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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der Kurs des neuen Kanzlers

in die ganze Struktur des Reiches und der Einzelstaaten einschneidende, noch
keineswegs genügend geklärte, auch innerhalb der Parteien -- es sei nur an
die höchst widerspruchsvolle Haltung des Zentrums und der nationalliberalen
Partei erinnert -- nicht geklärte Frage der Parlamentarisierung nicht zu hastig
und überstürzt, am wenigsten nach der Parole alles oder nichts vorgehen sollte.
Wie verhängnisvoll diese Parole ist, sollten namentlich unsere Linksparteien in
den Tagen der großen Regierungskrise erkannt haben, wo sie die goldenen
Äpfel der Parlamentarisierung mit einem Male vom Baume herunterschütteln
wollten, ohne -- neben dem Sturze des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg --
etwas anderes zu erreichen, als daß durch das Tohuwabohu der, damaligen
Vorgänge weite Kreise unseres Volkes gründlich in dem Zweifel bestärkt worden
sind, ob unsere politischen Parteien bei ihrer Zersplitterung und Zerklüftung,
nicht bloß untereinander, sondern bis in die eigenen Reihen hinein, reif für
den Parlamentarismus seien. Hat doch selbst ein sozialdemokratischer Schrift¬
steller wie Wilhelm Jansson in der "Glocke" vom 28. Juli bei einem Rückblick
auf bis Regierungskrise die Frage, ob es für Deutschland sonderlich besser
gewesen wäre, wenn wir das parlamentarische System nach dem Muster der
westlichen Demokratien gehabt hätten, glatt verneint. Jansson ist unbefangen
genug, um ohne weiteres anzuerkennen, daß das parlamentarische System dieser
westlichen Demokratien alles andere als demokratisch sei, und daß seine gedanken¬
lose Übertragung auf deutsche Verhältnisse nicht etwa das sei, was der deutschen
Demokratie frommen könne. Wenn Jansson hinzufügt: "Sobald sich der
Reichstag und der demokratisierte preußische Landtag imstande zeigen, eine ent¬
schlossene Mehrheit zu bilden und sie auf ein Aktionsprogramm zu vereinigen,
dann haben sie die Macht, die sie brauchen", so trifft das den Nagel auf den
Kopf. Ist erst das gleiche Wahlrecht in Preußen durchgeführt, sind dadurch
die Verhältnisse zwischen Preußen und dem Reich einigermaßen ausgeglichen,
dann wird es an der Zeit sein, eine echt deutsche Parlamentarisierung durch¬
zuführen. Jetzt, das war Herrn von Bethmann Hollwegs Auffassung, das ist
offenbar erst recht Herrn or. Michaelis' Ansicht, läßt sich gerade diese Frage
nicht über das Knie brechen; hier sollte man sich vorerst mit der schrittweisen
Anbahnung eines näheren Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament
und mit der größeren Berücksichtigung des parlamentarischen Elements bei
Ministervakanzen begnügen.

In letzterer Hinsicht hat der Reichskanzler ja den ersten Schritt durch die
Ernennung des Oberlandesgerichtspräsidenten spähn zum preußischen Justiz¬
minister und des Geheimen Justizrath von Krause zum Staatssekretär des
Reichsjustizamts getan. Es ist ja nicht das erstemal, daß hervorragende Parla¬
mentarier zu Ministern berufen wären; man erinnere sich nur des Landwirt¬
schaftsministers Lucius, der Finanzmimster Hobrecht und Miquel; auch Bennigsen
ist bekanntlich von Bismarck 1877 ein Portefeuille angetragen worden. Das
erstemal aber ist es, daß ein Führer des Zentrums in die Regierung eingetreten


Der Kurs des neuen Kanzlers

in die ganze Struktur des Reiches und der Einzelstaaten einschneidende, noch
keineswegs genügend geklärte, auch innerhalb der Parteien — es sei nur an
die höchst widerspruchsvolle Haltung des Zentrums und der nationalliberalen
Partei erinnert — nicht geklärte Frage der Parlamentarisierung nicht zu hastig
und überstürzt, am wenigsten nach der Parole alles oder nichts vorgehen sollte.
Wie verhängnisvoll diese Parole ist, sollten namentlich unsere Linksparteien in
den Tagen der großen Regierungskrise erkannt haben, wo sie die goldenen
Äpfel der Parlamentarisierung mit einem Male vom Baume herunterschütteln
wollten, ohne — neben dem Sturze des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg —
etwas anderes zu erreichen, als daß durch das Tohuwabohu der, damaligen
Vorgänge weite Kreise unseres Volkes gründlich in dem Zweifel bestärkt worden
sind, ob unsere politischen Parteien bei ihrer Zersplitterung und Zerklüftung,
nicht bloß untereinander, sondern bis in die eigenen Reihen hinein, reif für
den Parlamentarismus seien. Hat doch selbst ein sozialdemokratischer Schrift¬
steller wie Wilhelm Jansson in der „Glocke" vom 28. Juli bei einem Rückblick
auf bis Regierungskrise die Frage, ob es für Deutschland sonderlich besser
gewesen wäre, wenn wir das parlamentarische System nach dem Muster der
westlichen Demokratien gehabt hätten, glatt verneint. Jansson ist unbefangen
genug, um ohne weiteres anzuerkennen, daß das parlamentarische System dieser
westlichen Demokratien alles andere als demokratisch sei, und daß seine gedanken¬
lose Übertragung auf deutsche Verhältnisse nicht etwa das sei, was der deutschen
Demokratie frommen könne. Wenn Jansson hinzufügt: „Sobald sich der
Reichstag und der demokratisierte preußische Landtag imstande zeigen, eine ent¬
schlossene Mehrheit zu bilden und sie auf ein Aktionsprogramm zu vereinigen,
dann haben sie die Macht, die sie brauchen", so trifft das den Nagel auf den
Kopf. Ist erst das gleiche Wahlrecht in Preußen durchgeführt, sind dadurch
die Verhältnisse zwischen Preußen und dem Reich einigermaßen ausgeglichen,
dann wird es an der Zeit sein, eine echt deutsche Parlamentarisierung durch¬
zuführen. Jetzt, das war Herrn von Bethmann Hollwegs Auffassung, das ist
offenbar erst recht Herrn or. Michaelis' Ansicht, läßt sich gerade diese Frage
nicht über das Knie brechen; hier sollte man sich vorerst mit der schrittweisen
Anbahnung eines näheren Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament
und mit der größeren Berücksichtigung des parlamentarischen Elements bei
Ministervakanzen begnügen.

