Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Kräfte, von innen

Da nun die Verfeindung der europäischen Völker nicht dauernd so tief
bleiben kann wie in der jetzigen Katastrophe, so bedarf es nach Scheler neuer
Kräfte nicht mehr aus der menschlichen Gesellschaft heraus, sondern aus der
Höhe der moralisch-religiösen Gedankenwelt. Hier findet seiner Überzeugung
nach vor allem der Katholizismus eine gewaltige Aufgabe. Was Europa an
geistiger Gemeinbürgschaft und moralischem Einheitsgefühl bereits besessen habe,
das gehe historisch auf die gemeinsame christliche Erziehung zurück, die es unter
der Autorität der Kirche durchgemacht habe. Diese moralische Einheit sei -- bei
allem gleichzeitigen materiellen und wissenschaftlichen Aufstieg! -- in einer
jahrhundertelangen Zerfallsentwicklung aufgelöst worden. Aus der jetzigen
Katastrophe müßten wir die heilsame Enttäuschung lernen, die zur Umkehr
führe. Da die materielle und wissenschaftliche Entwicklung keine Hoffnung lasse
auf eine Milderung der nationalpolitischen und wirtschaftlichen Konkurrenz der
Völker, so könne die Kraft zu größerem Frieden nur aus dem christlichen
Solidaritätsgefühl kommen. Man müsse aus böser Erfahrung wieder lernen,
daß die Menschen nicht nur für sich selbst, sondern auch für einander ver¬
antwortlich seien, auch Partei für Partei, Volk für Volk.

Dieses moralische christliche Solidaritätsgefühl Aars man nicht verwechseln
mit dem politisch-ökonomischen Sozialismus. Der Krieg treibt uns in die
Arme eines weitgehenden Staatssozialismus. Als vorübergehende bittere
Medizin ist er von Segen, aber auf die Dauer müßte er tödlich auf die besten
Kräfte der deutschen Seele wirken. Scheler gelangt hier zu einer kleinen Ab¬
rechnung mit gewissen Konsequenzen der Kantschen Philosophie. Der kategorische
Imperativ des absoluten formalen Pflichtgebots um jeden Preis und bei jeder
Gelegenheit mechanisiert unsere Arbeit und tötet in seiner reinen Nüchternheit
die innere freudige Freiheit, die die Menschen nur da behalten, wo sie ihr
Leben lang ein kindliches Bewußtsein, das christliche Bewußtsein der Kinder
Gottes, behalten. In der Tat dürfte nicht etwa bloß das katholische, sondern
auch das protestantische Christentum von seiner evangelischen Ethik aus Grund
haben, sich gegen den Moralmechanismus des kategorischen Imperativs zu
wehren. Die Entwicklung, die uns im Kriege alle zu Arbeitern an der einen
allumfassenden Staatsmaschine macht, an der jeder nichts weiter tun soll, als
das ihm anvertraute Rädchen zu bedienen, ist jetzt zwar eine Notwendigkeit,
im zukünftigen Frieden aber wäre sie kein Segen. Sie würde uns alle in
Gefahr bringen, in den Dienst kapitalistischer Selbstsucht zu geraten, die längst
begonnen hat. Staaten und Nationen in ihrer Totalität zu beherrschen, und
die darauf um so mehr angewiesen sein wird, je mehr die Sozialisierung fort¬
schreitet. Die formale Pflicht, dem Ganzen um jeden Preis zu dienen, kann
die Menschen unter Umständen in die Lage bringen, der zur Staatsmacht
gelangten wirtschaftlichen Selbstsucht zu frontem. Denn, wie Scheler mit Recht
bemerkt, der Staatssozialismus bedeutet keine Überwindung des kapitalistischen
Egoismus, sondern nur seine Übertragung auf den Staat. Die Gefahr, daß


Kräfte, von innen

Da nun die Verfeindung der europäischen Völker nicht dauernd so tief
