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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Aräfte von innen

der Staat den Interessen ökonomisch-sozialer Machtgruppen dienstbar werde,
ist, wie die Erfahrungen des Krieges an unseren Feinden zeigen, nicht klein.
Die Staatsbürger verlieren bei dieser Entwicklung immer mehr das Recht, sich
selber Zweck zu sein; sie werden Mittel zum Zweck. Man glaube aber nicht,
daß diese Gefahr nur bei unseren Feinden groß wäre. Unsere sozialpolitische
Stimmung neigt zur Mechanisierung der Menschenseelen. Dies kommt auch
darin zum Ausdruck, wie man bei uns jetzt z. B. die Frage des Geburten¬
rückgangs anpackt. Man hält ihn für eine nationale Gefahr, aber weit
weniger um der moralischen Verderbnis willen, als weil man fürchtet,
die Wehrmacht des Staates könnte leiden. Mit der Seele wird auch
unser Patriotismus mechanisiert: ohne eine nicht zu kleine Summe von
"Kriegszielen" kann er nicht mehr leben. Daher die verfrühte Agitation
für Dinge und Werte, über die doch nur der wirkliche Ausgang des
Krieges entscheiden kann. Auch bei uns wird leider aus mißverstandener alt¬
preußischer Staatsgesinnung und aus gleichfalls mißverstandener neudeutscher
weltpolitischer Begeisterung ein Nationalismus groß, dem der Staat ein Gott
ist, und der unsere Flagge unbedingt in siegreicher Konkurrenz mit den Welt¬
mächten aller Erdteile sehen muß. Da möchte man unsere Regierung darauf
festlegen, nicht eher die Waffen ruhen zu lassen, als bis wir in Ostasien oder
Amerika jede kleinste Position wiedergewonnen hätten, die wir vor dem Kriege
inne hielten, und noch andere dazu. Bei diesem gewaltigen Umsturz aller Ver¬
hältnisse kommt es doch aber nur darauf an, das deutsche Volk und seinen
Staat überhaupt lebensfähig zu erhalten. Wenn das erreicht werden kann,
dann haben wir etwas Großes getan, auch wenn unser Wirtschaftsleben sich
zum Teil vielleicht anders einrichten müßte als vor dem Kriege. Das deutsche
Volk ist ganz und gar nicht verpflichtet, jeder Fabrikanten- oder Reederfirma
gerade die Lebensbedingungen und Absatzgebiete wieder zu verschaffen, die sie
vor dem Kriege hatte, oder noch bessere. Der Kapitalismus darf nicht aus¬
schließlich bestimmend in unserer Politik werden, oder wo er es schon ist, bleiben,
auch dann nicht, wenn er sich ein nationales Mäntelchen umhängt oder staats¬
sozialistisch auftritt. Staat, '.Partei, wirtschaftliche Unternehmung dürfen nicht
Zwecke an sich sein, und kategorisch sind die Pflichten nicht, die sie auferlegen.
Freilich darf noch viel weniger statt der Staats- und Pflichtvergötterung die
Vergötterung des einzelnen einreißen. Nicht der Individualismus kann den
Staatssozialismus überwinden, sondern nur das Bewußtsein der moralischen
Solidarität. Das allein kann auch Grundsatz des evangelischen Christentums
sein. Aber freilich, der Protestantismus verfügt nicht über die politische Macht,
die notwendig wäre, um ihn zur Geltung zu bringen. Mögen also, wie Scheler
hofft, zunächst die Katholiken das Ihre tun!

Scheler verkennt freilich nicht, daß auch der Katholizismus nicht ohne
innere Einkehr seiner Aufgabe genügen kann. Äußere parlamentarische Erfolge
vermögen noch nichts gegen den Zeitgeist. Der Katholizismus hält selber, nach


Aräfte von innen

der Staat den Interessen ökonomisch-sozialer Machtgruppen dienstbar werde,
ist, wie die Erfahrungen des Krieges an unseren Feinden zeigen, nicht klein.
Die Staatsbürger verlieren bei dieser Entwicklung immer mehr das Recht, sich
selber Zweck zu sein; sie werden Mittel zum Zweck. Man glaube aber nicht,
daß diese Gefahr nur bei unseren Feinden groß wäre. Unsere sozialpolitische
Stimmung neigt zur Mechanisierung der Menschenseelen. Dies kommt auch
darin zum Ausdruck, wie man bei uns jetzt z. B. die Frage des Geburten¬
rückgangs anpackt. Man hält ihn für eine nationale Gefahr, aber weit
weniger um der moralischen Verderbnis willen, als weil man fürchtet,
die Wehrmacht des Staates könnte leiden. Mit der Seele wird auch
unser Patriotismus mechanisiert: ohne eine nicht zu kleine Summe von
„Kriegszielen" kann er nicht mehr leben. Daher die verfrühte Agitation
für Dinge und Werte, über die doch nur der wirkliche Ausgang des
Krieges entscheiden kann. Auch bei uns wird leider aus mißverstandener alt¬
preußischer Staatsgesinnung und aus gleichfalls mißverstandener neudeutscher
weltpolitischer Begeisterung ein Nationalismus groß, dem der Staat ein Gott
ist, und der unsere Flagge unbedingt in siegreicher Konkurrenz mit den Welt¬
mächten aller Erdteile sehen muß. Da möchte man unsere Regierung darauf
festlegen, nicht eher die Waffen ruhen zu lassen, als bis wir in Ostasien oder
Amerika jede kleinste Position wiedergewonnen hätten, die wir vor dem Kriege
inne hielten, und noch andere dazu. Bei diesem gewaltigen Umsturz aller Ver¬
hältnisse kommt es doch aber nur darauf an, das deutsche Volk und seinen
Staat überhaupt lebensfähig zu erhalten. Wenn das erreicht werden kann,
dann haben wir etwas Großes getan, auch wenn unser Wirtschaftsleben sich
zum Teil vielleicht anders einrichten müßte als vor dem Kriege. Das deutsche
Volk ist ganz und gar nicht verpflichtet, jeder Fabrikanten- oder Reederfirma
gerade die Lebensbedingungen und Absatzgebiete wieder zu verschaffen, die sie
vor dem Kriege hatte, oder noch bessere. Der Kapitalismus darf nicht aus¬
schließlich bestimmend in unserer Politik werden, oder wo er es schon ist, bleiben,
auch dann nicht, wenn er sich ein nationales Mäntelchen umhängt oder staats¬
sozialistisch auftritt. Staat, '.Partei, wirtschaftliche Unternehmung dürfen nicht
Zwecke an sich sein, und kategorisch sind die Pflichten nicht, die sie auferlegen.
Freilich darf noch viel weniger statt der Staats- und Pflichtvergötterung die
Vergötterung des einzelnen einreißen. Nicht der Individualismus kann den
Staatssozialismus überwinden, sondern nur das Bewußtsein der moralischen
Solidarität. Das allein kann auch Grundsatz des evangelischen Christentums
sein. Aber freilich, der Protestantismus verfügt nicht über die politische Macht,
die notwendig wäre, um ihn zur Geltung zu bringen. Mögen also, wie Scheler
hofft, zunächst die Katholiken das Ihre tun!