In letzterer Hinsicht hat der Reichskanzler ja den ersten Schritt durch die
Ernennung des Oberlandesgerichtspräsidenten spähn zum preußischen Justiz¬
minister und des Geheimen Justizrath von Krause zum Staatssekretär des
Reichsjustizamts getan. Es ist ja nicht das erstemal, daß hervorragende Parla¬
mentarier zu Ministern berufen wären; man erinnere sich nur des Landwirt¬
schaftsministers Lucius, der Finanzmimster Hobrecht und Miquel; auch Bennigsen
ist bekanntlich von Bismarck 1877 ein Portefeuille angetragen worden. Das
erstemal aber ist es, daß ein Führer des Zentrums in die Regierung eingetreten


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[0210] Der Kurs des neuen Kanzlers in die ganze Struktur des Reiches und der Einzelstaaten einschneidende, noch keineswegs genügend geklärte, auch innerhalb der Parteien — es sei nur an die höchst widerspruchsvolle Haltung des Zentrums und der nationalliberalen Partei erinnert — nicht geklärte Frage der Parlamentarisierung nicht zu hastig und überstürzt, am wenigsten nach der Parole alles oder nichts vorgehen sollte. Wie verhängnisvoll diese Parole ist, sollten namentlich unsere Linksparteien in den Tagen der großen Regierungskrise erkannt haben, wo sie die goldenen Äpfel der Parlamentarisierung mit einem Male vom Baume herunterschütteln wollten, ohne — neben dem Sturze des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg — etwas anderes zu erreichen, als daß durch das Tohuwabohu der, damaligen Vorgänge weite Kreise unseres Volkes gründlich in dem Zweifel bestärkt worden sind, ob unsere politischen Parteien bei ihrer Zersplitterung und Zerklüftung, nicht bloß untereinander, sondern bis in die eigenen Reihen hinein, reif für den Parlamentarismus seien. Hat doch selbst ein sozialdemokratischer Schrift¬ steller wie Wilhelm Jansson in der „Glocke" vom 28. Juli bei einem Rückblick auf bis Regierungskrise die Frage, ob es für Deutschland sonderlich besser gewesen wäre, wenn wir das parlamentarische System nach dem Muster der westlichen Demokratien gehabt hätten, glatt verneint. Jansson ist unbefangen genug, um ohne weiteres anzuerkennen, daß das parlamentarische System dieser westlichen Demokratien alles andere als demokratisch sei, und daß seine gedanken¬ lose Übertragung auf deutsche Verhältnisse nicht etwa das sei, was der deutschen Demokratie frommen könne. Wenn Jansson hinzufügt: „Sobald sich der Reichstag und der demokratisierte preußische Landtag imstande zeigen, eine ent¬ schlossene Mehrheit zu bilden und sie auf ein Aktionsprogramm zu vereinigen, dann haben sie die Macht, die sie brauchen", so trifft das den Nagel auf den Kopf. Ist erst das gleiche Wahlrecht in Preußen durchgeführt, sind dadurch die Verhältnisse zwischen Preußen und dem Reich einigermaßen ausgeglichen, dann wird es an der Zeit sein, eine echt deutsche Parlamentarisierung durch¬ zuführen. Jetzt, das war Herrn von Bethmann Hollwegs Auffassung, das ist offenbar erst recht Herrn or. Michaelis' Ansicht, läßt sich gerade diese Frage nicht über das Knie brechen; hier sollte man sich vorerst mit der schrittweisen Anbahnung eines näheren Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament und mit der größeren Berücksichtigung des parlamentarischen Elements bei Ministervakanzen begnügen. In letzterer Hinsicht hat der Reichskanzler ja den ersten Schritt durch die Ernennung des Oberlandesgerichtspräsidenten spähn zum preußischen Justiz¬ minister und des Geheimen Justizrath von Krause zum Staatssekretär des Reichsjustizamts getan. Es ist ja nicht das erstemal, daß hervorragende Parla¬ mentarier zu Ministern berufen wären; man erinnere sich nur des Landwirt¬ schaftsministers Lucius, der Finanzmimster Hobrecht und Miquel; auch Bennigsen ist bekanntlich von Bismarck 1877 ein Portefeuille angetragen worden. Das erstemal aber ist es, daß ein Führer des Zentrums in die Regierung eingetreten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/210>, abgerufen am 30.06.2024.