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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

tierung". Aber wir kommen eben nicht um ihn herum. Und es bleibt der
einzige Trost, daß das also verdünnte Getränk uns nicht so leicht zu Kopf
steigen und die klaren Sinne umnebeln wird. Es wird gar nicht lange dauern,
und die rüstig fortschreitende Gesundung und politisch-militärische Kräftigung
Rußlands wird auch diejenigen sehr bedenklich stimmen, die heute in schwer
begreiflicher Naivität mit der russischen Umwälzung alle zukünftigen Gefahren
im Osten beseitigt glauben.

Damit gleitet aber unsere Überlegung von selbst zur zweiten Möglichkeit
hinüber: nachdem eine Neuordnung der russischen Verhältnisse sich zugleich im
russischen, deutschen, europäischen, ja sogar im weltwirtschaftlichen Interesse als
unumgänglich erwiesen hat, wodurch sie wohl als ausreichend gesichert erscheinen
dürfte, gilt es die weitere Untersuchung, in welchen Formen sich diese neue
Verfestigung vollziehen könnte. Und hier kommen als Hauptmöglichkeiten eben
die Wiederkehr einer Tyrannis, ein neuer Zarismus in irgendwelcher Form
oder aber die Begründung eines neuartigen, vielleicht ganz urtümlich russischen
Staatentypus, etwa einer stark föderalistischen Republik oder schließlich der
Zerfall in mehrere unabhängige, einzeln lebensfähige Sonderstaaten in
Frage.

Gehen wir auf die letztere Möglichkeit zuerst ein, weil sie gewissermaßen
den Übergang von der Anarchie zur Neuordnung darstellt und auch tatsächlich
als Zwischenstadium einige Wahrscheinlichkeit für sich hat. In der Tat sind die
Grenzen zwischen beiden Lösungstypen durchaus fließend. Denn die absolute
Anarchie, die überhaupt kein Gemeinwesen, sondern nur noch den Kampf aller
gegen alle kennen würde, ist ein Grenzfall, der nur in der Theorie, nicht in
der lebendigen Wirklichkeit des politischen Lebens seinen Ort hat. Ohne Zweifel
mußte'nach der Überspannung der Zentralisation, wie sie der Zarismus bedeutete,
der Pendel zunächst ins entgegengesetzte Extrem, eben in die absolute Anarchie
ausschlagen, um schließlich in irgendeiner einstweilen noch der Zukunft vorbe-
haltenen Mittellage zur Ruhe zu kommen. Um aber diesen Ort der endlichen
Ruhelage zu bestimmen, muß eine Reihe verschiedenartiger Kräfte in die Rechnung
eingestellt werden, die in ihrer Stärke schwer gegeneinander abzuschätzen sind.
Gewiß bedeutet der Nationalismus der unzähligen unterdrückten Einzelvölker
eine beträchtliche dezentralisierende Kraft. Bekanntlich ist es eine leider bei uns
noch ziemlich verbreitete Täuschung, die in Rußland einen geschlossenen National¬
staat steht. Die Liste der "Jnorodzy", der Fremdvölker Rußlands, weist'eine
lange Reihe von Namen auf. Da aber einerseits die völkisch-ethnologischen
und die sprachlich-nationalen Abgrenzungen sich nicht decken und vielfach durchaus
verfließen, da andererseits nach Osten zu die Reife zu staatlicher Sonderexistenz
immer mehr abnimmt, so ist eine durchgeführte Zergliederung Rußlands auf
dem Grundsatz des Nationalitätenprinzips eine innere Unmöglichkeit. Die
Anarchie der Nationen und Einzelstämme ist ebenso unhaltbar wie die Anarchie
der Einzelindividuen.


Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

tierung". Aber wir kommen eben nicht um ihn herum. Und es bleibt der
einzige Trost, daß das also verdünnte Getränk uns nicht so leicht zu Kopf
steigen und die klaren Sinne umnebeln wird. Es wird gar nicht lange dauern,
und die rüstig fortschreitende Gesundung und politisch-militärische Kräftigung
Rußlands wird auch diejenigen sehr bedenklich stimmen, die heute in schwer
begreiflicher Naivität mit der russischen Umwälzung alle zukünftigen Gefahren
im Osten beseitigt glauben.

Damit gleitet aber unsere Überlegung von selbst zur zweiten Möglichkeit
hinüber: nachdem eine Neuordnung der russischen Verhältnisse sich zugleich im
russischen, deutschen, europäischen, ja sogar im weltwirtschaftlichen Interesse als
unumgänglich erwiesen hat, wodurch sie wohl als ausreichend gesichert erscheinen
dürfte, gilt es die weitere Untersuchung, in welchen Formen sich diese neue
Verfestigung vollziehen könnte. Und hier kommen als Hauptmöglichkeiten eben
die Wiederkehr einer Tyrannis, ein neuer Zarismus in irgendwelcher Form
oder aber die Begründung eines neuartigen, vielleicht ganz urtümlich russischen
Staatentypus, etwa einer stark föderalistischen Republik oder schließlich der
Zerfall in mehrere unabhängige, einzeln lebensfähige Sonderstaaten in
Frage.

Gehen wir auf die letztere Möglichkeit zuerst ein, weil sie gewissermaßen
den Übergang von der Anarchie zur Neuordnung darstellt und auch tatsächlich
als Zwischenstadium einige Wahrscheinlichkeit für sich hat. In der Tat sind die
Grenzen zwischen beiden Lösungstypen durchaus fließend. Denn die absolute
Anarchie, die überhaupt kein Gemeinwesen, sondern nur noch den Kampf aller
gegen alle kennen würde, ist ein Grenzfall, der nur in der Theorie, nicht in
der lebendigen Wirklichkeit des politischen Lebens seinen Ort hat. Ohne Zweifel
mußte'nach der Überspannung der Zentralisation, wie sie der Zarismus bedeutete,
der Pendel zunächst ins entgegengesetzte Extrem, eben in die absolute Anarchie
ausschlagen, um schließlich in irgendeiner einstweilen noch der Zukunft vorbe-
haltenen Mittellage zur Ruhe zu kommen. Um aber diesen Ort der endlichen
Ruhelage zu bestimmen, muß eine Reihe verschiedenartiger Kräfte in die Rechnung
eingestellt werden, die in ihrer Stärke schwer gegeneinander abzuschätzen sind.
Gewiß bedeutet der Nationalismus der unzähligen unterdrückten Einzelvölker
eine beträchtliche dezentralisierende Kraft. Bekanntlich ist es eine leider bei uns
noch ziemlich verbreitete Täuschung, die in Rußland einen geschlossenen National¬
staat steht. Die Liste der „Jnorodzy", der Fremdvölker Rußlands, weist'eine
lange Reihe von Namen auf. Da aber einerseits die völkisch-ethnologischen
und die sprachlich-nationalen Abgrenzungen sich nicht decken und vielfach durchaus
verfließen, da andererseits nach Osten zu die Reife zu staatlicher Sonderexistenz
immer mehr abnimmt, so ist eine durchgeführte Zergliederung Rußlands auf
dem Grundsatz des Nationalitätenprinzips eine innere Unmöglichkeit. Die
Anarchie der Nationen und Einzelstämme ist ebenso unhaltbar wie die Anarchie
der Einzelindividuen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/220>, abgerufen am 01.07.2024.