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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Ver Begriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne

von Sieg redet, wo ein bißchen Gelände gewonnen und ein Plus an Ge¬
fangenen erzielt wird, sollte eigentlich gerade durch diesen Krieg endgültig
widerlegt sein. Wie oft hat sich gerade ein rechtzeitiger Rückzug als ti?
Schwelle zu dauernden Erfolgen erwiesen, während anscheinend glänzende Siege
verpufft sind, ohne tiefere Wirkung zu hinterlassen. Aus all diesen Gründen
'se nicht genug geschehen, wenn man ein paar grobe Tatsachen in die Welt
hinausdepeschiert. Es muß auch gesorgt sein, daß sie in richtiger Beleuchtung
erscheinen.

Vor allem aber der psychologische Zusammenhang ist da wichtig. Jedes
historische Geschehen ist nicht die Wirkung äußerer Anstöße, sondern es ist das
Ergebnis mannigfach verflochtener Pläne und Entwürfe. Gerade dieser psycho¬
logische Zusammenhang aber ist am wenigsten durchsichtig. Das äußere,
greifbare Geschehen sagt über ihn sehr wenig aus und kann daher auf die
verschiedenste Weise ausgedeutet werden. Weil man aber diesen psychologischen
Zusammenhang der Geschehnisse wenigstens in großen Zügen erschließen muß.
um die "Wahrheit" zu erkennen, so tappt derjenige vollkommen im Dunkeln,
der sich nur an die Tatsachen hält. Um den Zusammenhang der Tatsachen
Zu erkennen und damit erst eine einheitliche Erkenntnis zu ermöglichen, müssen
Zwischenglieder eingeschoben werden, sür die der Historiker sehr ost auf
Schlüsse, ja auf Vermutungen angewiesen ist. Und doch rundet sich dadurch
erst das Bild.

Nicht also durch die Darbietung des rohen Tatsachenmaterials, also durch
Aufzählung von Namen. Zahlen und anderen "objektiven" Daten, entsteht
historische Wahrheit! Alles das ist höchstens ein Kanevas, in den das wirk¬
liche Bild erst hineingestickt werden muß. Es ist notwendig, diese Tatsachen
M bearbeiten, sie zu reinigen von den'subjektiven Färbungen, die Furcht und
Hoffnung. Haß oder Liebe hinzugeben; es ist ferner notwendig, daß die Einzcl-
geschehnisse in ihre Zusammenhänge eingeordnet werden, in denen sie erst die
Achten Verhältnisse bekommen, und zum dritten ist es notwendig, daß die see¬
lischen Tatsachen erschlossen und erkannt werden, durch die die rohen Ereignisse
^se zum sinnvollen Geschehen werden.

Mit anderen Worten: die historische Wahrheit entsteht nicht wie das Bild
w einem Spiegel, sie wird geschaffen wie das Werk eines Künstlers, nur mit
dem Unterschiede, daß die Subjektivität des Künstlers einen Eigenwert darstellt,
während der Historiker die Subjektivität gerade zurückdrängt und sich bestrebt,
alles was er in sein Bild aufnimmt, auch nach Kräften zu beweisen. Man
"erstehe uns. darum nicht unrecht, indem man uns so auffaßt, als redeten wir,
wenn wir die Bearbeitung des Materials in der historischen Erkenntnis betonen,
einer willkürlichen Entstellung das Wort; nein, die Bearbeitung ist nötig, weil
wir die subjektive Färbung abstreifen und die Tatsachen erst allseitig heraus¬
arbeiten müssen. Der objektive Tatbestand liegt nicht am Ausgangspunkt,
sondern er ist das Ziel der Geschichte.


Ver Begriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne

von Sieg redet, wo ein bißchen Gelände gewonnen und ein Plus an Ge¬
fangenen erzielt wird, sollte eigentlich gerade durch diesen Krieg endgültig
widerlegt sein. Wie oft hat sich gerade ein rechtzeitiger Rückzug als ti?
Schwelle zu dauernden Erfolgen erwiesen, während anscheinend glänzende Siege
verpufft sind, ohne tiefere Wirkung zu hinterlassen. Aus all diesen Gründen
'se nicht genug geschehen, wenn man ein paar grobe Tatsachen in die Welt
hinausdepeschiert. Es muß auch gesorgt sein, daß sie in richtiger Beleuchtung
erscheinen.

Vor allem aber der psychologische Zusammenhang ist da wichtig. Jedes
historische Geschehen ist nicht die Wirkung äußerer Anstöße, sondern es ist das
Ergebnis mannigfach verflochtener Pläne und Entwürfe. Gerade dieser psycho¬
logische Zusammenhang aber ist am wenigsten durchsichtig. Das äußere,
greifbare Geschehen sagt über ihn sehr wenig aus und kann daher auf die
verschiedenste Weise ausgedeutet werden. Weil man aber diesen psychologischen
Zusammenhang der Geschehnisse wenigstens in großen Zügen erschließen muß.
um die „Wahrheit" zu erkennen, so tappt derjenige vollkommen im Dunkeln,
der sich nur an die Tatsachen hält. Um den Zusammenhang der Tatsachen
Zu erkennen und damit erst eine einheitliche Erkenntnis zu ermöglichen, müssen
Zwischenglieder eingeschoben werden, sür die der Historiker sehr ost auf
Schlüsse, ja auf Vermutungen angewiesen ist. Und doch rundet sich dadurch
erst das Bild.

