Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zustände in Polen

Auf dem polnischen Kriegsschauplatze ist, mit "zuwarten", ebensowenig
getan, wie auf allen anderen. Zuwarten kann man unter Umständen und in
Zeitläuften, die es gestatten feindliche Kräfte langsam auszuscheiden, zu isolieren
und sich auslösen zu lassen.

Die Beurteilung der Zustände in Polen durch unsere dortigen "verant¬
wortlichen Persönlichkeiten", wie sie sich in Massows Ausführungen wiederspiegelt,
ist, wenn wir zugeben könnten, daß die Aufgabenstellung für die deutsche
Verwaltung eine richtige, will sagen zweckmäßige ist, vor allem ein Ausfluß der
Unterschätzung des russischen Einflusses auf die Entwicklung des polnischen
Denkens und der Anwendung falscher Maßstäbe für die Bewertung dessen, was
die Polen wollen können. Nach Massows Ausführungen scheint aber "die
Auffassung unserer Verwaltung in Polen" gar nicht auf das zweckmäßige real¬
politisch deutsche, sondern aus irgendeine Beglückungsidee gerichtet zu sein.
"Es braucht Zeit, bis da alles in Gleichgewicht und Harmonie kommt", schreibt
Herr von Massow und fährt fort: "Die Russen haben dort so lange einen
Berufsstand gegen den andern, ein Bekenntnis gegen das andere ausgespielt,
daß es ein blaues Wunder wäre, wenn man schon jetzt aus einzelnen
Stimmen eine feste maßgebende Ansicht über Polens Zukunft herauserkennen
könnte."

Gewiß, wenn man alles leugnet oder unter den Tisch fallen läßt, was der
a priori gefaßten Meinung widerspricht, kann man zu dem Ergebnis der Gewährs¬
leute des Herrn von Massow kommen, daß eine feste Meinung bei den Polen über
ihre eigenen Wünsche an die Zukunft noch nicht vorhanden sei. Die Herren haben
auch im gewissen Sinne Recht. Der polnische Bauer sagt: "Mir ist es gleich¬
gültig, für welchen Herrn ich arbeiten muß, wenn ich nur meine Ruhe habe";
die Großgrundbesitzer sind gespalten je nach den Interessen, die sie außerhalb des
Weichselgebietes, etwa in der Ukraina, haben oder nicht; die Fabrikanten können
sich nicht vorstellen, daß sie irgendwo und wie besser verdienen könnten als im
Anschluß an das russische Hinterland und die Kaufleute antworten ausweichend:
"Wir haben an den Deutschen und Russen verdienet" Sind das aber Ma߬
stäbe? Nein! Die Maßstäbe und großen Richtlinien der Entwicklung von
Nationen in kritischen Zeiten wie den jetzigen geben nicht die Gewerbetreibenden
-- ohne deren Einfluß unterschätzen zu wollen -- sondern die geistigen Führer,
wo staatliche Führer fehlen! Und diese geistigen Führer der Polen haben bereits
folgendes durchaus eindeutiges Programm ausgearbeitet und seit einem Jahrzehnt
versucht, zur Ausführung zu bringen: 1. Nicht Rußland und das Russentum sind
der Feind, sondern Deutschland und das Deutschtum. 2. Russischpolen muß vor
allem mit Galizien vereinigt werden und dann gestützt, entweder auf den russischen
oder österreichischen Panslawismus Oberschlesien, Posen, Westpreußen und
Masuren zu gewinnen trachten. L. Enges Wirtschastsbündnis mit Rußland. ^
Es wird mir zugegeben werden, daß dies immerhin ein Programm ist, dessen
Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt.


Die Zustände in Polen

Auf dem polnischen Kriegsschauplatze ist, mit „zuwarten", ebensowenig
getan, wie auf allen anderen. Zuwarten kann man unter Umständen und in
Zeitläuften, die es gestatten feindliche Kräfte langsam auszuscheiden, zu isolieren
und sich auslösen zu lassen.

Die Beurteilung der Zustände in Polen durch unsere dortigen „verant¬
wortlichen Persönlichkeiten", wie sie sich in Massows Ausführungen wiederspiegelt,
ist, wenn wir zugeben könnten, daß die Aufgabenstellung für die deutsche
Verwaltung eine richtige, will sagen zweckmäßige ist, vor allem ein Ausfluß der
Unterschätzung des russischen Einflusses auf die Entwicklung des polnischen
Denkens und der Anwendung falscher Maßstäbe für die Bewertung dessen, was
die Polen wollen können. Nach Massows Ausführungen scheint aber „die
Auffassung unserer Verwaltung in Polen" gar nicht auf das zweckmäßige real¬
politisch deutsche, sondern aus irgendeine Beglückungsidee gerichtet zu sein.
„Es braucht Zeit, bis da alles in Gleichgewicht und Harmonie kommt", schreibt
Herr von Massow und fährt fort: „Die Russen haben dort so lange einen
Berufsstand gegen den andern, ein Bekenntnis gegen das andere ausgespielt,
daß es ein blaues Wunder wäre, wenn man schon jetzt aus einzelnen
Stimmen eine feste maßgebende Ansicht über Polens Zukunft herauserkennen
könnte."