bleiben kann wie in der jetzigen Katastrophe, so bedarf es nach Scheler neuer
Kräfte nicht mehr aus der menschlichen Gesellschaft heraus, sondern aus der
Höhe der moralisch-religiösen Gedankenwelt. Hier findet seiner Überzeugung
nach vor allem der Katholizismus eine gewaltige Aufgabe. Was Europa an
geistiger Gemeinbürgschaft und moralischem Einheitsgefühl bereits besessen habe,
das gehe historisch auf die gemeinsame christliche Erziehung zurück, die es unter
der Autorität der Kirche durchgemacht habe. Diese moralische Einheit sei — bei
allem gleichzeitigen materiellen und wissenschaftlichen Aufstieg! — in einer
jahrhundertelangen Zerfallsentwicklung aufgelöst worden. Aus der jetzigen
Katastrophe müßten wir die heilsame Enttäuschung lernen, die zur Umkehr
führe. Da die materielle und wissenschaftliche Entwicklung keine Hoffnung lasse
auf eine Milderung der nationalpolitischen und wirtschaftlichen Konkurrenz der
Völker, so könne die Kraft zu größerem Frieden nur aus dem christlichen
Solidaritätsgefühl kommen. Man müsse aus böser Erfahrung wieder lernen,
daß die Menschen nicht nur für sich selbst, sondern auch für einander ver¬
antwortlich seien, auch Partei für Partei, Volk für Volk.

Dieses moralische christliche Solidaritätsgefühl Aars man nicht verwechseln
mit dem politisch-ökonomischen Sozialismus. Der Krieg treibt uns in die
Arme eines weitgehenden Staatssozialismus. Als vorübergehende bittere
Medizin ist er von Segen, aber auf die Dauer müßte er tödlich auf die besten
Kräfte der deutschen Seele wirken. Scheler gelangt hier zu einer kleinen Ab¬
rechnung mit gewissen Konsequenzen der Kantschen Philosophie. Der kategorische
Imperativ des absoluten formalen Pflichtgebots um jeden Preis und bei jeder
Gelegenheit mechanisiert unsere Arbeit und tötet in seiner reinen Nüchternheit
die innere freudige Freiheit, die die Menschen nur da behalten, wo sie ihr
Leben lang ein kindliches Bewußtsein, das christliche Bewußtsein der Kinder
Gottes, behalten. In der Tat dürfte nicht etwa bloß das katholische, sondern
auch das protestantische Christentum von seiner evangelischen Ethik aus Grund
haben, sich gegen den Moralmechanismus des kategorischen Imperativs zu
wehren. Die Entwicklung, die uns im Kriege alle zu Arbeitern an der einen
allumfassenden Staatsmaschine macht, an der jeder nichts weiter tun soll, als
das ihm anvertraute Rädchen zu bedienen, ist jetzt zwar eine Notwendigkeit,
im zukünftigen Frieden aber wäre sie kein Segen. Sie würde uns alle in
Gefahr bringen, in den Dienst kapitalistischer Selbstsucht zu geraten, die längst
begonnen hat. Staaten und Nationen in ihrer Totalität zu beherrschen, und
die darauf um so mehr angewiesen sein wird, je mehr die Sozialisierung fort¬
schreitet. Die formale Pflicht, dem Ganzen um jeden Preis zu dienen, kann
die Menschen unter Umständen in die Lage bringen, der zur Staatsmacht
gelangten wirtschaftlichen Selbstsucht zu frontem. Denn, wie Scheler mit Recht
bemerkt, der Staatssozialismus bedeutet keine Überwindung des kapitalistischen
Egoismus, sondern nur seine Übertragung auf den Staat. Die Gefahr, daß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332297"/>
          <fw type="header" place="top"> Kräfte, von innen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_13"> Da nun die Verfeindung der europäischen Völker nicht dauernd so tief<lb/>
