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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Wohin geht die Reise?
von Georg Llcinow

eit fast vier Wochen ist an die Stelle des fünften Reichskanzlers
ein sechster getreten. Zeit und Umstände des Abganges Herrn
von Bethmann Hollwegs sicherten dem neuen Mann am Reichs¬
steuer von vornherein eine Aufnahme in der deutschen politischen
Welt, wie sie selbst Fürst Bülow, der geschmeidige und liebens¬
würdige Diplomat nicht fand, als er seinerzeit den greisen Fürsten Chlodewig
ablöste. Inzwischen hat Herr I)r. Michaelis sich im Reichstage eingeführt, seine
dringendsten Antrittsbesuche abgestattet, hat sich in München, Dresden und Wien
vorgestellt und -- sich in Reden und Gesprächen über mancherlei geäußert, was
uns auf der Seele brennt. Natürlich noch nicht über alles. Durch sein Auf¬
treten hat er den guten Eindruck, den wir vorher von ihm hatten, vertieft,
mehr aber auch nicht: parteibildend hat er bisher nicht gewirkt, wenn auch
von verschiedenen Seiten versucht wird, ein bestimmtes Programm in ihn hinein¬
zudenken.

Wer des sechsten Kanzlers Auftreten mit einiger Unbefangenheit betrachtet
und auch bereit ist, das Ergebnis solcher Betrachtung ohne Rücksicht auf
Parteiwünsche in der Presse darzustellen, der wird zugeben, daß nichts, aber
auch gar nichts zu der Annahme berechtigt, das Programm des Herrn
L>r. Michaelis könnte ein anderes sein als das, dem sein viel geschmähter Vor-
sänger gedient hat: in der auswärtigen Politik Bereitschaft zum Verständigungs¬
frieden und in der inneren Wahlrechtsreform für Preußen, Heranziehung von
bewährten Männern des Parlaments zur praktischen Mitarbeit im Regierungs-
geschäft. Die Schnelligkeit, mit der die Personalfragen in diesem Zusammen¬
hange erledigt worden sind, ebenso wie die schnelle Vorbereitung der Teilung
im Neichsamt des Innern und die Reform des Kriegsernährungswesens,
das alles zeigt zwar einen neuen Stil, spricht auch für einen
tatkräftigen, zu kurzem Entschluß fähigen Charakter, läßt aber auch die Auf¬
fassung zutreffend erscheinen, daß alles schon von langer Hand durch Herrn
von Bethmann Hollweg und seine Leute vorbereitet war, daß somit Herrn
L>r. Michaelis in erster Linie obliegt, für die von seinem Vorgänger eingeleiteten
Reformen das Einverständnis des Reichstages zu erhalten, das Herrn von Beth¬
wann Hollweg kaum beschieden worden wäre, weil er nach Meinung der
Konservativen zu viel, nach der der Demokraten zu wenig brachte.




Wohin geht die Reise?
von Georg Llcinow

eit fast vier Wochen ist an die Stelle des fünften Reichskanzlers
ein sechster getreten. Zeit und Umstände des Abganges Herrn
von Bethmann Hollwegs sicherten dem neuen Mann am Reichs¬
steuer von vornherein eine Aufnahme in der deutschen politischen
Welt, wie sie selbst Fürst Bülow, der geschmeidige und liebens¬
würdige Diplomat nicht fand, als er seinerzeit den greisen Fürsten Chlodewig
ablöste. Inzwischen hat Herr I)r. Michaelis sich im Reichstage eingeführt, seine
dringendsten Antrittsbesuche abgestattet, hat sich in München, Dresden und Wien
vorgestellt und — sich in Reden und Gesprächen über mancherlei geäußert, was
uns auf der Seele brennt. Natürlich noch nicht über alles. Durch sein Auf¬
treten hat er den guten Eindruck, den wir vorher von ihm hatten, vertieft,
mehr aber auch nicht: parteibildend hat er bisher nicht gewirkt, wenn auch
von verschiedenen Seiten versucht wird, ein bestimmtes Programm in ihn hinein¬
zudenken.