Gewiß, wenn man alles leugnet oder unter den Tisch fallen läßt, was der
a priori gefaßten Meinung widerspricht, kann man zu dem Ergebnis der Gewährs¬
leute des Herrn von Massow kommen, daß eine feste Meinung bei den Polen über
ihre eigenen Wünsche an die Zukunft noch nicht vorhanden sei. Die Herren haben
auch im gewissen Sinne Recht. Der polnische Bauer sagt: „Mir ist es gleich¬
gültig, für welchen Herrn ich arbeiten muß, wenn ich nur meine Ruhe habe";
die Großgrundbesitzer sind gespalten je nach den Interessen, die sie außerhalb des
Weichselgebietes, etwa in der Ukraina, haben oder nicht; die Fabrikanten können
sich nicht vorstellen, daß sie irgendwo und wie besser verdienen könnten als im
Anschluß an das russische Hinterland und die Kaufleute antworten ausweichend:
„Wir haben an den Deutschen und Russen verdienet" Sind das aber Ma߬
stäbe? Nein! Die Maßstäbe und großen Richtlinien der Entwicklung von
Nationen in kritischen Zeiten wie den jetzigen geben nicht die Gewerbetreibenden
— ohne deren Einfluß unterschätzen zu wollen — sondern die geistigen Führer,
wo staatliche Führer fehlen! Und diese geistigen Führer der Polen haben bereits
folgendes durchaus eindeutiges Programm ausgearbeitet und seit einem Jahrzehnt
versucht, zur Ausführung zu bringen: 1. Nicht Rußland und das Russentum sind
der Feind, sondern Deutschland und das Deutschtum. 2. Russischpolen muß vor
allem mit Galizien vereinigt werden und dann gestützt, entweder auf den russischen
oder österreichischen Panslawismus Oberschlesien, Posen, Westpreußen und
Masuren zu gewinnen trachten. L. Enges Wirtschastsbündnis mit Rußland. ^
Es wird mir zugegeben werden, daß dies immerhin ein Programm ist, dessen
Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0180" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/332459"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Zustände in Polen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_554"> Auf dem polnischen Kriegsschauplatze ist, mit &#x201E;zuwarten", ebensowenig<lb/>
getan, wie auf allen anderen. Zuwarten kann man unter Umständen und in<lb/>
Zeitläuften, die es gestatten feindliche Kräfte langsam auszuscheiden, zu isolieren<lb/>
und sich auslösen zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_555"> Die Beurteilung der Zustände in Polen durch unsere dortigen &#x201E;verant¬<lb/>
wortlichen Persönlichkeiten", wie sie sich in Massows Ausführungen wiederspiegelt,<lb/>
ist, wenn wir zugeben könnten, daß die Aufgabenstellung für die deutsche<lb/>
Verwaltung eine richtige, will sagen zweckmäßige ist, vor allem ein Ausfluß der<lb/>
Unterschätzung des russischen Einflusses auf die Entwicklung des polnischen<lb/>
Denkens und der Anwendung falscher Maßstäbe für die Bewertung dessen, was<lb/>
die Polen wollen können. Nach Massows Ausführungen scheint aber &#x201E;die<lb/>
Auffassung unserer Verwaltung in Polen" gar nicht auf das zweckmäßige real¬<lb/>
politisch deutsche, sondern aus irgendeine Beglückungsidee gerichtet zu sein.<lb/>
&#x201E;Es braucht Zeit, bis da alles in Gleichgewicht und Harmonie kommt", schreibt<lb/>
Herr von Massow und fährt fort: &#x201E;Die Russen haben dort so lange einen<lb/>
Berufsstand gegen den andern, ein Bekenntnis gegen das andere ausgespielt,<lb/>
daß es ein blaues Wunder wäre, wenn man schon jetzt aus einzelnen<lb/>
Stimmen eine feste maßgebende Ansicht über Polens Zukunft herauserkennen<lb/>
könnte."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_556"> Gewiß, wenn man alles leugnet oder unter den Tisch fallen läßt, was der<lb/>
a priori gefaßten Meinung widerspricht, kann man zu dem Ergebnis der Gewährs¬<lb/>
leute des Herrn von Massow kommen, daß eine feste Meinung bei den Polen über<lb/>
ihre eigenen Wünsche an die Zukunft noch nicht vorhanden sei. Die Herren haben<lb/>
auch im gewissen Sinne Recht. Der polnische Bauer sagt: &#x201E;Mir ist es gleich¬<lb/>
gültig, für welchen Herrn ich arbeiten muß, wenn ich nur meine Ruhe habe";<lb/>
die Großgrundbesitzer sind gespalten je nach den Interessen, die sie außerhalb des<lb/>
Weichselgebietes, etwa in der Ukraina, haben oder nicht; die Fabrikanten können<lb/>
sich nicht vorstellen, daß sie irgendwo und wie besser verdienen könnten als im<lb/>
Anschluß an das russische Hinterland und die Kaufleute antworten ausweichend:<lb/>
