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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der Begriff der historischen Wahrheit und d le Schlacht an der Marne

das Wort, das das Rohmaterial der kriegerischen Taten erst zur geprägten
Münze der "historischen Wahrheit" prägt, die dann weitergegeben werden kann!

Vielleicht ist es unter diesen Umständen nicht gleichgültig, den Begriff der
"historischen Wahrheit" und ihr Zustandekommen psychologisch ein wenig zu
beleuchten. Wir denken dabei gar nicht an bewußte Tatsachenfälschungen, die
in der Regel verhältnißmäßig leicht zu widerlegen sind, obwohl auch von der
gröbsten Lüge meist etwas hängen zu bleiben pflegt. Wir sprechen hier von
weiter nichts als der Ausprägung des Tatbestandes in historischer Darstellung,
die nicht eine direkte Entstellung beabsichtigt, sondern als "Wahrheit" gelten will.

Dieser Tatbestand, von dem der Laie wie von einem festen, greifbaren
Körper redet, ist in Wirklichkeit ein äußerst rasch vorübergehendes Geschehen, eine
unendliche Verwicklung von Tausenden von Fäden, über die oft gerade die¬
jenigen Teilnehmer am wenigsten klar sehen, die hineinverwoben sind. Der
Historiker, der das fassen will, hat meist nur "Quellen", das heißt mehr oder
weniger getrübte Spiegelungen von einseitigem Standpunkt aus, bei denen
bewußte Entstellung nirgends ausgeschlossen ist.

Dieses ungreifbare Fluidum historischen Tatbestandes nun soll in klaren,
überzeugenden Zusammenhängen bloßgelogt werden! Wir können hier nur
einige der Schwierigkeiten namhaft machen, die sich da entgegenstellen.

Zunächst sind sie affektiver Natur. Das heißt, überall drängt sich das
Gefühl des Beschauers färbend und Licht und Schatten verleitend in die Dar¬
stellung ein. Auch in der einfachsten Wahrnehmung verhalten wir uns werdend,
wir wählen aus, betonen hier und verwerfen dort und erfassen stets nur einen
Teilbestand, der dazu in seinen Verhältnissen stark verschoben ist. Wir wissen
aus der Geschichte, wie unendlich verschieden eine Darstellung ausfällt, je nach¬
dem ihr Gegenstand durch die Brille der Liebe oder die Brille des Hasses
gesehen ist! Man denke an das Bild Luthers, der den Protestanten als der
aufrechte, gemütstiefe Gottesstreiter, den Katholiken als böswilliger, galliger
Streithahn von sehr zweifelhaftem Charakter erscheint, alles nur, weil das
verschiedene Gefühl der Beschauer die Züge des Gegenstandes verschieden betont.

Indessen ist die Möglichkeit dieser affektiver Trübung nur dadurch gegeben,
daß auch rein intellektuell die Erfassung der Tatbestände sehr schwierig ist.
Wäre die Wahrheit stets oculos zu demonstrieren, so wäre dem Subjektivismus
des Gefühls eine Grenze zu setzen. In der Tat verhält es sich aber so, daß
auch der weiteste Blick stets nur Teile zu umspannen vermag, niemals einen
größeren Tatsachenkomplex gleichmäßig überschauen kann. "Wahrheit" im
höheren Sinne aber ist stets nur dort möglich, wo man das Einzelfaktum in
seinen Zusammenhängen erblickt. Wie in einem Gemälde dem Einzelgegenstand
nicht eine absolute Farbe zukommt, sondern diese nur relativ richtig ist innerhalb
der Farbengebung und Belichtung des Ganzen, so ist auch bei historischen Tat¬
sachen erst ein letztes Urteil möglich, wenn man sie in der Gesamtheit des Welt¬
geschehens miterblickt. Die plumpe Anschauung des Publikums, die dort überall


Der Begriff der historischen Wahrheit und d le Schlacht an der Marne

das Wort, das das Rohmaterial der kriegerischen Taten erst zur geprägten
Münze der „historischen Wahrheit" prägt, die dann weitergegeben werden kann!

Vielleicht ist es unter diesen Umständen nicht gleichgültig, den Begriff der
„historischen Wahrheit" und ihr Zustandekommen psychologisch ein wenig zu
beleuchten. Wir denken dabei gar nicht an bewußte Tatsachenfälschungen, die
in der Regel verhältnißmäßig leicht zu widerlegen sind, obwohl auch von der
gröbsten Lüge meist etwas hängen zu bleiben pflegt. Wir sprechen hier von
weiter nichts als der Ausprägung des Tatbestandes in historischer Darstellung,
die nicht eine direkte Entstellung beabsichtigt, sondern als „Wahrheit" gelten will.

Dieser Tatbestand, von dem der Laie wie von einem festen, greifbaren
Körper redet, ist in Wirklichkeit ein äußerst rasch vorübergehendes Geschehen, eine
unendliche Verwicklung von Tausenden von Fäden, über die oft gerade die¬
jenigen Teilnehmer am wenigsten klar sehen, die hineinverwoben sind. Der
Historiker, der das fassen will, hat meist nur „Quellen", das heißt mehr oder
weniger getrübte Spiegelungen von einseitigem Standpunkt aus, bei denen
bewußte Entstellung nirgends ausgeschlossen ist.

Dieses ungreifbare Fluidum historischen Tatbestandes nun soll in klaren,
überzeugenden Zusammenhängen bloßgelogt werden! Wir können hier nur
einige der Schwierigkeiten namhaft machen, die sich da entgegenstellen.

