Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
DerBegriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne

Ganz offen gesteht Kolbe jedoch ein, daß über die Kämpfe der Armee
Haujen weder von deutscher noch von französischer Seite ausreichende Berichte
vorliegen. Doch betont er und beweist es aus französischen Quellen, daß der
Rückzug, den Hausen nach anfänglichen Erfolgen antrat, durchaus methodisch
vor sich ging und nicht in übereilte Flucht ausartete.

Den Abschluß der Kolbeschen Darstellung bildete die Schilderung der
Kämpfe auf dem linken Flügel. Besonders die Erfolge der kronprinzlichen
Armee werden in volles Licht gerückt. Hier stand als Gegner der später in
ganz anderer Gegend hervorgetretene General Sarrail, der von Verdun aus
die Operationen leitete. Auf diesem Flügel hat die deutsche Offensive fast
überall ungebrochene Erfolge aufzuweisen, hier hielt sie noch auf weit vorge¬
schobenem Posten ungefährdet stand, als schon lange die anderen Armeen den
strategischen Rückzug begonnen hatten, und unbesiegt ist die sünfte Armee erst
am 12. September zurückgegangen, um mit den anderen Armeen in Fühlung
zu bleiben. --




Das also ist die berühmte Schlacht an der Marne! Und was war der
greifbare Erfolg der Gegner? Der englische Berichterstatter spricht von sieben¬
tausend bis achttausend Gefangenen und meint, es seien ebensoviel Tote und
Verwundete auf deutscher Seite gewesen. Bedenkt man nun, daß auch auf
deutscher Seite mehrere Tausend Gefangene gemacht sind, daß überall die Ver¬
folgung erst einige Tage später zustande kam. so ist das für einen großen Sieg
der französischen Heere nicht sehr beweisend. Und daß das deutsche Heer nicht
besiegt war, hat es am besten dadurch bewiesen, daß es in der folgenden
Schlacht an der Aisne in neuen Stellungen unerschüttert den feindlichen Ansturm
brach.

So also stellt sich heute die Schlacht an der Marne dem objektiven Be¬
trachter dar. Aus dem Chaos der widersprüchlichen ersten Nachrichten beginnt
sich langsam die Wahrheit zu entschleiern. Wenden wir auf diesen Fall an.
was wir in unserer Eingangsbetrachtung als Hindernis für die reine Erkenntnis
fanden, so ergibt sich, daß zunächst das Gefühlsmoment auch hier entstellend
gewirkt hat. Wir Deutsche empfanden die Schlacht als unharmonischen Schlu߬
akkord eines rauschenden Siegesmarsches; den Franzosen war sie ein froher
Hoffnungsstrahl, der in tiefe Düsternis hineinleuchtete. Kein Wunder, daß sie
bei uns als Mißerfolg, bei den Franzosen als Sieg empfunden wurde. Was
davon richtig ist, das ergibt erst der Zusammenhang, vor allem auch die Lage,
die sie in den Plänen der beiderseitigen Heeresleitungen schuf. Hier sind wir
bis heute auf Schlüsse angewiesen. Soweit wir die Sachlage überschauen,
wollte die deutsche Führung die Franzosen überrennen, vielleicht sie zu den
Vogesen zurückdrängen, um sie dort von beiden Seiten zu packen. Das mißlang.
Die Franzosen dagegen wollten ihrerseits die deutsche Front an den Flügeln
eindrücken und die Mittelheere umklammern, um so die deutsche Armee kämpf-


DerBegriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne

Ganz offen gesteht Kolbe jedoch ein, daß über die Kämpfe der Armee
Haujen weder von deutscher noch von französischer Seite ausreichende Berichte
vorliegen. Doch betont er und beweist es aus französischen Quellen, daß der
Rückzug, den Hausen nach anfänglichen Erfolgen antrat, durchaus methodisch
vor sich ging und nicht in übereilte Flucht ausartete.

Den Abschluß der Kolbeschen Darstellung bildete die Schilderung der
Kämpfe auf dem linken Flügel. Besonders die Erfolge der kronprinzlichen
Armee werden in volles Licht gerückt. Hier stand als Gegner der später in
ganz anderer Gegend hervorgetretene General Sarrail, der von Verdun aus
die Operationen leitete. Auf diesem Flügel hat die deutsche Offensive fast
überall ungebrochene Erfolge aufzuweisen, hier hielt sie noch auf weit vorge¬
schobenem Posten ungefährdet stand, als schon lange die anderen Armeen den
strategischen Rückzug begonnen hatten, und unbesiegt ist die sünfte Armee erst
am 12. September zurückgegangen, um mit den anderen Armeen in Fühlung
zu bleiben. —




Das also ist die berühmte Schlacht an der Marne! Und was war der
greifbare Erfolg der Gegner? Der englische Berichterstatter spricht von sieben¬
tausend bis achttausend Gefangenen und meint, es seien ebensoviel Tote und
Verwundete auf deutscher Seite gewesen. Bedenkt man nun, daß auch auf
deutscher Seite mehrere Tausend Gefangene gemacht sind, daß überall die Ver¬
folgung erst einige Tage später zustande kam. so ist das für einen großen Sieg
der französischen Heere nicht sehr beweisend. Und daß das deutsche Heer nicht
besiegt war, hat es am besten dadurch bewiesen, daß es in der folgenden
Schlacht an der Aisne in neuen Stellungen unerschüttert den feindlichen Ansturm
brach.

