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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft
von Hadubert

oweit ich sehe, lassen sich drei große Lösungsmöglichkeiten für die
russische Krise feststellen, zwischen denen die Entscheidung unsicher
schwankt. Diese drei gilt es scharf ins Auge zu fassen, das Für
und Wider ihrer Wahrscheinlichkeit abzuwägen und ihren Einfluß
auf die Geschicke Deutschlands und Mitteleuropas zu prüfen:
das sind Fortbestehen der Anarchie, Verfestigung eines neuartigen föderalistischen
Demokratismus, Wiederkehr einer Tnrannis. Das eben macht ja die Unent-
wirrbarkeit der russischen Geschehnisse aus, daß alle drei Tendenzen bereits
bemerkbar sind, daß die russischen Geschicke von widerstreitenden Kräften hin
und hergerissen werden, die bereits in dieser dreifachen Richtung am Werke
sind. Begäbe sich dies Schauspiel etwa auf dem Mars und wir ständen als
unbeteiligte Zuschauer an unseren Fernrohren, dann freilich könnten wir uns
die Zeit mit einfachen Prognosen vertreiben und wie der Snob auf der Renn¬
bahn auf dies oder jenes Roß setzen. Aber dies Schauspiel verläuft nicht auf
dem Monde, sondern an der Peripherie Europas und direkt an den Grenzen
unseres Vaterlandes. Ein unmittelbares Lebensinteresse weist uns deshalb
darauf, nach unseren Kräften die eine oder andere Richtung zu stützen und zu
fördern. Nicht schulmeisternde Überheblichkeit, wie Wilsons Dreinreden in die
innerdeutschen Verfassungsfragen, sondern ernste und wohlbegründete Sorge um
den eigenen Fortbestand treibt uns mit unerbittlicher Notwendigkeit, zu den
russischen Möglichkeiten nicht rein als Zuschauer theoretisch, sondern als Mit-
interessierte praktisch Stellung zu nehmen. Wie mein Nachbar die Möbel in
seiner Wohnung stellt, kann mir gleichgültig sein und ich habe ihm da nichts drein¬
zureden. Wenn es aber bei ihm brennt und er selbst denkt nicht ans Löschen,
dann hat das nachbarliche Geschehenlassen ein Ende. Unter diesem Gesichts¬
winkel müssen wir den Gang der Ereignisse im benachbarten Rußland auffassen.
Insbesondere aber gilt das für den zuerst genannten Fall: für das Fortdauern
der Anarchie.

Ohne Zweifel kommt eine fortschreitende Anarchie uns zugute, solange der
Krieg währt. Sie lähmt die Widerstandsfähigkeit und vollends die Offensivkraft
Rußlands und macht bei uns Kräfte frei, die sich gegen die vorerst militärisch
gefährlicheren Feinde im Westen richten können. Aber schon bei nahenden




Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft
von Hadubert

oweit ich sehe, lassen sich drei große Lösungsmöglichkeiten für die
russische Krise feststellen, zwischen denen die Entscheidung unsicher
schwankt. Diese drei gilt es scharf ins Auge zu fassen, das Für
und Wider ihrer Wahrscheinlichkeit abzuwägen und ihren Einfluß
auf die Geschicke Deutschlands und Mitteleuropas zu prüfen:
das sind Fortbestehen der Anarchie, Verfestigung eines neuartigen föderalistischen
Demokratismus, Wiederkehr einer Tnrannis. Das eben macht ja die Unent-
wirrbarkeit der russischen Geschehnisse aus, daß alle drei Tendenzen bereits
bemerkbar sind, daß die russischen Geschicke von widerstreitenden Kräften hin
und hergerissen werden, die bereits in dieser dreifachen Richtung am Werke
sind. Begäbe sich dies Schauspiel etwa auf dem Mars und wir ständen als
unbeteiligte Zuschauer an unseren Fernrohren, dann freilich könnten wir uns
die Zeit mit einfachen Prognosen vertreiben und wie der Snob auf der Renn¬
bahn auf dies oder jenes Roß setzen. Aber dies Schauspiel verläuft nicht auf
dem Monde, sondern an der Peripherie Europas und direkt an den Grenzen
unseres Vaterlandes. Ein unmittelbares Lebensinteresse weist uns deshalb
darauf, nach unseren Kräften die eine oder andere Richtung zu stützen und zu
fördern. Nicht schulmeisternde Überheblichkeit, wie Wilsons Dreinreden in die
innerdeutschen Verfassungsfragen, sondern ernste und wohlbegründete Sorge um
den eigenen Fortbestand treibt uns mit unerbittlicher Notwendigkeit, zu den
russischen Möglichkeiten nicht rein als Zuschauer theoretisch, sondern als Mit-
interessierte praktisch Stellung zu nehmen. Wie mein Nachbar die Möbel in
seiner Wohnung stellt, kann mir gleichgültig sein und ich habe ihm da nichts drein¬
zureden. Wenn es aber bei ihm brennt und er selbst denkt nicht ans Löschen,
dann hat das nachbarliche Geschehenlassen ein Ende. Unter diesem Gesichts¬
winkel müssen wir den Gang der Ereignisse im benachbarten Rußland auffassen.
Insbesondere aber gilt das für den zuerst genannten Fall: für das Fortdauern
der Anarchie.

