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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Grundsätzliches zum Thema "Gymnasium und Universität"

aber übereinstimmende Arbeit soll in Zukunft von ihr noch entschiedener als
bisher geleistet werden.

Zum zweiten ist zu erwägen, ob bzw. inwieweit die Erkenntnis unseres
Kulturlebens nach seinen tieferen Zusammenhängen und seinen Aufgaben, durch
die gymnasiale und die realistische Bildung, in einem für akademische Unterrichts¬
zwecke genügenden Umfange tatsächlich vermittelt werde. Bei den schier un¬
übersehbaren Äußerungen zu diesem wichtigen Grundproblem wird meines Tr¬
achtens in der Regel nicht deutlich unterschieden zwischen den papierener, wenn
auch gut gemeinten Anforderungen und der blutvollen Wirklichkeit. Aus¬
drücklich sei von vornherein zugegeben, daß bei einem darauf bezüglichen Ver¬
gleich die gymnasiale Vorbildung im ganzen sicher nicht schlechter abschneidet
als die realistische.

Aus verschiedenen Gründen ist es an dieser Stelle nicht möglich, mehr
als bloße Andeutungen zur Erläuterung zu geben. Das folgende beschränkt
sich auf die sprachlich-literarischen Unterrichtsfächer. Abgesehen von einigen
wenigen, durch Überlieferung u. a. besonders gut gestellten Schulen dieser Art,
kann das heutige humanistische Gymnasium, seiner sonstigen Vorzüge unbe¬
schadet, nur noch in sehr bedingtem Grade als eine billigen Anforderungen
gerecht werdende "Einführung in das klassische Altertum als Grundlage unseres
Kulturlebens" angesehen werden. Daran hindert es schon die Zahl der be¬
denklich angeschwollenen Fächer nicht-humanistischen Charakters; daran hindert
es vor allem auch die übermäßige Betonung des Grammatischen und des
Literarisch-Ästhethischen. Ferner bedeutet die mangelnde Bereitwilligkeit führender
Gymnasialkreise zur unterrichtlichen Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse
(z. B. vergleichende Sprachwissenschaft, Archäologie u. a. in.) zum mindesten
keinen Anreiz zu einer besonderen Wertschätzung von seiten besser unterrichteter
Kreise. Am augenfälligsten aber scheint mir, daß die früher verhältnismäßig
so umfangreiche Auswahlmöglichkeit auf dem Gebiete der antiken Schriftsteller¬
lektüre nach und nach einem zwar bequemen, aber leider stark konventionellen
und einseitigen "Kanon" gewichen ist, als dessen Folge eine wunderliche Ver¬
renkung und Entstellung der Gesamtansicht der Antike bei den meisten humanistisch
Gebildeten genannt werden muß. Es ist sehr leicht, zu reden von "der antiken
Kulturwelt als der Wurzel der modernen". Aber wie viele Gymnasial¬
abiturienten -- soweit sie nicht Philologen von Fach sind -- verbinden dann
genügende, d. h. auf eigene Lektüre gegründete Vorstellung, mit Namen wie
Plautus und Terenz, Seneca, Plutarch, Lukian, Strabo, Aristoteles, Polybius?
Oder sind die genannten Ouellenschriftsteller für jede nicht ganz oberflächliche
Kenntnis der Literatur- bezw. Kultur- und Wissenschaftsgeschichte entbehrlich?
Ich beeile mich, hinzuzufügen, daß es die Realanstalten mutati8 mutanäis
nicht besser machen. Immer noch steht bei ihnen das Dogma von dem an¬
geblich so hervorragend formal-bildenden Wert der französischen Grammatik in
hohem Ansehen und wird zum Stützpunkt der Verteidigung gegen alle Angriffe,


Grundsätzliches zum Thema „Gymnasium und Universität"

aber übereinstimmende Arbeit soll in Zukunft von ihr noch entschiedener als
bisher geleistet werden.

Zum zweiten ist zu erwägen, ob bzw. inwieweit die Erkenntnis unseres
Kulturlebens nach seinen tieferen Zusammenhängen und seinen Aufgaben, durch
die gymnasiale und die realistische Bildung, in einem für akademische Unterrichts¬
zwecke genügenden Umfange tatsächlich vermittelt werde. Bei den schier un¬
übersehbaren Äußerungen zu diesem wichtigen Grundproblem wird meines Tr¬
achtens in der Regel nicht deutlich unterschieden zwischen den papierener, wenn
auch gut gemeinten Anforderungen und der blutvollen Wirklichkeit. Aus¬
drücklich sei von vornherein zugegeben, daß bei einem darauf bezüglichen Ver¬
gleich die gymnasiale Vorbildung im ganzen sicher nicht schlechter abschneidet
als die realistische.

