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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

Frieden hört dieser Vorteil auf. Denn wie soll mit einem Staate, der in
völliger Zersetzung befindlich, jeder einheitlichen Leitung beraubt ist, ein rechts¬
gültiger bestandhafter Friede geschlossen werden? Ein Friedensschluß ist doch
nicht ein bloßes Aufhören von militärischen Handlungen, sondern eine Einigung
über Machtabgrenzung und eine vertragliche Bindung an gegenseitige Leistungen
irgendwelcher Art. Ein solcher Friede aber kann nur zwischen zwei Staaten,
nicht zwischen einem Staat und einem chaotischen Wirrwarr moluskenhafter
Teilgewalten geschlossen werden. Gewiß könnten wir Teile eines solchen anarchi¬
schen Rußland, die wir militärisch bereits seit Jahren besetzt und friedlich
verwaltet haben, in irgendeiner staatsrechtlichen Form uns angliedern und
deren Grenzen gegen das Eindringen revolutionierender Banden schützen. Doch
schon der Austausch der Gefangenen, erst recht aber Ausgleiche auf wirtschaft¬
lichem Gebiet stoßen bei einer solchen Lage der Dinge auf unüberwindliche
Schwierigkeiten. Vollends unmöglich aber bleibt ein solches Verhältnis für den
nachfolgenden Friedenszustand. Wir brauchen Rußland einerseits als Absatz¬
markt, andererseits als Lieferanten. Dieses Aufeinanderangewiesensein muß sich
um so dringlicher bemerkbar machen, je mehr die Weltfrachtnot und der mög¬
licherweise fortdauernde Wirtschaftskrieg mit den westlichen Mächten, insbesondere
mit Amerika, die Zufuhr aus dem Westen erschweren wird. In dieser Hinsicht
also haben alle Vertreter der "östlichen Neuorientierung" vollkommen recht.
Die Frage, ob Nußland selber sich auf die Dauer den Zustand der Anarchie
Kisten kann, diese Frage dürfen wir mit Fug und Recht außer acht lassen.
Wir selber können uns nämlich die russische Anarchie nicht leisten. Und wenn
Rußland von sich aus den Ausweg aus diesen Wirren nicht finden sollte, so
könnten wir -- als äußerste Möglichkeit darf das nicht unerwogen bleiben! --
uns in absehbarer Zeit selber gezwungen sehen, ihm -- sei es im Guten oder
im Bösen, friedlich oder selbst unter Anwendung starker Druckmittel -- zu einer
Neuordnung und Gesundung auch seiner inneren Verhältnisse zu verhelfen.
Um nochmals auf das alte Bild zurückzukommen, nicht um des Nachbars,
sondern um unser selbst willen können wir auf die Dauer den Brand im
Nachbarhause nicht dulden.

Hier zeigt sich bereits, in welch unheimlichem Zirkel wir uns in unserem
Verhalten unserem östlichen Nachbar gegenüber bewegen. Gesundung ist immer
zugleich Erstarkung. Die Schwäche des Nachbarn hebt unsere Sicherheit, seine
Erstarkung gefährdet sie. So haben wir scheinbar allen Grund (es gibt Politiker,
die dafür eintreten), die politisch-wirtschaftliche Gesundung Rußlands hintanzu¬
halten. Aber ein übergreifendes Gesetz weltpolitischer und weltwirtschaftlicher
Solidarität von Nachbarreichen verwirft gerade im vorliegenden Falle diesen
moäus vivencli. Und so sehen wir uns in die eigentümliche Tragik verstrickt,
die Erstarkung des Nachbarn, die unzweifelhaft für uns eine Gefährdung ist,
trotz deutlicher Einsicht in diese Sachlage selber befördern zu müssen. Das ist
ein tüchtiger Schuß Wasser in den schäumenden Wein der "östlichen Neuorien-


Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft

Frieden hört dieser Vorteil auf. Denn wie soll mit einem Staate, der in
völliger Zersetzung befindlich, jeder einheitlichen Leitung beraubt ist, ein rechts¬
gültiger bestandhafter Friede geschlossen werden? Ein Friedensschluß ist doch
nicht ein bloßes Aufhören von militärischen Handlungen, sondern eine Einigung
über Machtabgrenzung und eine vertragliche Bindung an gegenseitige Leistungen
irgendwelcher Art. Ein solcher Friede aber kann nur zwischen zwei Staaten,
nicht zwischen einem Staat und einem chaotischen Wirrwarr moluskenhafter
Teilgewalten geschlossen werden. Gewiß könnten wir Teile eines solchen anarchi¬
schen Rußland, die wir militärisch bereits seit Jahren besetzt und friedlich
verwaltet haben, in irgendeiner staatsrechtlichen Form uns angliedern und
deren Grenzen gegen das Eindringen revolutionierender Banden schützen. Doch
schon der Austausch der Gefangenen, erst recht aber Ausgleiche auf wirtschaft¬
lichem Gebiet stoßen bei einer solchen Lage der Dinge auf unüberwindliche
Schwierigkeiten. Vollends unmöglich aber bleibt ein solches Verhältnis für den
nachfolgenden Friedenszustand. Wir brauchen Rußland einerseits als Absatz¬
markt, andererseits als Lieferanten. Dieses Aufeinanderangewiesensein muß sich
um so dringlicher bemerkbar machen, je mehr die Weltfrachtnot und der mög¬
licherweise fortdauernde Wirtschaftskrieg mit den westlichen Mächten, insbesondere
mit Amerika, die Zufuhr aus dem Westen erschweren wird. In dieser Hinsicht
also haben alle Vertreter der „östlichen Neuorientierung" vollkommen recht.
Die Frage, ob Nußland selber sich auf die Dauer den Zustand der Anarchie
Kisten kann, diese Frage dürfen wir mit Fug und Recht außer acht lassen.
Wir selber können uns nämlich die russische Anarchie nicht leisten. Und wenn
Rußland von sich aus den Ausweg aus diesen Wirren nicht finden sollte, so
könnten wir — als äußerste Möglichkeit darf das nicht unerwogen bleiben! —
uns in absehbarer Zeit selber gezwungen sehen, ihm — sei es im Guten oder
im Bösen, friedlich oder selbst unter Anwendung starker Druckmittel — zu einer
Neuordnung und Gesundung auch seiner inneren Verhältnisse zu verhelfen.
Um nochmals auf das alte Bild zurückzukommen, nicht um des Nachbars,
sondern um unser selbst willen können wir auf die Dauer den Brand im
Nachbarhause nicht dulden.

