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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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wohin geht die Reise?

angebliche Furcht, wir könnten unseren Feinden Wissenschaften zutragen, die ihnen
Gelegenheit gäben, uns militärisch zu schädigen! Wer von unseren Führern
heute im vierten Kriegsjahre glaubt noch an diesen Gründen gegenüber der
deutschen Öffentlichkeit festhalten zu sollen, müßte sich auch damit abfinden,
einen erheblichen Teil des Vertrauens zu verlieren. Unsere Beziehungen zu
einem Reiche, mit dem wir bereit sind, in die denkbar engsten wirtschaftlichen
und staatlichen Bindungen einzutreten, können nach drei Jahren freundschaft¬
lichster Hingabe aneinander nicht mehr als politische Geheimwissenschaft be¬
handelt werden.

Ähnlich steht es mit der Polenfrage: Wer es vor dem Kriege noch
nicht wußte, der hat es in den drei Kriegsjahren jedenfalls begriffen, daß
"le Polen, obwohl sie keinen eigenen Staat besaßen, in den letzten fünfzehn
Jahren, besonders aber nach der russischen Revolution von 1905/7 über die
ganze Welt hin ein feinmaschiges Netz diplomatischer Agenten, Nachrichten¬
sammler und -Verbreiter gewebt haben, betriebsamer und einflußreicher, wie
unser kostspieliger und anmaßlicher Diplomatendienst es vermochte. Schon vor
dem Kriege gab es keinen geistig irgendwie bedeutsamen Mittelpunkt in Europa
und Amerika, wo nicht polnische Komitees unter irgend einem Namen politisch
wirkten, gab es keine politische Frage von einiger Bedeutung, die nicht auf
ihren Zusammenhang mit der polnischen untersucht wurde. Wer wissen wollte,
wie weit ab oder wie nahe heran der Weltkrieg gekommen, der brauchte
nur die polnische Literatur über Kriegsmöglichkeiten zu verfolgen. Diese
Literatur war trotz vielen gemeinen Klatsches, der durch sie aus allen
Dienerstuben zusammen getragen wurde, in ihren zusammenfassenden Er¬
scheinungen gerade für uns Eingekreisten von hervorragender Bedeutung. So
ist z. B. nirgends in der politischen Literatur die Notwendigkeit des Zusammen-
vralls der deutschen und englischen Wirtschaftsbelänge so frühzeitig und auch
so scharf herausgearbeitet worden wie durch die polnische Publizistik.
Die Polen haben sich als allpolnische Nationalisten, als Ultramontane. Frei¬
maurer, Sozialisten, als Juden, Panslawisten. Wirtschaftler, Philosophen und
Pädagogen mit dieser Frage intensiv beschäftigt und einen Meinungsaustausch
über die ganze Welt gepflogen. Natürlich nicht aus Mitleid für die Millionen
Opfer der möglichen Katastrophe, sondern in kalter, klarer Berechnung aller
Chancen, die für sie, für ihre heimlich und offen genährten Ideale dabei zutage
treten mochten. Die Polen waren aus den Ausbruch des Weltkrieges vor¬
bereitet wie vielleicht kein anderes Volk, mit Einschluß der Engländer! Die
aus zehn- und mehrjähriger Zusammenarbeit über die ganze Welt hin ent¬
standenen Zusammenhänge wurden durch den Krieg nicht nur nicht zerrissen,
sondern erst recht gestärkt: die bis dahin kümmerlich vom nationalen Idealismus
lebenden Organe erhielten nun plötzlich für die Entente, deren Sieg den Polen
die Erreichung ihrer Ideale bringen sollte, eine solche praktische Bedeutung,
daß es sich lohnte, sie materiell und moralisch auf das wirksamste zu unter-


wohin geht die Reise?

angebliche Furcht, wir könnten unseren Feinden Wissenschaften zutragen, die ihnen
Gelegenheit gäben, uns militärisch zu schädigen! Wer von unseren Führern
heute im vierten Kriegsjahre glaubt noch an diesen Gründen gegenüber der
deutschen Öffentlichkeit festhalten zu sollen, müßte sich auch damit abfinden,
einen erheblichen Teil des Vertrauens zu verlieren. Unsere Beziehungen zu
einem Reiche, mit dem wir bereit sind, in die denkbar engsten wirtschaftlichen
und staatlichen Bindungen einzutreten, können nach drei Jahren freundschaft¬
lichster Hingabe aneinander nicht mehr als politische Geheimwissenschaft be¬
handelt werden.

Ähnlich steht es mit der Polenfrage: Wer es vor dem Kriege noch
nicht wußte, der hat es in den drei Kriegsjahren jedenfalls begriffen, daß
»le Polen, obwohl sie keinen eigenen Staat besaßen, in den letzten fünfzehn
Jahren, besonders aber nach der russischen Revolution von 1905/7 über die
ganze Welt hin ein feinmaschiges Netz diplomatischer Agenten, Nachrichten¬
sammler und -Verbreiter gewebt haben, betriebsamer und einflußreicher, wie
unser kostspieliger und anmaßlicher Diplomatendienst es vermochte. Schon vor
dem Kriege gab es keinen geistig irgendwie bedeutsamen Mittelpunkt in Europa
und Amerika, wo nicht polnische Komitees unter irgend einem Namen politisch
wirkten, gab es keine politische Frage von einiger Bedeutung, die nicht auf
ihren Zusammenhang mit der polnischen untersucht wurde. Wer wissen wollte,
wie weit ab oder wie nahe heran der Weltkrieg gekommen, der brauchte
nur die polnische Literatur über Kriegsmöglichkeiten zu verfolgen. Diese
Literatur war trotz vielen gemeinen Klatsches, der durch sie aus allen
Dienerstuben zusammen getragen wurde, in ihren zusammenfassenden Er¬
scheinungen gerade für uns Eingekreisten von hervorragender Bedeutung. So
ist z. B. nirgends in der politischen Literatur die Notwendigkeit des Zusammen-
vralls der deutschen und englischen Wirtschaftsbelänge so frühzeitig und auch
so scharf herausgearbeitet worden wie durch die polnische Publizistik.
Die Polen haben sich als allpolnische Nationalisten, als Ultramontane. Frei¬
maurer, Sozialisten, als Juden, Panslawisten. Wirtschaftler, Philosophen und
Pädagogen mit dieser Frage intensiv beschäftigt und einen Meinungsaustausch
über die ganze Welt gepflogen. Natürlich nicht aus Mitleid für die Millionen
Opfer der möglichen Katastrophe, sondern in kalter, klarer Berechnung aller
Chancen, die für sie, für ihre heimlich und offen genährten Ideale dabei zutage
treten mochten. Die Polen waren aus den Ausbruch des Weltkrieges vor¬
bereitet wie vielleicht kein anderes Volk, mit Einschluß der Engländer! Die
aus zehn- und mehrjähriger Zusammenarbeit über die ganze Welt hin ent¬
standenen Zusammenhänge wurden durch den Krieg nicht nur nicht zerrissen,
sondern erst recht gestärkt: die bis dahin kümmerlich vom nationalen Idealismus
lebenden Organe erhielten nun plötzlich für die Entente, deren Sieg den Polen
die Erreichung ihrer Ideale bringen sollte, eine solche praktische Bedeutung,
daß es sich lohnte, sie materiell und moralisch auf das wirksamste zu unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/215>, abgerufen am 01.07.2024.