Aus verschiedenen Gründen ist es an dieser Stelle nicht möglich, mehr
als bloße Andeutungen zur Erläuterung zu geben. Das folgende beschränkt
sich auf die sprachlich-literarischen Unterrichtsfächer. Abgesehen von einigen
wenigen, durch Überlieferung u. a. besonders gut gestellten Schulen dieser Art,
kann das heutige humanistische Gymnasium, seiner sonstigen Vorzüge unbe¬
schadet, nur noch in sehr bedingtem Grade als eine billigen Anforderungen
gerecht werdende „Einführung in das klassische Altertum als Grundlage unseres
Kulturlebens" angesehen werden. Daran hindert es schon die Zahl der be¬
denklich angeschwollenen Fächer nicht-humanistischen Charakters; daran hindert
es vor allem auch die übermäßige Betonung des Grammatischen und des
Literarisch-Ästhethischen. Ferner bedeutet die mangelnde Bereitwilligkeit führender
Gymnasialkreise zur unterrichtlichen Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse
(z. B. vergleichende Sprachwissenschaft, Archäologie u. a. in.) zum mindesten
keinen Anreiz zu einer besonderen Wertschätzung von seiten besser unterrichteter
Kreise. Am augenfälligsten aber scheint mir, daß die früher verhältnismäßig
so umfangreiche Auswahlmöglichkeit auf dem Gebiete der antiken Schriftsteller¬
lektüre nach und nach einem zwar bequemen, aber leider stark konventionellen
und einseitigen „Kanon" gewichen ist, als dessen Folge eine wunderliche Ver¬
renkung und Entstellung der Gesamtansicht der Antike bei den meisten humanistisch
Gebildeten genannt werden muß. Es ist sehr leicht, zu reden von „der antiken
Kulturwelt als der Wurzel der modernen". Aber wie viele Gymnasial¬
abiturienten — soweit sie nicht Philologen von Fach sind — verbinden dann
genügende, d. h. auf eigene Lektüre gegründete Vorstellung, mit Namen wie
Plautus und Terenz, Seneca, Plutarch, Lukian, Strabo, Aristoteles, Polybius?
Oder sind die genannten Ouellenschriftsteller für jede nicht ganz oberflächliche
Kenntnis der Literatur- bezw. Kultur- und Wissenschaftsgeschichte entbehrlich?
Ich beeile mich, hinzuzufügen, daß es die Realanstalten mutati8 mutanäis
nicht besser machen. Immer noch steht bei ihnen das Dogma von dem an¬
geblich so hervorragend formal-bildenden Wert der französischen Grammatik in
hohem Ansehen und wird zum Stützpunkt der Verteidigung gegen alle Angriffe,


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[0184] Grundsätzliches zum Thema „Gymnasium und Universität" aber übereinstimmende Arbeit soll in Zukunft von ihr noch entschiedener als bisher geleistet werden. Zum zweiten ist zu erwägen, ob bzw. inwieweit die Erkenntnis unseres Kulturlebens nach seinen tieferen Zusammenhängen und seinen Aufgaben, durch die gymnasiale und die realistische Bildung, in einem für akademische Unterrichts¬ zwecke genügenden Umfange tatsächlich vermittelt werde. Bei den schier un¬ übersehbaren Äußerungen zu diesem wichtigen Grundproblem wird meines Tr¬ achtens in der Regel nicht deutlich unterschieden zwischen den papierener, wenn auch gut gemeinten Anforderungen und der blutvollen Wirklichkeit. Aus¬ drücklich sei von vornherein zugegeben, daß bei einem darauf bezüglichen Ver¬ gleich die gymnasiale Vorbildung im ganzen sicher nicht schlechter abschneidet als die realistische. Aus verschiedenen Gründen ist es an dieser Stelle nicht möglich, mehr als bloße Andeutungen zur Erläuterung zu geben. Das folgende beschränkt sich auf die sprachlich-literarischen Unterrichtsfächer. Abgesehen von einigen wenigen, durch Überlieferung u. a. besonders gut gestellten Schulen dieser Art, kann das heutige humanistische Gymnasium, seiner sonstigen Vorzüge unbe¬ schadet, nur noch in sehr bedingtem Grade als eine billigen Anforderungen gerecht werdende „Einführung in das klassische Altertum als Grundlage unseres Kulturlebens" angesehen werden. Daran hindert es schon die Zahl der be¬ denklich angeschwollenen Fächer nicht-humanistischen Charakters; daran hindert es vor allem auch die übermäßige Betonung des Grammatischen und des Literarisch-Ästhethischen. Ferner bedeutet die mangelnde Bereitwilligkeit führender Gymnasialkreise zur unterrichtlichen Verwertung wissenschaftlicher Ergebnisse (z. B. vergleichende Sprachwissenschaft, Archäologie u. a. in.) zum mindesten keinen Anreiz zu einer besonderen Wertschätzung von seiten besser unterrichteter Kreise. Am augenfälligsten aber scheint mir, daß die früher verhältnismäßig so umfangreiche Auswahlmöglichkeit auf dem Gebiete der antiken Schriftsteller¬ lektüre nach und nach einem zwar bequemen, aber leider stark konventionellen und einseitigen „Kanon" gewichen ist, als dessen Folge eine wunderliche Ver¬ renkung und Entstellung der Gesamtansicht der Antike bei den meisten humanistisch Gebildeten genannt werden muß. Es ist sehr leicht, zu reden von „der antiken Kulturwelt als der Wurzel der modernen". Aber wie viele Gymnasial¬ abiturienten — soweit sie nicht Philologen von Fach sind — verbinden dann genügende, d. h. auf eigene Lektüre gegründete Vorstellung, mit Namen wie Plautus und Terenz, Seneca, Plutarch, Lukian, Strabo, Aristoteles, Polybius? Oder sind die genannten Ouellenschriftsteller für jede nicht ganz oberflächliche Kenntnis der Literatur- bezw. Kultur- und Wissenschaftsgeschichte entbehrlich? Ich beeile mich, hinzuzufügen, daß es die Realanstalten mutati8 mutanäis nicht besser machen. Immer noch steht bei ihnen das Dogma von dem an¬ geblich so hervorragend formal-bildenden Wert der französischen Grammatik in hohem Ansehen und wird zum Stützpunkt der Verteidigung gegen alle Angriffe,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/184>, abgerufen am 01.07.2024.