&#x201E;Wir haben an den Deutschen und Russen verdienet" Sind das aber Ma߬<lb/>
stäbe? Nein! Die Maßstäbe und großen Richtlinien der Entwicklung von<lb/>
Nationen in kritischen Zeiten wie den jetzigen geben nicht die Gewerbetreibenden<lb/>
&#x2014; ohne deren Einfluß unterschätzen zu wollen &#x2014; sondern die geistigen Führer,<lb/>
wo staatliche Führer fehlen! Und diese geistigen Führer der Polen haben bereits<lb/>
folgendes durchaus eindeutiges Programm ausgearbeitet und seit einem Jahrzehnt<lb/>
versucht, zur Ausführung zu bringen: 1. Nicht Rußland und das Russentum sind<lb/>
der Feind, sondern Deutschland und das Deutschtum. 2. Russischpolen muß vor<lb/>
allem mit Galizien vereinigt werden und dann gestützt, entweder auf den russischen<lb/>
oder österreichischen Panslawismus Oberschlesien, Posen, Westpreußen und<lb/>
Masuren zu gewinnen trachten. L. Enges Wirtschastsbündnis mit Rußland. ^<lb/>
Es wird mir zugegeben werden, daß dies immerhin ein Programm ist, dessen<lb/>
Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0180] Die Zustände in Polen Auf dem polnischen Kriegsschauplatze ist, mit „zuwarten", ebensowenig getan, wie auf allen anderen. Zuwarten kann man unter Umständen und in Zeitläuften, die es gestatten feindliche Kräfte langsam auszuscheiden, zu isolieren und sich auslösen zu lassen. Die Beurteilung der Zustände in Polen durch unsere dortigen „verant¬ wortlichen Persönlichkeiten", wie sie sich in Massows Ausführungen wiederspiegelt, ist, wenn wir zugeben könnten, daß die Aufgabenstellung für die deutsche Verwaltung eine richtige, will sagen zweckmäßige ist, vor allem ein Ausfluß der Unterschätzung des russischen Einflusses auf die Entwicklung des polnischen Denkens und der Anwendung falscher Maßstäbe für die Bewertung dessen, was die Polen wollen können. Nach Massows Ausführungen scheint aber „die Auffassung unserer Verwaltung in Polen" gar nicht auf das zweckmäßige real¬ politisch deutsche, sondern aus irgendeine Beglückungsidee gerichtet zu sein. „Es braucht Zeit, bis da alles in Gleichgewicht und Harmonie kommt", schreibt Herr von Massow und fährt fort: „Die Russen haben dort so lange einen Berufsstand gegen den andern, ein Bekenntnis gegen das andere ausgespielt, daß es ein blaues Wunder wäre, wenn man schon jetzt aus einzelnen Stimmen eine feste maßgebende Ansicht über Polens Zukunft herauserkennen könnte." Gewiß, wenn man alles leugnet oder unter den Tisch fallen läßt, was der a priori gefaßten Meinung widerspricht, kann man zu dem Ergebnis der Gewährs¬ leute des Herrn von Massow kommen, daß eine feste Meinung bei den Polen über ihre eigenen Wünsche an die Zukunft noch nicht vorhanden sei. Die Herren haben auch im gewissen Sinne Recht. Der polnische Bauer sagt: „Mir ist es gleich¬ gültig, für welchen Herrn ich arbeiten muß, wenn ich nur meine Ruhe habe"; die Großgrundbesitzer sind gespalten je nach den Interessen, die sie außerhalb des Weichselgebietes, etwa in der Ukraina, haben oder nicht; die Fabrikanten können sich nicht vorstellen, daß sie irgendwo und wie besser verdienen könnten als im Anschluß an das russische Hinterland und die Kaufleute antworten ausweichend: „Wir haben an den Deutschen und Russen verdienet" Sind das aber Ma߬ stäbe? Nein! Die Maßstäbe und großen Richtlinien der Entwicklung von Nationen in kritischen Zeiten wie den jetzigen geben nicht die Gewerbetreibenden — ohne deren Einfluß unterschätzen zu wollen — sondern die geistigen Führer, wo staatliche Führer fehlen! Und diese geistigen Führer der Polen haben bereits folgendes durchaus eindeutiges Programm ausgearbeitet und seit einem Jahrzehnt versucht, zur Ausführung zu bringen: 1. Nicht Rußland und das Russentum sind der Feind, sondern Deutschland und das Deutschtum. 2. Russischpolen muß vor allem mit Galizien vereinigt werden und dann gestützt, entweder auf den russischen oder österreichischen Panslawismus Oberschlesien, Posen, Westpreußen und Masuren zu gewinnen trachten. L. Enges Wirtschastsbündnis mit Rußland. ^ Es wird mir zugegeben werden, daß dies immerhin ein Programm ist, dessen Klarheit nichts zu wünschen übrig läßt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/180
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/180>, abgerufen am 01.07.2024.