Wer des sechsten Kanzlers Auftreten mit einiger Unbefangenheit betrachtet
und auch bereit ist, das Ergebnis solcher Betrachtung ohne Rücksicht auf
Parteiwünsche in der Presse darzustellen, der wird zugeben, daß nichts, aber
auch gar nichts zu der Annahme berechtigt, das Programm des Herrn
L>r. Michaelis könnte ein anderes sein als das, dem sein viel geschmähter Vor-
sänger gedient hat: in der auswärtigen Politik Bereitschaft zum Verständigungs¬
frieden und in der inneren Wahlrechtsreform für Preußen, Heranziehung von
bewährten Männern des Parlaments zur praktischen Mitarbeit im Regierungs-
geschäft. Die Schnelligkeit, mit der die Personalfragen in diesem Zusammen¬
hange erledigt worden sind, ebenso wie die schnelle Vorbereitung der Teilung
im Neichsamt des Innern und die Reform des Kriegsernährungswesens,
das alles zeigt zwar einen neuen Stil, spricht auch für einen
tatkräftigen, zu kurzem Entschluß fähigen Charakter, läßt aber auch die Auf¬
fassung zutreffend erscheinen, daß alles schon von langer Hand durch Herrn
von Bethmann Hollweg und seine Leute vorbereitet war, daß somit Herrn
L>r. Michaelis in erster Linie obliegt, für die von seinem Vorgänger eingeleiteten
Reformen das Einverständnis des Reichstages zu erhalten, das Herrn von Beth¬
wann Hollweg kaum beschieden worden wäre, weil er nach Meinung der
Konservativen zu viel, nach der der Demokraten zu wenig brachte.


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[0213] [Abbildung] Wohin geht die Reise? von Georg Llcinow eit fast vier Wochen ist an die Stelle des fünften Reichskanzlers ein sechster getreten. Zeit und Umstände des Abganges Herrn von Bethmann Hollwegs sicherten dem neuen Mann am Reichs¬ steuer von vornherein eine Aufnahme in der deutschen politischen Welt, wie sie selbst Fürst Bülow, der geschmeidige und liebens¬ würdige Diplomat nicht fand, als er seinerzeit den greisen Fürsten Chlodewig ablöste. Inzwischen hat Herr I)r. Michaelis sich im Reichstage eingeführt, seine dringendsten Antrittsbesuche abgestattet, hat sich in München, Dresden und Wien vorgestellt und — sich in Reden und Gesprächen über mancherlei geäußert, was uns auf der Seele brennt. Natürlich noch nicht über alles. Durch sein Auf¬ treten hat er den guten Eindruck, den wir vorher von ihm hatten, vertieft, mehr aber auch nicht: parteibildend hat er bisher nicht gewirkt, wenn auch von verschiedenen Seiten versucht wird, ein bestimmtes Programm in ihn hinein¬ zudenken. Wer des sechsten Kanzlers Auftreten mit einiger Unbefangenheit betrachtet und auch bereit ist, das Ergebnis solcher Betrachtung ohne Rücksicht auf Parteiwünsche in der Presse darzustellen, der wird zugeben, daß nichts, aber auch gar nichts zu der Annahme berechtigt, das Programm des Herrn L>r. Michaelis könnte ein anderes sein als das, dem sein viel geschmähter Vor- sänger gedient hat: in der auswärtigen Politik Bereitschaft zum Verständigungs¬ frieden und in der inneren Wahlrechtsreform für Preußen, Heranziehung von bewährten Männern des Parlaments zur praktischen Mitarbeit im Regierungs- geschäft. Die Schnelligkeit, mit der die Personalfragen in diesem Zusammen¬ hange erledigt worden sind, ebenso wie die schnelle Vorbereitung der Teilung im Neichsamt des Innern und die Reform des Kriegsernährungswesens, das alles zeigt zwar einen neuen Stil, spricht auch für einen tatkräftigen, zu kurzem Entschluß fähigen Charakter, läßt aber auch die Auf¬ fassung zutreffend erscheinen, daß alles schon von langer Hand durch Herrn von Bethmann Hollweg und seine Leute vorbereitet war, daß somit Herrn L>r. Michaelis in erster Linie obliegt, für die von seinem Vorgänger eingeleiteten Reformen das Einverständnis des Reichstages zu erhalten, das Herrn von Beth¬ wann Hollweg kaum beschieden worden wäre, weil er nach Meinung der Konservativen zu viel, nach der der Demokraten zu wenig brachte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/213>, abgerufen am 01.07.2024.