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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der Begriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne

Arbeit aber ist nötig! Es gilt ein Ende zu machen mit dem Aberglauben,
daß der wahre Tatbestand von selber ans Tageslicht komme. Im Gegenteil:
es sind meist der Kräfte gar viele am Werke, um den wahren Tatbestand zu
verhüllen! Und eben das werden wir an einem bezeichnenden Beispiel der
neuesten Geschichte illustrieren und dabei zeigen, daß die historische Erkenntnis
der Politik nicht bloß nachzuhinken hat, sondern daß sie selber ein ungeheuer
wichtiger Faktor in der Politik ist und von dieser lange nicht nach Gebühr
gewürdigt wird.




Wir sprechen von der sogenannten "Schlacht an der Marne". In dem
ganzen Teile der Welt, dessen politisches Wissen aus französischen und englischen
Zeitungen gespeist wird (und es ist leider der weitaus größte Teil der Welt),
gilt es heutzutage als ausgemacht, daß diese Schlacht ein überragender Sieg
der Franzosen und eine vernichtende Niederlage der Deutschen gewesen sei. An
diesem Bewußtsein hat sich der zusammengebrochene Mut der Franzosen wieder
aufgerichtet. Diese Schlacht ist in der Phantasie des französischen Volkes zu
legendärer Größe aufgewachsen, und mit Vorliebe stellen französische Leitartikler
sie zusammen mit den Siegen der Griechen über die Perser, mit der Nieder¬
werfung der Zimbern und Teutonen durch Marius und der Besiegung Attilas
auf den katalaunischen Gefilden. Auch hier sei die Kultur gerettet worden gegen
Barbarenansturm, fügen sie hinzu. Und an diesem Siege rafft sich immer aufs
neue der erlahmende Offensivgeist unserer Feinde auf: auf diesen angeblichen
Sieg weisen die Zeitungen hin, wenn wieder eine Offensive zusammenbricht,
und sie heben hervor, es müsse von neuem möglich sein, was damals erreicht wurde.

Und doch können wir dagegen objektiv feststellen, daß der "Sieg an der
Marne" eine Legende ist. Wir können auch auf Grund der französischen Dar¬
stellungen nachweisen, daß von einem taktischen Sieg der Franzosen überhaupt
nicht die Rede sein kann, höchstens von einem strategischen Erfolg, der aber
zum größten Teil auf ganz andere Ursachen zurückgeht, als auf eine Über-
legenheit der französischen Waffen.

Daß jene irrtümliche Geschichtsauffassung sich jedoch einfressen konnte, auch
in der Überzeugung des deutschen Volkes und auch eines großen Teiles des
deutschen Heeres, das geht darauf zurück, daß die Deutschen es versäumt haben,
den Tatsachen rechtzeitig die richtige Prägung zu geben, daß sie zu spät und
viel zu schwach den feindlichen Berichten entgegengetreten sind, und daß im
Gegensatz dazu es die Franzosen waren, die von vornherein die ihnen ge¬
nehmen Schlagworte in die Welt schleuderten und mit ihrem auf äußerliche
Tatsachen pochenden Siegesgebrüll die Stimme richtiger Abwägung von vorn¬
herein niederschrien. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die Schlacht an der Marne
ein Sieg der französischen Waffen war, aber es ist leider eine Tatsache, daß sie ein
Sieg der französischen Berichterstattung und der französischen Presse gewesen ist.




Der Begriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne

Arbeit aber ist nötig! Es gilt ein Ende zu machen mit dem Aberglauben,
daß der wahre Tatbestand von selber ans Tageslicht komme. Im Gegenteil:
es sind meist der Kräfte gar viele am Werke, um den wahren Tatbestand zu
verhüllen! Und eben das werden wir an einem bezeichnenden Beispiel der
neuesten Geschichte illustrieren und dabei zeigen, daß die historische Erkenntnis
der Politik nicht bloß nachzuhinken hat, sondern daß sie selber ein ungeheuer
wichtiger Faktor in der Politik ist und von dieser lange nicht nach Gebühr
gewürdigt wird.




Wir sprechen von der sogenannten „Schlacht an der Marne". In dem
ganzen Teile der Welt, dessen politisches Wissen aus französischen und englischen
Zeitungen gespeist wird (und es ist leider der weitaus größte Teil der Welt),
gilt es heutzutage als ausgemacht, daß diese Schlacht ein überragender Sieg
der Franzosen und eine vernichtende Niederlage der Deutschen gewesen sei. An
diesem Bewußtsein hat sich der zusammengebrochene Mut der Franzosen wieder
aufgerichtet. Diese Schlacht ist in der Phantasie des französischen Volkes zu
legendärer Größe aufgewachsen, und mit Vorliebe stellen französische Leitartikler
sie zusammen mit den Siegen der Griechen über die Perser, mit der Nieder¬
werfung der Zimbern und Teutonen durch Marius und der Besiegung Attilas
auf den katalaunischen Gefilden. Auch hier sei die Kultur gerettet worden gegen
Barbarenansturm, fügen sie hinzu. Und an diesem Siege rafft sich immer aufs
neue der erlahmende Offensivgeist unserer Feinde auf: auf diesen angeblichen
Sieg weisen die Zeitungen hin, wenn wieder eine Offensive zusammenbricht,
und sie heben hervor, es müsse von neuem möglich sein, was damals erreicht wurde.

Und doch können wir dagegen objektiv feststellen, daß der „Sieg an der
Marne" eine Legende ist. Wir können auch auf Grund der französischen Dar¬
stellungen nachweisen, daß von einem taktischen Sieg der Franzosen überhaupt
nicht die Rede sein kann, höchstens von einem strategischen Erfolg, der aber
zum größten Teil auf ganz andere Ursachen zurückgeht, als auf eine Über-
legenheit der französischen Waffen.

Daß jene irrtümliche Geschichtsauffassung sich jedoch einfressen konnte, auch
in der Überzeugung des deutschen Volkes und auch eines großen Teiles des
deutschen Heeres, das geht darauf zurück, daß die Deutschen es versäumt haben,
den Tatsachen rechtzeitig die richtige Prägung zu geben, daß sie zu spät und
viel zu schwach den feindlichen Berichten entgegengetreten sind, und daß im
Gegensatz dazu es die Franzosen waren, die von vornherein die ihnen ge¬
nehmen Schlagworte in die Welt schleuderten und mit ihrem auf äußerliche
Tatsachen pochenden Siegesgebrüll die Stimme richtiger Abwägung von vorn¬
herein niederschrien. Es ist mehr als zweifelhaft, ob die Schlacht an der Marne
ein Sieg der französischen Waffen war, aber es ist leider eine Tatsache, daß sie ein
Sieg der französischen Berichterstattung und der französischen Presse gewesen ist.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/196>, abgerufen am 01.07.2024.