Scheler verkennt freilich nicht, daß auch der Katholizismus nicht ohne
innere Einkehr seiner Aufgabe genügen kann. Äußere parlamentarische Erfolge
vermögen noch nichts gegen den Zeitgeist. Der Katholizismus hält selber, nach


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[0019] Aräfte von innen der Staat den Interessen ökonomisch-sozialer Machtgruppen dienstbar werde, ist, wie die Erfahrungen des Krieges an unseren Feinden zeigen, nicht klein. Die Staatsbürger verlieren bei dieser Entwicklung immer mehr das Recht, sich selber Zweck zu sein; sie werden Mittel zum Zweck. Man glaube aber nicht, daß diese Gefahr nur bei unseren Feinden groß wäre. Unsere sozialpolitische Stimmung neigt zur Mechanisierung der Menschenseelen. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, wie man bei uns jetzt z. B. die Frage des Geburten¬ rückgangs anpackt. Man hält ihn für eine nationale Gefahr, aber weit weniger um der moralischen Verderbnis willen, als weil man fürchtet, die Wehrmacht des Staates könnte leiden. Mit der Seele wird auch unser Patriotismus mechanisiert: ohne eine nicht zu kleine Summe von „Kriegszielen" kann er nicht mehr leben. Daher die verfrühte Agitation für Dinge und Werte, über die doch nur der wirkliche Ausgang des Krieges entscheiden kann. Auch bei uns wird leider aus mißverstandener alt¬ preußischer Staatsgesinnung und aus gleichfalls mißverstandener neudeutscher weltpolitischer Begeisterung ein Nationalismus groß, dem der Staat ein Gott ist, und der unsere Flagge unbedingt in siegreicher Konkurrenz mit den Welt¬ mächten aller Erdteile sehen muß. Da möchte man unsere Regierung darauf festlegen, nicht eher die Waffen ruhen zu lassen, als bis wir in Ostasien oder Amerika jede kleinste Position wiedergewonnen hätten, die wir vor dem Kriege inne hielten, und noch andere dazu. Bei diesem gewaltigen Umsturz aller Ver¬ hältnisse kommt es doch aber nur darauf an, das deutsche Volk und seinen Staat überhaupt lebensfähig zu erhalten. Wenn das erreicht werden kann, dann haben wir etwas Großes getan, auch wenn unser Wirtschaftsleben sich zum Teil vielleicht anders einrichten müßte als vor dem Kriege. Das deutsche Volk ist ganz und gar nicht verpflichtet, jeder Fabrikanten- oder Reederfirma gerade die Lebensbedingungen und Absatzgebiete wieder zu verschaffen, die sie vor dem Kriege hatte, oder noch bessere. Der Kapitalismus darf nicht aus¬ schließlich bestimmend in unserer Politik werden, oder wo er es schon ist, bleiben, auch dann nicht, wenn er sich ein nationales Mäntelchen umhängt oder staats¬ sozialistisch auftritt. Staat, '.Partei, wirtschaftliche Unternehmung dürfen nicht Zwecke an sich sein, und kategorisch sind die Pflichten nicht, die sie auferlegen. Freilich darf noch viel weniger statt der Staats- und Pflichtvergötterung die Vergötterung des einzelnen einreißen. Nicht der Individualismus kann den Staatssozialismus überwinden, sondern nur das Bewußtsein der moralischen Solidarität. Das allein kann auch Grundsatz des evangelischen Christentums sein. Aber freilich, der Protestantismus verfügt nicht über die politische Macht, die notwendig wäre, um ihn zur Geltung zu bringen. Mögen also, wie Scheler hofft, zunächst die Katholiken das Ihre tun! Scheler verkennt freilich nicht, daß auch der Katholizismus nicht ohne innere Einkehr seiner Aufgabe genügen kann. Äußere parlamentarische Erfolge vermögen noch nichts gegen den Zeitgeist. Der Katholizismus hält selber, nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/19>, abgerufen am 29.06.2024.