bleiben kann wie in der jetzigen Katastrophe, so bedarf es nach Scheler neuer<lb/>
Kräfte nicht mehr aus der menschlichen Gesellschaft heraus, sondern aus der<lb/>
Höhe der moralisch-religiösen Gedankenwelt. Hier findet seiner Überzeugung<lb/>
nach vor allem der Katholizismus eine gewaltige Aufgabe. Was Europa an<lb/>
geistiger Gemeinbürgschaft und moralischem Einheitsgefühl bereits besessen habe,<lb/>
das gehe historisch auf die gemeinsame christliche Erziehung zurück, die es unter<lb/>
der Autorität der Kirche durchgemacht habe. Diese moralische Einheit sei &#x2014; bei<lb/>
allem gleichzeitigen materiellen und wissenschaftlichen Aufstieg! &#x2014; in einer<lb/>
jahrhundertelangen Zerfallsentwicklung aufgelöst worden. Aus der jetzigen<lb/>
Katastrophe müßten wir die heilsame Enttäuschung lernen, die zur Umkehr<lb/>
führe. Da die materielle und wissenschaftliche Entwicklung keine Hoffnung lasse<lb/>
auf eine Milderung der nationalpolitischen und wirtschaftlichen Konkurrenz der<lb/>
Völker, so könne die Kraft zu größerem Frieden nur aus dem christlichen<lb/>
Solidaritätsgefühl kommen. Man müsse aus böser Erfahrung wieder lernen,<lb/>
daß die Menschen nicht nur für sich selbst, sondern auch für einander ver¬<lb/>
antwortlich seien, auch Partei für Partei, Volk für Volk.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_14" next="#ID_15"> Dieses moralische christliche Solidaritätsgefühl Aars man nicht verwechseln<lb/>
mit dem politisch-ökonomischen Sozialismus. Der Krieg treibt uns in die<lb/>
Arme eines weitgehenden Staatssozialismus. Als vorübergehende bittere<lb/>
Medizin ist er von Segen, aber auf die Dauer müßte er tödlich auf die besten<lb/>
Kräfte der deutschen Seele wirken. Scheler gelangt hier zu einer kleinen Ab¬<lb/>
rechnung mit gewissen Konsequenzen der Kantschen Philosophie. Der kategorische<lb/>
Imperativ des absoluten formalen Pflichtgebots um jeden Preis und bei jeder<lb/>
Gelegenheit mechanisiert unsere Arbeit und tötet in seiner reinen Nüchternheit<lb/>
die innere freudige Freiheit, die die Menschen nur da behalten, wo sie ihr<lb/>
Leben lang ein kindliches Bewußtsein, das christliche Bewußtsein der Kinder<lb/>
Gottes, behalten. In der Tat dürfte nicht etwa bloß das katholische, sondern<lb/>
auch das protestantische Christentum von seiner evangelischen Ethik aus Grund<lb/>
haben, sich gegen den Moralmechanismus des kategorischen Imperativs zu<lb/>
wehren. Die Entwicklung, die uns im Kriege alle zu Arbeitern an der einen<lb/>
allumfassenden Staatsmaschine macht, an der jeder nichts weiter tun soll, als<lb/>
das ihm anvertraute Rädchen zu bedienen, ist jetzt zwar eine Notwendigkeit,<lb/>
im zukünftigen Frieden aber wäre sie kein Segen. Sie würde uns alle in<lb/>
Gefahr bringen, in den Dienst kapitalistischer Selbstsucht zu geraten, die längst<lb/>
begonnen hat. Staaten und Nationen in ihrer Totalität zu beherrschen, und<lb/>
die darauf um so mehr angewiesen sein wird, je mehr die Sozialisierung fort¬<lb/>
schreitet. Die formale Pflicht, dem Ganzen um jeden Preis zu dienen, kann<lb/>
die Menschen unter Umständen in die Lage bringen, der zur Staatsmacht<lb/>
gelangten wirtschaftlichen Selbstsucht zu frontem. Denn, wie Scheler mit Recht<lb/>
bemerkt, der Staatssozialismus bedeutet keine Überwindung des kapitalistischen<lb/>