Hier zeigt sich bereits, in welch unheimlichem Zirkel wir uns in unserem
Verhalten unserem östlichen Nachbar gegenüber bewegen. Gesundung ist immer
zugleich Erstarkung. Die Schwäche des Nachbarn hebt unsere Sicherheit, seine
Erstarkung gefährdet sie. So haben wir scheinbar allen Grund (es gibt Politiker,
die dafür eintreten), die politisch-wirtschaftliche Gesundung Rußlands hintanzu¬
halten. Aber ein übergreifendes Gesetz weltpolitischer und weltwirtschaftlicher
Solidarität von Nachbarreichen verwirft gerade im vorliegenden Falle diesen
moäus vivencli. Und so sehen wir uns in die eigentümliche Tragik verstrickt,
die Erstarkung des Nachbarn, die unzweifelhaft für uns eine Gefährdung ist,
trotz deutlicher Einsicht in diese Sachlage selber befördern zu müssen. Das ist
ein tüchtiger Schuß Wasser in den schäumenden Wein der „östlichen Neuorien-


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[0219] Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft Frieden hört dieser Vorteil auf. Denn wie soll mit einem Staate, der in völliger Zersetzung befindlich, jeder einheitlichen Leitung beraubt ist, ein rechts¬ gültiger bestandhafter Friede geschlossen werden? Ein Friedensschluß ist doch nicht ein bloßes Aufhören von militärischen Handlungen, sondern eine Einigung über Machtabgrenzung und eine vertragliche Bindung an gegenseitige Leistungen irgendwelcher Art. Ein solcher Friede aber kann nur zwischen zwei Staaten, nicht zwischen einem Staat und einem chaotischen Wirrwarr moluskenhafter Teilgewalten geschlossen werden. Gewiß könnten wir Teile eines solchen anarchi¬ schen Rußland, die wir militärisch bereits seit Jahren besetzt und friedlich verwaltet haben, in irgendeiner staatsrechtlichen Form uns angliedern und deren Grenzen gegen das Eindringen revolutionierender Banden schützen. Doch schon der Austausch der Gefangenen, erst recht aber Ausgleiche auf wirtschaft¬ lichem Gebiet stoßen bei einer solchen Lage der Dinge auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Vollends unmöglich aber bleibt ein solches Verhältnis für den nachfolgenden Friedenszustand. Wir brauchen Rußland einerseits als Absatz¬ markt, andererseits als Lieferanten. Dieses Aufeinanderangewiesensein muß sich um so dringlicher bemerkbar machen, je mehr die Weltfrachtnot und der mög¬ licherweise fortdauernde Wirtschaftskrieg mit den westlichen Mächten, insbesondere mit Amerika, die Zufuhr aus dem Westen erschweren wird. In dieser Hinsicht also haben alle Vertreter der „östlichen Neuorientierung" vollkommen recht. Die Frage, ob Nußland selber sich auf die Dauer den Zustand der Anarchie Kisten kann, diese Frage dürfen wir mit Fug und Recht außer acht lassen. Wir selber können uns nämlich die russische Anarchie nicht leisten. Und wenn Rußland von sich aus den Ausweg aus diesen Wirren nicht finden sollte, so könnten wir — als äußerste Möglichkeit darf das nicht unerwogen bleiben! — uns in absehbarer Zeit selber gezwungen sehen, ihm — sei es im Guten oder im Bösen, friedlich oder selbst unter Anwendung starker Druckmittel — zu einer Neuordnung und Gesundung auch seiner inneren Verhältnisse zu verhelfen. Um nochmals auf das alte Bild zurückzukommen, nicht um des Nachbars, sondern um unser selbst willen können wir auf die Dauer den Brand im Nachbarhause nicht dulden. Hier zeigt sich bereits, in welch unheimlichem Zirkel wir uns in unserem Verhalten unserem östlichen Nachbar gegenüber bewegen. Gesundung ist immer zugleich Erstarkung. Die Schwäche des Nachbarn hebt unsere Sicherheit, seine Erstarkung gefährdet sie. So haben wir scheinbar allen Grund (es gibt Politiker, die dafür eintreten), die politisch-wirtschaftliche Gesundung Rußlands hintanzu¬ halten. Aber ein übergreifendes Gesetz weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Solidarität von Nachbarreichen verwirft gerade im vorliegenden Falle diesen moäus vivencli. Und so sehen wir uns in die eigentümliche Tragik verstrickt, die Erstarkung des Nachbarn, die unzweifelhaft für uns eine Gefährdung ist, trotz deutlicher Einsicht in diese Sachlage selber befördern zu müssen. Das ist ein tüchtiger Schuß Wasser in den schäumenden Wein der „östlichen Neuorien-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/219>, abgerufen am 01.07.2024.