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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Zur litauischen Frage

auf den Quadratkilometer im Durchschnitt 41, das dichtest"esiedelte Gouvernement
Grodno 50,6. das schwächstbevölkerte Minsk nur 31,9 Einwohner. Im Gou¬
vernement Kowno. dem litauischen Kernland, kanien damals auf den Quadrat¬
kilometer 44,2 Seelen, nach der Ausräumung durch die abziehenden Russen
auf Grund einer Zählung von 1916 nur 23. Der Menschenverlust durch den
Krieg dürfte sich in den übrigen Gouvernements auf einer entsprechenden Höhe
halten. Für Kowno ergibt ihn die folgende Übersicht; 1910 bzw. 1916 waren
dort in Tausenden:

Einwohner Litauer Polen Russen Juden Deutsche Letten
1776 1173 160 129 245 25 35
1066 904 955817
_______
^710 --269 -- 87 --120 --190 --17 --18

Die Russen sind also fast vollständig, von den Juden vier Fünftel, von
den Deutschen zwei Drittel, von den Polen und Letten fast die Hälfte ver¬
schwunden, die Litauer dagegen überwiegend zurückgeblieben; die Litauer stellten
1910 nur 66. im vorigen Jahre fast 85 Prozent der Bevölkerung dieses Ver-
waltungsgebietes. Man nimmt an, daß von den unfreiwillig Geflüchteten ein
Drittel umkommt, das zweite in Rußland zurückbleibt und der Rest seinerzeit
heimkehrt. Wie dem auch sein wird, im historischen Litauen ist offensichtlich
für Hunderttausende (fast hätte ich gesagt deutscher) polnischer Ansiedler Platz;
Land, herrenloses Land, steht dort in Menge zur Verfügung, an Staats- und
Kirchenbesitz z. B. 1.1 Million Morgen, ferner viel Majorate russischer Gro߬
würdenträger, die Höfe geflüchteter Muschiks und die Güter von Hunderten
bankrotter, wohl meist nach Rußland angezogener polnischer Großgrundbesitzer.

Wird das historische Litauen den Polen preisgegeben werden? Die
Neigung dazu ist vorhanden. Der Deutsche, der sich lieber die Zunge abbeißt,
als daß er für sein Volk eine Gebietserweiterung beansprucht, ist nur zu bereit,
anderen, uns feindlichen Völkern jeden Gebietszuwachs zu bewilligen. Im
Spezialfall der Polen spielen dabei unzutreffende Schlagworte: "Schutzwall der
westlichen Kultur gegen die östliche Unkultur" und "Erziehung der kulturlosen
Völkerstämme des Westgebiets unter Vormundschaft der Polen", eine bedenkliche
Rolle. Trotz der sich häufenden, so eigenartigen und peinlichen Äußerungen.
Beschlüsse und Handlungen der Polen aller drei Anteile feit dem 5. November
1916, wo das vorher liebenswürdig-gefügige Benehmen im Königreich plötzlich
in das Gegenteil umschlug, trotz unserer Kenntnis ihrer wirklichen Stimmungen
und Gesinnungen, trotz der Nichtformierung des Halbmillionenheeres. erklärt
so mancher Deutsche, dessen Urteil wir gern Autorität beimessen möchten, die
Polen für zuverlässig und geeignet, entweder allein oder zusammen mit uns
die Grenzwacht gegen Rußland zu beziehen; er hält sie trotz allem für
pupillarisch sicher und räumt ihnen ohne Bedenken das ganze Westgcbiet oder
Stücke davon ein. Wie ich in Ur. 22 der "Grenzboten" d. I. gezeigt habe, gedenkt
Gothein ihnen Kurland und Litauen, soweit es bisher besetzt ist, zu schenken; Gering


Zur litauischen Frage

auf den Quadratkilometer im Durchschnitt 41, das dichtest»esiedelte Gouvernement
Grodno 50,6. das schwächstbevölkerte Minsk nur 31,9 Einwohner. Im Gou¬
vernement Kowno. dem litauischen Kernland, kanien damals auf den Quadrat¬
kilometer 44,2 Seelen, nach der Ausräumung durch die abziehenden Russen
auf Grund einer Zählung von 1916 nur 23. Der Menschenverlust durch den
Krieg dürfte sich in den übrigen Gouvernements auf einer entsprechenden Höhe
halten. Für Kowno ergibt ihn die folgende Übersicht; 1910 bzw. 1916 waren
dort in Tausenden:

Einwohner Litauer Polen Russen Juden Deutsche Letten
1776 1173 160 129 245 25 35
1066 904 955817
_______
^710 —269 — 87 —120 —190 —17 —18

Die Russen sind also fast vollständig, von den Juden vier Fünftel, von
den Deutschen zwei Drittel, von den Polen und Letten fast die Hälfte ver¬
schwunden, die Litauer dagegen überwiegend zurückgeblieben; die Litauer stellten
1910 nur 66. im vorigen Jahre fast 85 Prozent der Bevölkerung dieses Ver-
waltungsgebietes. Man nimmt an, daß von den unfreiwillig Geflüchteten ein
Drittel umkommt, das zweite in Rußland zurückbleibt und der Rest seinerzeit
heimkehrt. Wie dem auch sein wird, im historischen Litauen ist offensichtlich
für Hunderttausende (fast hätte ich gesagt deutscher) polnischer Ansiedler Platz;
Land, herrenloses Land, steht dort in Menge zur Verfügung, an Staats- und
Kirchenbesitz z. B. 1.1 Million Morgen, ferner viel Majorate russischer Gro߬
würdenträger, die Höfe geflüchteter Muschiks und die Güter von Hunderten
bankrotter, wohl meist nach Rußland angezogener polnischer Großgrundbesitzer.