Egoismus, sondern nur seine Übertragung auf den Staat. Die Gefahr, daß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] Kräfte, von innen Da nun die Verfeindung der europäischen Völker nicht dauernd so tief bleiben kann wie in der jetzigen Katastrophe, so bedarf es nach Scheler neuer Kräfte nicht mehr aus der menschlichen Gesellschaft heraus, sondern aus der Höhe der moralisch-religiösen Gedankenwelt. Hier findet seiner Überzeugung nach vor allem der Katholizismus eine gewaltige Aufgabe. Was Europa an geistiger Gemeinbürgschaft und moralischem Einheitsgefühl bereits besessen habe, das gehe historisch auf die gemeinsame christliche Erziehung zurück, die es unter der Autorität der Kirche durchgemacht habe. Diese moralische Einheit sei — bei allem gleichzeitigen materiellen und wissenschaftlichen Aufstieg! — in einer jahrhundertelangen Zerfallsentwicklung aufgelöst worden. Aus der jetzigen Katastrophe müßten wir die heilsame Enttäuschung lernen, die zur Umkehr führe. Da die materielle und wissenschaftliche Entwicklung keine Hoffnung lasse auf eine Milderung der nationalpolitischen und wirtschaftlichen Konkurrenz der Völker, so könne die Kraft zu größerem Frieden nur aus dem christlichen Solidaritätsgefühl kommen. Man müsse aus böser Erfahrung wieder lernen, daß die Menschen nicht nur für sich selbst, sondern auch für einander ver¬ antwortlich seien, auch Partei für Partei, Volk für Volk. Dieses moralische christliche Solidaritätsgefühl Aars man nicht verwechseln mit dem politisch-ökonomischen Sozialismus. Der Krieg treibt uns in die Arme eines weitgehenden Staatssozialismus. Als vorübergehende bittere Medizin ist er von Segen, aber auf die Dauer müßte er tödlich auf die besten Kräfte der deutschen Seele wirken. Scheler gelangt hier zu einer kleinen Ab¬ rechnung mit gewissen Konsequenzen der Kantschen Philosophie. Der kategorische Imperativ des absoluten formalen Pflichtgebots um jeden Preis und bei jeder Gelegenheit mechanisiert unsere Arbeit und tötet in seiner reinen Nüchternheit die innere freudige Freiheit, die die Menschen nur da behalten, wo sie ihr Leben lang ein kindliches Bewußtsein, das christliche Bewußtsein der Kinder Gottes, behalten. In der Tat dürfte nicht etwa bloß das katholische, sondern auch das protestantische Christentum von seiner evangelischen Ethik aus Grund haben, sich gegen den Moralmechanismus des kategorischen Imperativs zu wehren. Die Entwicklung, die uns im Kriege alle zu Arbeitern an der einen allumfassenden Staatsmaschine macht, an der jeder nichts weiter tun soll, als das ihm anvertraute Rädchen zu bedienen, ist jetzt zwar eine Notwendigkeit, im zukünftigen Frieden aber wäre sie kein Segen. Sie würde uns alle in Gefahr bringen, in den Dienst kapitalistischer Selbstsucht zu geraten, die längst begonnen hat. Staaten und Nationen in ihrer Totalität zu beherrschen, und die darauf um so mehr angewiesen sein wird, je mehr die Sozialisierung fort¬ schreitet. Die formale Pflicht, dem Ganzen um jeden Preis zu dienen, kann die Menschen unter Umständen in die Lage bringen, der zur Staatsmacht gelangten wirtschaftlichen Selbstsucht zu frontem. Denn, wie Scheler mit Recht bemerkt, der Staatssozialismus bedeutet keine Überwindung des kapitalistischen Egoismus, sondern nur seine Übertragung auf den Staat. Die Gefahr, daß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/18
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/18>, abgerufen am 29.06.2024.