Ohne Zweifel kommt eine fortschreitende Anarchie uns zugute, solange der
Krieg währt. Sie lähmt die Widerstandsfähigkeit und vollends die Offensivkraft
Rußlands und macht bei uns Kräfte frei, die sich gegen die vorerst militärisch
gefährlicheren Feinde im Westen richten können. Aber schon bei nahenden


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[0218] [Abbildung] Russische Möglichkeiten und deutsche Zukunft von Hadubert oweit ich sehe, lassen sich drei große Lösungsmöglichkeiten für die russische Krise feststellen, zwischen denen die Entscheidung unsicher schwankt. Diese drei gilt es scharf ins Auge zu fassen, das Für und Wider ihrer Wahrscheinlichkeit abzuwägen und ihren Einfluß auf die Geschicke Deutschlands und Mitteleuropas zu prüfen: das sind Fortbestehen der Anarchie, Verfestigung eines neuartigen föderalistischen Demokratismus, Wiederkehr einer Tnrannis. Das eben macht ja die Unent- wirrbarkeit der russischen Geschehnisse aus, daß alle drei Tendenzen bereits bemerkbar sind, daß die russischen Geschicke von widerstreitenden Kräften hin und hergerissen werden, die bereits in dieser dreifachen Richtung am Werke sind. Begäbe sich dies Schauspiel etwa auf dem Mars und wir ständen als unbeteiligte Zuschauer an unseren Fernrohren, dann freilich könnten wir uns die Zeit mit einfachen Prognosen vertreiben und wie der Snob auf der Renn¬ bahn auf dies oder jenes Roß setzen. Aber dies Schauspiel verläuft nicht auf dem Monde, sondern an der Peripherie Europas und direkt an den Grenzen unseres Vaterlandes. Ein unmittelbares Lebensinteresse weist uns deshalb darauf, nach unseren Kräften die eine oder andere Richtung zu stützen und zu fördern. Nicht schulmeisternde Überheblichkeit, wie Wilsons Dreinreden in die innerdeutschen Verfassungsfragen, sondern ernste und wohlbegründete Sorge um den eigenen Fortbestand treibt uns mit unerbittlicher Notwendigkeit, zu den russischen Möglichkeiten nicht rein als Zuschauer theoretisch, sondern als Mit- interessierte praktisch Stellung zu nehmen. Wie mein Nachbar die Möbel in seiner Wohnung stellt, kann mir gleichgültig sein und ich habe ihm da nichts drein¬ zureden. Wenn es aber bei ihm brennt und er selbst denkt nicht ans Löschen, dann hat das nachbarliche Geschehenlassen ein Ende. Unter diesem Gesichts¬ winkel müssen wir den Gang der Ereignisse im benachbarten Rußland auffassen. Insbesondere aber gilt das für den zuerst genannten Fall: für das Fortdauern der Anarchie. Ohne Zweifel kommt eine fortschreitende Anarchie uns zugute, solange der Krieg währt. Sie lähmt die Widerstandsfähigkeit und vollends die Offensivkraft Rußlands und macht bei uns Kräfte frei, die sich gegen die vorerst militärisch gefährlicheren Feinde im Westen richten können. Aber schon bei nahenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/218>, abgerufen am 01.07.2024.