Wird das historische Litauen den Polen preisgegeben werden? Die
Neigung dazu ist vorhanden. Der Deutsche, der sich lieber die Zunge abbeißt,
als daß er für sein Volk eine Gebietserweiterung beansprucht, ist nur zu bereit,
anderen, uns feindlichen Völkern jeden Gebietszuwachs zu bewilligen. Im
Spezialfall der Polen spielen dabei unzutreffende Schlagworte: „Schutzwall der
westlichen Kultur gegen die östliche Unkultur" und „Erziehung der kulturlosen
Völkerstämme des Westgebiets unter Vormundschaft der Polen", eine bedenkliche
Rolle. Trotz der sich häufenden, so eigenartigen und peinlichen Äußerungen.
Beschlüsse und Handlungen der Polen aller drei Anteile feit dem 5. November
1916, wo das vorher liebenswürdig-gefügige Benehmen im Königreich plötzlich
in das Gegenteil umschlug, trotz unserer Kenntnis ihrer wirklichen Stimmungen
und Gesinnungen, trotz der Nichtformierung des Halbmillionenheeres. erklärt
so mancher Deutsche, dessen Urteil wir gern Autorität beimessen möchten, die
Polen für zuverlässig und geeignet, entweder allein oder zusammen mit uns
die Grenzwacht gegen Rußland zu beziehen; er hält sie trotz allem für
pupillarisch sicher und räumt ihnen ohne Bedenken das ganze Westgcbiet oder
Stücke davon ein. Wie ich in Ur. 22 der „Grenzboten" d. I. gezeigt habe, gedenkt
Gothein ihnen Kurland und Litauen, soweit es bisher besetzt ist, zu schenken; Gering


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[0155] Zur litauischen Frage auf den Quadratkilometer im Durchschnitt 41, das dichtest»esiedelte Gouvernement Grodno 50,6. das schwächstbevölkerte Minsk nur 31,9 Einwohner. Im Gou¬ vernement Kowno. dem litauischen Kernland, kanien damals auf den Quadrat¬ kilometer 44,2 Seelen, nach der Ausräumung durch die abziehenden Russen auf Grund einer Zählung von 1916 nur 23. Der Menschenverlust durch den Krieg dürfte sich in den übrigen Gouvernements auf einer entsprechenden Höhe halten. Für Kowno ergibt ihn die folgende Übersicht; 1910 bzw. 1916 waren dort in Tausenden: Einwohner Litauer Polen Russen Juden Deutsche Letten 1776 1173 160 129 245 25 35 1066 904 955817 _______ ^710 —269 — 87 —120 —190 —17 —18 Die Russen sind also fast vollständig, von den Juden vier Fünftel, von den Deutschen zwei Drittel, von den Polen und Letten fast die Hälfte ver¬ schwunden, die Litauer dagegen überwiegend zurückgeblieben; die Litauer stellten 1910 nur 66. im vorigen Jahre fast 85 Prozent der Bevölkerung dieses Ver- waltungsgebietes. Man nimmt an, daß von den unfreiwillig Geflüchteten ein Drittel umkommt, das zweite in Rußland zurückbleibt und der Rest seinerzeit heimkehrt. Wie dem auch sein wird, im historischen Litauen ist offensichtlich für Hunderttausende (fast hätte ich gesagt deutscher) polnischer Ansiedler Platz; Land, herrenloses Land, steht dort in Menge zur Verfügung, an Staats- und Kirchenbesitz z. B. 1.1 Million Morgen, ferner viel Majorate russischer Gro߬ würdenträger, die Höfe geflüchteter Muschiks und die Güter von Hunderten bankrotter, wohl meist nach Rußland angezogener polnischer Großgrundbesitzer. Wird das historische Litauen den Polen preisgegeben werden? Die Neigung dazu ist vorhanden. Der Deutsche, der sich lieber die Zunge abbeißt, als daß er für sein Volk eine Gebietserweiterung beansprucht, ist nur zu bereit, anderen, uns feindlichen Völkern jeden Gebietszuwachs zu bewilligen. Im Spezialfall der Polen spielen dabei unzutreffende Schlagworte: „Schutzwall der westlichen Kultur gegen die östliche Unkultur" und „Erziehung der kulturlosen Völkerstämme des Westgebiets unter Vormundschaft der Polen", eine bedenkliche Rolle. Trotz der sich häufenden, so eigenartigen und peinlichen Äußerungen. Beschlüsse und Handlungen der Polen aller drei Anteile feit dem 5. November 1916, wo das vorher liebenswürdig-gefügige Benehmen im Königreich plötzlich in das Gegenteil umschlug, trotz unserer Kenntnis ihrer wirklichen Stimmungen und Gesinnungen, trotz der Nichtformierung des Halbmillionenheeres. erklärt so mancher Deutsche, dessen Urteil wir gern Autorität beimessen möchten, die Polen für zuverlässig und geeignet, entweder allein oder zusammen mit uns die Grenzwacht gegen Rußland zu beziehen; er hält sie trotz allem für pupillarisch sicher und räumt ihnen ohne Bedenken das ganze Westgcbiet oder Stücke davon ein. Wie ich in Ur. 22 der „Grenzboten" d. I. gezeigt habe, gedenkt Gothein ihnen Kurland und Litauen, soweit es bisher besetzt ist, zu schenken; Gering

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/155>, abgerufen am 01.07.2024.