Zunächst sind sie affektiver Natur. Das heißt, überall drängt sich das
Gefühl des Beschauers färbend und Licht und Schatten verleitend in die Dar¬
stellung ein. Auch in der einfachsten Wahrnehmung verhalten wir uns werdend,
wir wählen aus, betonen hier und verwerfen dort und erfassen stets nur einen
Teilbestand, der dazu in seinen Verhältnissen stark verschoben ist. Wir wissen
aus der Geschichte, wie unendlich verschieden eine Darstellung ausfällt, je nach¬
dem ihr Gegenstand durch die Brille der Liebe oder die Brille des Hasses
gesehen ist! Man denke an das Bild Luthers, der den Protestanten als der
aufrechte, gemütstiefe Gottesstreiter, den Katholiken als böswilliger, galliger
Streithahn von sehr zweifelhaftem Charakter erscheint, alles nur, weil das
verschiedene Gefühl der Beschauer die Züge des Gegenstandes verschieden betont.

Indessen ist die Möglichkeit dieser affektiver Trübung nur dadurch gegeben,
daß auch rein intellektuell die Erfassung der Tatbestände sehr schwierig ist.
Wäre die Wahrheit stets oculos zu demonstrieren, so wäre dem Subjektivismus
des Gefühls eine Grenze zu setzen. In der Tat verhält es sich aber so, daß
auch der weiteste Blick stets nur Teile zu umspannen vermag, niemals einen
größeren Tatsachenkomplex gleichmäßig überschauen kann. „Wahrheit" im
höheren Sinne aber ist stets nur dort möglich, wo man das Einzelfaktum in
seinen Zusammenhängen erblickt. Wie in einem Gemälde dem Einzelgegenstand
nicht eine absolute Farbe zukommt, sondern diese nur relativ richtig ist innerhalb
der Farbengebung und Belichtung des Ganzen, so ist auch bei historischen Tat¬
sachen erst ein letztes Urteil möglich, wenn man sie in der Gesamtheit des Welt¬
geschehens miterblickt. Die plumpe Anschauung des Publikums, die dort überall


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[0194] Der Begriff der historischen Wahrheit und d le Schlacht an der Marne das Wort, das das Rohmaterial der kriegerischen Taten erst zur geprägten Münze der „historischen Wahrheit" prägt, die dann weitergegeben werden kann! Vielleicht ist es unter diesen Umständen nicht gleichgültig, den Begriff der „historischen Wahrheit" und ihr Zustandekommen psychologisch ein wenig zu beleuchten. Wir denken dabei gar nicht an bewußte Tatsachenfälschungen, die in der Regel verhältnißmäßig leicht zu widerlegen sind, obwohl auch von der gröbsten Lüge meist etwas hängen zu bleiben pflegt. Wir sprechen hier von weiter nichts als der Ausprägung des Tatbestandes in historischer Darstellung, die nicht eine direkte Entstellung beabsichtigt, sondern als „Wahrheit" gelten will. Dieser Tatbestand, von dem der Laie wie von einem festen, greifbaren Körper redet, ist in Wirklichkeit ein äußerst rasch vorübergehendes Geschehen, eine unendliche Verwicklung von Tausenden von Fäden, über die oft gerade die¬ jenigen Teilnehmer am wenigsten klar sehen, die hineinverwoben sind. Der Historiker, der das fassen will, hat meist nur „Quellen", das heißt mehr oder weniger getrübte Spiegelungen von einseitigem Standpunkt aus, bei denen bewußte Entstellung nirgends ausgeschlossen ist. Dieses ungreifbare Fluidum historischen Tatbestandes nun soll in klaren, überzeugenden Zusammenhängen bloßgelogt werden! Wir können hier nur einige der Schwierigkeiten namhaft machen, die sich da entgegenstellen. Zunächst sind sie affektiver Natur. Das heißt, überall drängt sich das Gefühl des Beschauers färbend und Licht und Schatten verleitend in die Dar¬ stellung ein. Auch in der einfachsten Wahrnehmung verhalten wir uns werdend, wir wählen aus, betonen hier und verwerfen dort und erfassen stets nur einen Teilbestand, der dazu in seinen Verhältnissen stark verschoben ist. Wir wissen aus der Geschichte, wie unendlich verschieden eine Darstellung ausfällt, je nach¬ dem ihr Gegenstand durch die Brille der Liebe oder die Brille des Hasses gesehen ist! Man denke an das Bild Luthers, der den Protestanten als der aufrechte, gemütstiefe Gottesstreiter, den Katholiken als böswilliger, galliger Streithahn von sehr zweifelhaftem Charakter erscheint, alles nur, weil das verschiedene Gefühl der Beschauer die Züge des Gegenstandes verschieden betont. Indessen ist die Möglichkeit dieser affektiver Trübung nur dadurch gegeben, daß auch rein intellektuell die Erfassung der Tatbestände sehr schwierig ist. Wäre die Wahrheit stets oculos zu demonstrieren, so wäre dem Subjektivismus des Gefühls eine Grenze zu setzen. In der Tat verhält es sich aber so, daß auch der weiteste Blick stets nur Teile zu umspannen vermag, niemals einen größeren Tatsachenkomplex gleichmäßig überschauen kann. „Wahrheit" im höheren Sinne aber ist stets nur dort möglich, wo man das Einzelfaktum in seinen Zusammenhängen erblickt. Wie in einem Gemälde dem Einzelgegenstand nicht eine absolute Farbe zukommt, sondern diese nur relativ richtig ist innerhalb der Farbengebung und Belichtung des Ganzen, so ist auch bei historischen Tat¬ sachen erst ein letztes Urteil möglich, wenn man sie in der Gesamtheit des Welt¬ geschehens miterblickt. Die plumpe Anschauung des Publikums, die dort überall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/194>, abgerufen am 01.07.2024.