So also stellt sich heute die Schlacht an der Marne dem objektiven Be¬
trachter dar. Aus dem Chaos der widersprüchlichen ersten Nachrichten beginnt
sich langsam die Wahrheit zu entschleiern. Wenden wir auf diesen Fall an.
was wir in unserer Eingangsbetrachtung als Hindernis für die reine Erkenntnis
fanden, so ergibt sich, daß zunächst das Gefühlsmoment auch hier entstellend
gewirkt hat. Wir Deutsche empfanden die Schlacht als unharmonischen Schlu߬
akkord eines rauschenden Siegesmarsches; den Franzosen war sie ein froher
Hoffnungsstrahl, der in tiefe Düsternis hineinleuchtete. Kein Wunder, daß sie
bei uns als Mißerfolg, bei den Franzosen als Sieg empfunden wurde. Was
davon richtig ist, das ergibt erst der Zusammenhang, vor allem auch die Lage,
die sie in den Plänen der beiderseitigen Heeresleitungen schuf. Hier sind wir
bis heute auf Schlüsse angewiesen. Soweit wir die Sachlage überschauen,
wollte die deutsche Führung die Franzosen überrennen, vielleicht sie zu den
Vogesen zurückdrängen, um sie dort von beiden Seiten zu packen. Das mißlang.
Die Franzosen dagegen wollten ihrerseits die deutsche Front an den Flügeln
eindrücken und die Mittelheere umklammern, um so die deutsche Armee kämpf-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0199" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332478"/>
          <fw type="header" place="top"> DerBegriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_618"> Ganz offen gesteht Kolbe jedoch ein, daß über die Kämpfe der Armee<lb/>
Haujen weder von deutscher noch von französischer Seite ausreichende Berichte<lb/>
vorliegen. Doch betont er und beweist es aus französischen Quellen, daß der<lb/>
Rückzug, den Hausen nach anfänglichen Erfolgen antrat, durchaus methodisch<lb/>
vor sich ging und nicht in übereilte Flucht ausartete.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_619"> Den Abschluß der Kolbeschen Darstellung bildete die Schilderung der<lb/>
Kämpfe auf dem linken Flügel. Besonders die Erfolge der kronprinzlichen<lb/>
Armee werden in volles Licht gerückt. Hier stand als Gegner der später in<lb/>
ganz anderer Gegend hervorgetretene General Sarrail, der von Verdun aus<lb/>
die Operationen leitete. Auf diesem Flügel hat die deutsche Offensive fast<lb/>
überall ungebrochene Erfolge aufzuweisen, hier hielt sie noch auf weit vorge¬<lb/>
schobenem Posten ungefährdet stand, als schon lange die anderen Armeen den<lb/>
strategischen Rückzug begonnen hatten, und unbesiegt ist die sünfte Armee erst<lb/>
am 12. September zurückgegangen, um mit den anderen Armeen in Fühlung<lb/>
zu bleiben. &#x2014;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_620"> Das also ist die berühmte Schlacht an der Marne! Und was war der<lb/>
greifbare Erfolg der Gegner? Der englische Berichterstatter spricht von sieben¬<lb/>
tausend bis achttausend Gefangenen und meint, es seien ebensoviel Tote und<lb/>
Verwundete auf deutscher Seite gewesen. Bedenkt man nun, daß auch auf<lb/>
deutscher Seite mehrere Tausend Gefangene gemacht sind, daß überall die Ver¬<lb/>
folgung erst einige Tage später zustande kam. so ist das für einen großen Sieg<lb/>
der französischen Heere nicht sehr beweisend. Und daß das deutsche Heer nicht<lb/>
besiegt war, hat es am besten dadurch bewiesen, daß es in der folgenden<lb/>
Schlacht an der Aisne in neuen Stellungen unerschüttert den feindlichen Ansturm<lb/>
brach.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_621" next="#ID_622"> So also stellt sich heute die Schlacht an der Marne dem objektiven Be¬<lb/>
trachter dar. Aus dem Chaos der widersprüchlichen ersten Nachrichten beginnt<lb/>
sich langsam die Wahrheit zu entschleiern. Wenden wir auf diesen Fall an.<lb/>
was wir in unserer Eingangsbetrachtung als Hindernis für die reine Erkenntnis<lb/>
fanden, so ergibt sich, daß zunächst das Gefühlsmoment auch hier entstellend<lb/>
gewirkt hat. Wir Deutsche empfanden die Schlacht als unharmonischen Schlu߬<lb/>
