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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Zur litauischen Frage

provisorischen russischen Regierung bereits am 16. April "die Entscheidung über
die künftige Staatszugehörigkeit der ethnographisch zwischen Polen und Ru߬
land liegenden, in alter Schicksalsbeziehung zu Polen stehenden Gebiete" als
die conältio sine <ma non der freundnachbarlichen Beziehungen Polens zum
russischen Reiche und der Beilegung des alten Streites beider Mächte gestellt;
dem Zuge des Phrasen und Schlagworte drechselnden Zeitalters folgend, hat
er, wofür es leine Vorgänge in der polnischen Vergangenheit gibt, das Selbst¬
bestimmungsrecht der dortigen kleinen Völker, der Litauer und der Weißrussen,
zu achten, ihnen den freiwilligen und einträchtigen Anschluß an den polnischen
Staat anheimzugeben und die nationale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung
zu garantieren versprochen. Nüchtern deutsch ausgedrückt, der polnische Staats¬
rat und die Polen wollen mit den im ostslawischen Föderativsystem führenden
Großrussen, ihren Blutsverwandten, so breit wie möglich grenzen, in körper¬
licher Verbindung mit ihnen den Gang der europäischen Politik maßgebend
beeinflussen, auch wohl vorkommendenfalls gegen die beiden anderen Teilungs¬
mächte Front machen, das historische Litauen aber (5565 Quadratmeilen),
das zweieinhalbmal so groß wie Kongreßpolen ist, durch Ansiedlung von Hundert¬
tausenden polnischer Bauern in polnische Erde umwandeln und so, ihre Volks¬
zahl in einem Menschenalter verdoppelnd, ein großes Volk und eine Großmacht
werden. Sie sind überzeugt, daß ihnen die Polonisierung der beiden Völker,
nach starker Durchsetzung mit polnischem Landvolk, der römisch-katholischen Litauer
wegen ihrer geringen Zahl (zwei Millionen), der Weißrussen (sieben Millionen)
wegen ihrer "nationalen und kulturellen Rückständigkeit", nicht schwer fallen
ivird. Sie haben, so meinen sie, in der Aufsaugung Fremdstämmiger Übung
und in der Vergangenheit Erfolg gehabt; tatsächlich ist ihnen, einem Herren¬
volke, dies bisher nur bei den national indifferenten Deutschen, keinem Herren¬
volke, durch Druck, Drohung und Überredung seitens polnischer Frauen und
polnischen Geistlicher in größerem Umfange gelungen; ihre anderen fremd¬
stämmigen Untertanen in Söhne Lechs umzuwandeln, ist ihnen vorzeiten nicht
gelungen und dürfte ihnen heute schwer werden. Sie rechnen bei den Litauern
übrigens mit der Gemeinschaft der Konfession und dem allmählichen Ersatz
titanischer durch nationalpolnische Geistliche, bei den Weißrussen aber, die in
der erdrückenden Mehrzahl (sechs Millionen) griechisch-orthodox sind, mit der
Abwanderung nach Sibirien, die seit Jahrzehnten in starkem Fluß ist; sie
rechnen bei beiden Bauernvölkern mit der Armut, der Unwissenheit und dem
Mangel an Führern, an intelligenter Mittel- und an großgrundbesitzender Ober-'
schicht, vor allem aber mit der polnischen Schule und Verwaltung, den in
Galizien seit 1867 gründlich erprobten Polonisierungsmitteln.

Das historische Litauen ist ein fetter Bissen, ein weiträumiges, "an Boden¬
schätzen reiches, aber seiner Entwicklung noch harrendes Land" (Fürst von Jsen-
burg). Für das schließliche Gelingen seiner Polonisierung durch Kolonisierung
spricht manches. Nach dem "Annuaire Statistique de la Russie" hatte es 1910


Zur litauischen Frage

provisorischen russischen Regierung bereits am 16. April „die Entscheidung über
die künftige Staatszugehörigkeit der ethnographisch zwischen Polen und Ru߬
land liegenden, in alter Schicksalsbeziehung zu Polen stehenden Gebiete" als
die conältio sine <ma non der freundnachbarlichen Beziehungen Polens zum
russischen Reiche und der Beilegung des alten Streites beider Mächte gestellt;
dem Zuge des Phrasen und Schlagworte drechselnden Zeitalters folgend, hat
er, wofür es leine Vorgänge in der polnischen Vergangenheit gibt, das Selbst¬
bestimmungsrecht der dortigen kleinen Völker, der Litauer und der Weißrussen,
zu achten, ihnen den freiwilligen und einträchtigen Anschluß an den polnischen
Staat anheimzugeben und die nationale, kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung
zu garantieren versprochen. Nüchtern deutsch ausgedrückt, der polnische Staats¬
rat und die Polen wollen mit den im ostslawischen Föderativsystem führenden
Großrussen, ihren Blutsverwandten, so breit wie möglich grenzen, in körper¬
licher Verbindung mit ihnen den Gang der europäischen Politik maßgebend
beeinflussen, auch wohl vorkommendenfalls gegen die beiden anderen Teilungs¬
mächte Front machen, das historische Litauen aber (5565 Quadratmeilen),
das zweieinhalbmal so groß wie Kongreßpolen ist, durch Ansiedlung von Hundert¬
tausenden polnischer Bauern in polnische Erde umwandeln und so, ihre Volks¬
zahl in einem Menschenalter verdoppelnd, ein großes Volk und eine Großmacht
werden. Sie sind überzeugt, daß ihnen die Polonisierung der beiden Völker,
nach starker Durchsetzung mit polnischem Landvolk, der römisch-katholischen Litauer
wegen ihrer geringen Zahl (zwei Millionen), der Weißrussen (sieben Millionen)
wegen ihrer „nationalen und kulturellen Rückständigkeit", nicht schwer fallen
ivird. Sie haben, so meinen sie, in der Aufsaugung Fremdstämmiger Übung
und in der Vergangenheit Erfolg gehabt; tatsächlich ist ihnen, einem Herren¬
volke, dies bisher nur bei den national indifferenten Deutschen, keinem Herren¬
volke, durch Druck, Drohung und Überredung seitens polnischer Frauen und
polnischen Geistlicher in größerem Umfange gelungen; ihre anderen fremd¬
stämmigen Untertanen in Söhne Lechs umzuwandeln, ist ihnen vorzeiten nicht
gelungen und dürfte ihnen heute schwer werden. Sie rechnen bei den Litauern
übrigens mit der Gemeinschaft der Konfession und dem allmählichen Ersatz
titanischer durch nationalpolnische Geistliche, bei den Weißrussen aber, die in
der erdrückenden Mehrzahl (sechs Millionen) griechisch-orthodox sind, mit der
Abwanderung nach Sibirien, die seit Jahrzehnten in starkem Fluß ist; sie
rechnen bei beiden Bauernvölkern mit der Armut, der Unwissenheit und dem
Mangel an Führern, an intelligenter Mittel- und an großgrundbesitzender Ober-'
schicht, vor allem aber mit der polnischen Schule und Verwaltung, den in
Galizien seit 1867 gründlich erprobten Polonisierungsmitteln.

Das historische Litauen ist ein fetter Bissen, ein weiträumiges, „an Boden¬
schätzen reiches, aber seiner Entwicklung noch harrendes Land" (Fürst von Jsen-
burg). Für das schließliche Gelingen seiner Polonisierung durch Kolonisierung
spricht manches. Nach dem „Annuaire Statistique de la Russie" hatte es 1910


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/154>, abgerufen am 01.07.2024.