinopel der
wirtschaftliche wie auch der religiöse Zentralismus die Hände reichen. Die
Volkstümlichkeit dieses Gedankens muß dadurch jedenfalls wesentlich befördert werden.

Und wenn nun schließlich vom nationalen über das wirtschaftliche und
religiöse Gebiet der Schritt auf das rein politische vollzogen wird: auch hier
sehen wir von zwei Seiten her einen energischen Zentralismus am Werke.


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[0221] Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft Dazu tritt nun aber das Entgegenwirken anderer Faktoren, insbesondere der heute so wichtigen wirtschaftlichen Lebensbedingungen der bislang unter dem Zarenzepter vereinten osteuropäischen Völker. Wenn man auch die Wirkung der wirtschaftlichen Interessen Rußlands nicht gerade als schlechthin zentralisierend ansprechen kann, so müssen diese doch zu mindesten einer nationalistischen Des¬ organisation entgegenwirken. Die einzelnen Wirtschaftsgebiete Rußlands sind vielfach derartig einseitig entwickelt, daß sie schlechterdings aufeinander ange¬ wiesen sind. Wirtschaftliche Autarkie oder Selbstgenügsamkeit, wie sie neuerdings als politische Lebensbedingung eines Einzelstaates anerkannt ist. wird sich für viele der etwaigen Teilreiche schwer auch nur in einigem Maße erzielen lassen. Einem nationalen Autonomismus muß sich daher von vornherein ein wirt¬ schaftlicher Föderalismus entgegenstemmen. Und wie sehr ein solcher gerade im gegenwärtigen kapitalistischen Zeitalter geneigt ist, sich auch in einen politischen M verwandeln, braucht nicht erst durch das Beispiel des Zollvereins oder der Idee Mitteleuropa erhärtet zu werden. So müssen alle Versuche einer Zer- ttennung Rußlands in lebensfähige Teilreiche auf schwere Widerstände wirt¬ schaftlicher Natur stoßen. Ja selbst bei vollzogenen Zerfall des Reiches müßte immer mit starken Wiedervereinigungsbestrebungen gerechnet werden. Denn diese wirtschaftliche Wechselabhängigkeit und Solidarität Osteuropas muß natur¬ gemäß alle vorhandenen zentralistischen Kräfte an sich heranziehen, um sie ihren Zwecken dienstbar zu machen. Solche zentralistische Kräfte aber sind auch außerhalb des wirtschaftlichen Gebiets in reichem Maße vorhanden. Aller sehr weitreichenden sektiererischen Zerspaltung zum Trotz bedeutet die Einheit der orthodoxen Kirche, die im Zäsaropapismus bereits ihre politische Umbiegung erfuhr, eine gerade gefühls¬ mäßig auch heute noch keineswegs zu unterschätzende Gewalt. Sie verbindet freilich, was in Deutschland lange nicht genügend bekannt und wohl zu beachten ist, nur das eigentliche, das außer-mitteleuropäische Rußland. Was westlich der Linie wohnt, die sich von der Narwa und dem Peipussee nördlich und südlich erstreckt, ist fast durchweg protestantisch oder römisch-katholisch. Das ganze Westslawentum gehört religiös nicht zum Osten, sondern zu Europa. Aber die religiöse Einheit überwölbt beispielsweise den stärksten inneren nationalen Gegensatz Rußlands, den zwischen Großrussen und Ukrainern, und hat bei der freiwilligen Loslösung der Ukraine von Polen und ihrem Anschluß an das Moskowiterreich bereits einmal in der Geschichte eine Rolle gespielt. Und es muß als ein hoher ideologischer Glücksfall für die politische Leidenschaft Rußlands anerkannt werden, daß sich schon bislang im Kriegsziel Konstantinopel der wirtschaftliche wie auch der religiöse Zentralismus die Hände reichen. Die Volkstümlichkeit dieses Gedankens muß dadurch jedenfalls wesentlich befördert werden. Und wenn nun schließlich vom nationalen über das wirtschaftliche und religiöse Gebiet der Schritt auf das rein politische vollzogen wird: auch hier sehen wir von zwei Seiten her einen energischen Zentralismus am Werke. «renzbotm III 1917 14

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/221>, abgerufen am 01.07.2024.