akkord eines rauschenden Siegesmarsches; den Franzosen war sie ein froher<lb/>
Hoffnungsstrahl, der in tiefe Düsternis hineinleuchtete. Kein Wunder, daß sie<lb/>
bei uns als Mißerfolg, bei den Franzosen als Sieg empfunden wurde. Was<lb/>
davon richtig ist, das ergibt erst der Zusammenhang, vor allem auch die Lage,<lb/>
die sie in den Plänen der beiderseitigen Heeresleitungen schuf. Hier sind wir<lb/>
bis heute auf Schlüsse angewiesen. Soweit wir die Sachlage überschauen,<lb/>
wollte die deutsche Führung die Franzosen überrennen, vielleicht sie zu den<lb/>
Vogesen zurückdrängen, um sie dort von beiden Seiten zu packen. Das mißlang.<lb/>
Die Franzosen dagegen wollten ihrerseits die deutsche Front an den Flügeln<lb/>
eindrücken und die Mittelheere umklammern, um so die deutsche Armee kämpf-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0199] DerBegriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne Ganz offen gesteht Kolbe jedoch ein, daß über die Kämpfe der Armee Haujen weder von deutscher noch von französischer Seite ausreichende Berichte vorliegen. Doch betont er und beweist es aus französischen Quellen, daß der Rückzug, den Hausen nach anfänglichen Erfolgen antrat, durchaus methodisch vor sich ging und nicht in übereilte Flucht ausartete. Den Abschluß der Kolbeschen Darstellung bildete die Schilderung der Kämpfe auf dem linken Flügel. Besonders die Erfolge der kronprinzlichen Armee werden in volles Licht gerückt. Hier stand als Gegner der später in ganz anderer Gegend hervorgetretene General Sarrail, der von Verdun aus die Operationen leitete. Auf diesem Flügel hat die deutsche Offensive fast überall ungebrochene Erfolge aufzuweisen, hier hielt sie noch auf weit vorge¬ schobenem Posten ungefährdet stand, als schon lange die anderen Armeen den strategischen Rückzug begonnen hatten, und unbesiegt ist die sünfte Armee erst am 12. September zurückgegangen, um mit den anderen Armeen in Fühlung zu bleiben. — Das also ist die berühmte Schlacht an der Marne! Und was war der greifbare Erfolg der Gegner? Der englische Berichterstatter spricht von sieben¬ tausend bis achttausend Gefangenen und meint, es seien ebensoviel Tote und Verwundete auf deutscher Seite gewesen. Bedenkt man nun, daß auch auf deutscher Seite mehrere Tausend Gefangene gemacht sind, daß überall die Ver¬ folgung erst einige Tage später zustande kam. so ist das für einen großen Sieg der französischen Heere nicht sehr beweisend. Und daß das deutsche Heer nicht besiegt war, hat es am besten dadurch bewiesen, daß es in der folgenden Schlacht an der Aisne in neuen Stellungen unerschüttert den feindlichen Ansturm brach. So also stellt sich heute die Schlacht an der Marne dem objektiven Be¬ trachter dar. Aus dem Chaos der widersprüchlichen ersten Nachrichten beginnt sich langsam die Wahrheit zu entschleiern. Wenden wir auf diesen Fall an. was wir in unserer Eingangsbetrachtung als Hindernis für die reine Erkenntnis fanden, so ergibt sich, daß zunächst das Gefühlsmoment auch hier entstellend gewirkt hat. Wir Deutsche empfanden die Schlacht als unharmonischen Schlu߬ akkord eines rauschenden Siegesmarsches; den Franzosen war sie ein froher Hoffnungsstrahl, der in tiefe Düsternis hineinleuchtete. Kein Wunder, daß sie bei uns als Mißerfolg, bei den Franzosen als Sieg empfunden wurde. Was davon richtig ist, das ergibt erst der Zusammenhang, vor allem auch die Lage, die sie in den Plänen der beiderseitigen Heeresleitungen schuf. Hier sind wir bis heute auf Schlüsse angewiesen. Soweit wir die Sachlage überschauen, wollte die deutsche Führung die Franzosen überrennen, vielleicht sie zu den Vogesen zurückdrängen, um sie dort von beiden Seiten zu packen. Das mißlang. Die Franzosen dagegen wollten ihrerseits die deutsche Front an den Flügeln eindrücken und die Mittelheere umklammern, um so die deutsche Armee kämpf-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/199
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/199>, abgerufen am 01.07.2024.