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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Grundsätzliches zum Thema "Gymnasium und Universität"

die gegen die Kraft- und Zeitvergeudung durch den französischen Unterricht der
unteren und mittleren Stufen gerichtet sind. Immer noch sehen unzählige Neu¬
philologen im französischen Aufsatz eine (oder gar: die) besonders wichtige
Zielleistung, die des fast täglichen Schweißes während neun Schuljahre wert sei.
Nicht ohne guten Grund wird in den Kreisen der höheren Schule viel gelächelt
über die weitverbreiteten neusprachlichen Dummejungen- und Backfischgeschichten,
die ihren pädagogischen Daseinsgrund einzig in der Möglichkeit einer "Aus¬
beutung" zu rein formalen Sprach- und Schreibübungen haben.....

Doch genug der Unerquicklichkeiten! Was die vielberufene "Erkenntnis
unseres Kulturlebens nach Zusammenhang und Aufgaben" betrifft, so stehen --
mindestens nach der wichtigen Seite des sprachlich-literarischen Unterrichts --
Gymnasien und Realanstalten den tatsächlichen Erfordernissen gleich unzulänglich
gegenüber. Ein Weniger an Überschwenglichkeit in den Zielforderungen seitens
der Lehrpläne würde sehr wohl ein Mehr an innerlich und dauernd wertvollen
Erkennen und Wissen zur Folge haben können I

Drittens wird die offenkundige Tatsache vielfach übersehen, daß -- an sich
betrachtet, wie auch im Hinblick auf künftige akademische Studien -- der innere
Wert jeglicher höheren Geistesbildung erst in zweiter Linie durch die Art und
den Umfang des Lehrstoffes bedingt wird; an erster Stelle hat die Frage der
Vehandlungsweise zu stehen, im großen wie im kleinen. Im allgemeinen werden
"ohl auf feiten der Realanstalten die meisten Sünden gegen das pädagogische
Verbot des "didaktischen Materialismus", der enzyklopädischen Stoffanhäufung
ohne ausreichende geistige Durchdringung, begangen. Darin dürfte viel mehr,
als gemeinhin zugestanden wird, der Grund zu erblicken sein, weswegen nach Ansicht
Mancher Hochschullehrer vielen Realabiturienten die Neigung und Fähigkeit
SU beharrlicher Vertiefung in wissenschaftliche Einzelforschung mehr oder minder
abgeht. Man hüte sich vor dem höchst bedenklichen Quidproquo. das den Lehr¬
stoffen als solchen Vorzüge oder Mängel zuschreibt, die in Wahrheit großenteils
in der üblichen unterrichtltchen BeHandlungsweise ihren Grund haben. Zweck¬
dienlich wäre es darum, wenn die Realanstalten (und ähnlich die ihnen nach¬
eifernden Lyzeen) in dem angedeuteten Sinne ihre Lehrpläne gründlich nach¬
prüften und unerbittlich alles entfernten, was nicht zwingender pädagogischer
Notwendigkeit standhält.

Viertens steht zu erwägen, ob an die Stelle der vielen professoralen
Erklärungen über die sogenannte beste Art der Universitätsvorbereitung nicht
lieber eine ernstliche Selbstbesinnung auf die Lehr- und Lernmethoden des
akademischen Unterrichts als solchen wie seiner naturgemäßen Beziehungen
Zum höheren Schulunterricht getreten wäre. Allerdings hatten es die Hoch¬
schullehrer früherer Zeiten sehr viel leichter, da sie mit einem (annähernd)
gleichmäßigen Grade der Fachvorbildung bei allen Zuhörern rechnen konnten.
Doch darf nicht vergessen werden, daß der gewiß nicht zu bestreitenden Er¬
niedrigung des sogenannten "geistigen Niveaus" in einigen Studiengebieten


Grundsätzliches zum Thema „Gymnasium und Universität"

die gegen die Kraft- und Zeitvergeudung durch den französischen Unterricht der
unteren und mittleren Stufen gerichtet sind. Immer noch sehen unzählige Neu¬
philologen im französischen Aufsatz eine (oder gar: die) besonders wichtige
Zielleistung, die des fast täglichen Schweißes während neun Schuljahre wert sei.
Nicht ohne guten Grund wird in den Kreisen der höheren Schule viel gelächelt
über die weitverbreiteten neusprachlichen Dummejungen- und Backfischgeschichten,
die ihren pädagogischen Daseinsgrund einzig in der Möglichkeit einer „Aus¬
beutung" zu rein formalen Sprach- und Schreibübungen haben.....

Doch genug der Unerquicklichkeiten! Was die vielberufene „Erkenntnis
unseres Kulturlebens nach Zusammenhang und Aufgaben" betrifft, so stehen —
mindestens nach der wichtigen Seite des sprachlich-literarischen Unterrichts —
Gymnasien und Realanstalten den tatsächlichen Erfordernissen gleich unzulänglich
gegenüber. Ein Weniger an Überschwenglichkeit in den Zielforderungen seitens
der Lehrpläne würde sehr wohl ein Mehr an innerlich und dauernd wertvollen
Erkennen und Wissen zur Folge haben können I

Drittens wird die offenkundige Tatsache vielfach übersehen, daß — an sich
betrachtet, wie auch im Hinblick auf künftige akademische Studien — der innere
Wert jeglicher höheren Geistesbildung erst in zweiter Linie durch die Art und
den Umfang des Lehrstoffes bedingt wird; an erster Stelle hat die Frage der
Vehandlungsweise zu stehen, im großen wie im kleinen. Im allgemeinen werden
«ohl auf feiten der Realanstalten die meisten Sünden gegen das pädagogische
Verbot des „didaktischen Materialismus", der enzyklopädischen Stoffanhäufung
ohne ausreichende geistige Durchdringung, begangen. Darin dürfte viel mehr,
als gemeinhin zugestanden wird, der Grund zu erblicken sein, weswegen nach Ansicht
Mancher Hochschullehrer vielen Realabiturienten die Neigung und Fähigkeit
SU beharrlicher Vertiefung in wissenschaftliche Einzelforschung mehr oder minder
abgeht. Man hüte sich vor dem höchst bedenklichen Quidproquo. das den Lehr¬
stoffen als solchen Vorzüge oder Mängel zuschreibt, die in Wahrheit großenteils
in der üblichen unterrichtltchen BeHandlungsweise ihren Grund haben. Zweck¬
dienlich wäre es darum, wenn die Realanstalten (und ähnlich die ihnen nach¬
eifernden Lyzeen) in dem angedeuteten Sinne ihre Lehrpläne gründlich nach¬
prüften und unerbittlich alles entfernten, was nicht zwingender pädagogischer
Notwendigkeit standhält.

Viertens steht zu erwägen, ob an die Stelle der vielen professoralen
Erklärungen über die sogenannte beste Art der Universitätsvorbereitung nicht
lieber eine ernstliche Selbstbesinnung auf die Lehr- und Lernmethoden des
akademischen Unterrichts als solchen wie seiner naturgemäßen Beziehungen
Zum höheren Schulunterricht getreten wäre. Allerdings hatten es die Hoch¬
schullehrer früherer Zeiten sehr viel leichter, da sie mit einem (annähernd)
gleichmäßigen Grade der Fachvorbildung bei allen Zuhörern rechnen konnten.
Doch darf nicht vergessen werden, daß der gewiß nicht zu bestreitenden Er¬
niedrigung des sogenannten „geistigen Niveaus" in einigen Studiengebieten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/185>, abgerufen am 01.07.2024.