Nicht also durch die Darbietung des rohen Tatsachenmaterials, also durch
Aufzählung von Namen. Zahlen und anderen „objektiven" Daten, entsteht
historische Wahrheit! Alles das ist höchstens ein Kanevas, in den das wirk¬
liche Bild erst hineingestickt werden muß. Es ist notwendig, diese Tatsachen
M bearbeiten, sie zu reinigen von den'subjektiven Färbungen, die Furcht und
Hoffnung. Haß oder Liebe hinzugeben; es ist ferner notwendig, daß die Einzcl-
geschehnisse in ihre Zusammenhänge eingeordnet werden, in denen sie erst die
Achten Verhältnisse bekommen, und zum dritten ist es notwendig, daß die see¬
lischen Tatsachen erschlossen und erkannt werden, durch die die rohen Ereignisse
^se zum sinnvollen Geschehen werden.

Mit anderen Worten: die historische Wahrheit entsteht nicht wie das Bild
w einem Spiegel, sie wird geschaffen wie das Werk eines Künstlers, nur mit
dem Unterschiede, daß die Subjektivität des Künstlers einen Eigenwert darstellt,
während der Historiker die Subjektivität gerade zurückdrängt und sich bestrebt,
alles was er in sein Bild aufnimmt, auch nach Kräften zu beweisen. Man
"erstehe uns. darum nicht unrecht, indem man uns so auffaßt, als redeten wir,
wenn wir die Bearbeitung des Materials in der historischen Erkenntnis betonen,
einer willkürlichen Entstellung das Wort; nein, die Bearbeitung ist nötig, weil
wir die subjektive Färbung abstreifen und die Tatsachen erst allseitig heraus¬
arbeiten müssen. Der objektive Tatbestand liegt nicht am Ausgangspunkt,
sondern er ist das Ziel der Geschichte.


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[0195] Ver Begriff der historischen Wahrheit und die Schlacht an der Marne von Sieg redet, wo ein bißchen Gelände gewonnen und ein Plus an Ge¬ fangenen erzielt wird, sollte eigentlich gerade durch diesen Krieg endgültig widerlegt sein. Wie oft hat sich gerade ein rechtzeitiger Rückzug als ti? Schwelle zu dauernden Erfolgen erwiesen, während anscheinend glänzende Siege verpufft sind, ohne tiefere Wirkung zu hinterlassen. Aus all diesen Gründen 'se nicht genug geschehen, wenn man ein paar grobe Tatsachen in die Welt hinausdepeschiert. Es muß auch gesorgt sein, daß sie in richtiger Beleuchtung erscheinen. Vor allem aber der psychologische Zusammenhang ist da wichtig. Jedes historische Geschehen ist nicht die Wirkung äußerer Anstöße, sondern es ist das Ergebnis mannigfach verflochtener Pläne und Entwürfe. Gerade dieser psycho¬ logische Zusammenhang aber ist am wenigsten durchsichtig. Das äußere, greifbare Geschehen sagt über ihn sehr wenig aus und kann daher auf die verschiedenste Weise ausgedeutet werden. Weil man aber diesen psychologischen Zusammenhang der Geschehnisse wenigstens in großen Zügen erschließen muß. um die „Wahrheit" zu erkennen, so tappt derjenige vollkommen im Dunkeln, der sich nur an die Tatsachen hält. Um den Zusammenhang der Tatsachen Zu erkennen und damit erst eine einheitliche Erkenntnis zu ermöglichen, müssen Zwischenglieder eingeschoben werden, sür die der Historiker sehr ost auf Schlüsse, ja auf Vermutungen angewiesen ist. Und doch rundet sich dadurch erst das Bild. Nicht also durch die Darbietung des rohen Tatsachenmaterials, also durch Aufzählung von Namen. Zahlen und anderen „objektiven" Daten, entsteht historische Wahrheit! Alles das ist höchstens ein Kanevas, in den das wirk¬ liche Bild erst hineingestickt werden muß. Es ist notwendig, diese Tatsachen M bearbeiten, sie zu reinigen von den'subjektiven Färbungen, die Furcht und Hoffnung. Haß oder Liebe hinzugeben; es ist ferner notwendig, daß die Einzcl- geschehnisse in ihre Zusammenhänge eingeordnet werden, in denen sie erst die Achten Verhältnisse bekommen, und zum dritten ist es notwendig, daß die see¬ lischen Tatsachen erschlossen und erkannt werden, durch die die rohen Ereignisse ^se zum sinnvollen Geschehen werden. Mit anderen Worten: die historische Wahrheit entsteht nicht wie das Bild w einem Spiegel, sie wird geschaffen wie das Werk eines Künstlers, nur mit dem Unterschiede, daß die Subjektivität des Künstlers einen Eigenwert darstellt, während der Historiker die Subjektivität gerade zurückdrängt und sich bestrebt, alles was er in sein Bild aufnimmt, auch nach Kräften zu beweisen. Man "erstehe uns. darum nicht unrecht, indem man uns so auffaßt, als redeten wir, wenn wir die Bearbeitung des Materials in der historischen Erkenntnis betonen, einer willkürlichen Entstellung das Wort; nein, die Bearbeitung ist nötig, weil wir die subjektive Färbung abstreifen und die Tatsachen erst allseitig heraus¬ arbeiten müssen. Der objektive Tatbestand liegt nicht am Ausgangspunkt, sondern er ist das Ziel der Geschichte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/195>, abgerufen am 01.07.2024.