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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Zur litauischen Frage

kilometern und dreizehn Millionen Einwohnern "des ehemaligen Großfürstentums
Litauen" und der "freiwilligen und einträchtigen Verbindung des unabhängigen,
selbständigen Staates" mit Neupolen? Bisher war doch nach der polnischen,
übrigens unrichtigen Auffassung Litauen und Polen ein unteilbarer "Leichnam",
ein Einheitsstaat, und von einer Neigung der Polen, die Selbständigkeit Litauens
zu respektieren, nichts zu spüren.

Seit der russischen Märzrevolution orientiert sich die große Masse der Polen,
mit ihren Schlagworten und politischen Zielen einverstanden, erneut nach Osten
und nach der Seite des Panslawismus; nur ein Teil der dünnen Oberschicht,
hauptsächlich der Großgrundbesitz, scheint auch heute noch dem Anschluß nach
der andersrassigen, der deutschen Seite geneigt. Als Optimisten und Sanguiniker
reden sich die Polen ein. der Panslawismus höre jetzt auf, der alle anderen
Slawenvölker unterjochende Panrufsismus zu sein, und fange an, das erträumte,
zur Weltherrschaft prädestinierte Allslawentum zu werden. Das slawische Ge¬
meinschaftsgefühl wird in ihnen wieder lebendig, und der Zug des Herzens gilt
ihnen als des Schicksals Stimme. Dazu kommt, daß sie hoffen, beim Anschluß
an das neue Nußland und an die Ententemächte, mit deren Sieg sie, wenn
nicht im Kriege, so doch bei den Friedensverhandlungen, rechnen, mehr zu
Inkneren. als ihnen Preußen-Deutschland an Macht, Land und Freiheit ge¬
währen kann; sie hoffen außerdem, auf die Dauer das vermittelnde Bindeglied
zwischen dem oft- und dem hypothetischen westslawischen Staatenbunde zu bilden,
die Zunge an der Wage der europäischen Politik zu bleiben, ihre alte Neigung
Zu Intrigen und Zettelungen ausgiebig zu befriedigen und so eine Bedeutung
zu erlangen, die ihrer Zahl (sechzehn Millionen) nicht zukommt. Sie nehmen
an. daß die Großrussen (dreiundsechzig Millionen) durch den Krieg furchtbar
geschwächt, in jenem östlichen Föderativsystem das führende, nicht das herrschende
Voll, die pi-lui inter pares, d. h. nicht mehr zu fürchten fein werden, und
behalten sich klüglich vor, sich mit dem zweitzahlreichsten, ihnen an Zahl er¬
heblich überlegenen Slawenstamme, den sechsunddreißig Millionen Ukrainern,
ihren bisherigen Todfeinden, auf friedlichen Fuß zu stellen und ihnen, wenn
es durchaus sein nutz, das Glück des Lebens im eigenen Staate -- vor¬
läufig -- zu gönnen.

Um im Slawenkonzern und auf der europäischen Staatenbühne die an¬
gedeutete Rolle spielen zu können, ist. wie die Polen richtig erkennen, eine er¬
hebliche Vergrößerung ihres Volks- und Staatsgebietes über die Grenzen der
Lande an der Weichsel notwendig. Ohne auf ihre prinzipielle Forderung:
Vereinigung aller ehemals altpolnischen Länder mit Neupolen, zu verzichten
(das beweist z. B. ihr neuerliches Verhalten im österreichischen Reichsrate und
ihr Werk, der Sturz des Ministeriums Clam-Martinic), bestehen sie augen¬
blicklich, weil ihnen dies am leichtesten erreichbar und durchführbar erscheint,
auf der Angliederung des historischen Litauen an den Weichselstaat, d. h. auf
der Ausdehnung nach Osten. De^ polnische Staatsrat hat demgemäß der


Zur litauischen Frage

kilometern und dreizehn Millionen Einwohnern „des ehemaligen Großfürstentums
Litauen" und der „freiwilligen und einträchtigen Verbindung des unabhängigen,
selbständigen Staates" mit Neupolen? Bisher war doch nach der polnischen,
übrigens unrichtigen Auffassung Litauen und Polen ein unteilbarer „Leichnam",
ein Einheitsstaat, und von einer Neigung der Polen, die Selbständigkeit Litauens
zu respektieren, nichts zu spüren.

Seit der russischen Märzrevolution orientiert sich die große Masse der Polen,
mit ihren Schlagworten und politischen Zielen einverstanden, erneut nach Osten
und nach der Seite des Panslawismus; nur ein Teil der dünnen Oberschicht,
hauptsächlich der Großgrundbesitz, scheint auch heute noch dem Anschluß nach
der andersrassigen, der deutschen Seite geneigt. Als Optimisten und Sanguiniker
reden sich die Polen ein. der Panslawismus höre jetzt auf, der alle anderen
Slawenvölker unterjochende Panrufsismus zu sein, und fange an, das erträumte,
zur Weltherrschaft prädestinierte Allslawentum zu werden. Das slawische Ge¬
meinschaftsgefühl wird in ihnen wieder lebendig, und der Zug des Herzens gilt
ihnen als des Schicksals Stimme. Dazu kommt, daß sie hoffen, beim Anschluß
an das neue Nußland und an die Ententemächte, mit deren Sieg sie, wenn
nicht im Kriege, so doch bei den Friedensverhandlungen, rechnen, mehr zu
Inkneren. als ihnen Preußen-Deutschland an Macht, Land und Freiheit ge¬
währen kann; sie hoffen außerdem, auf die Dauer das vermittelnde Bindeglied
zwischen dem oft- und dem hypothetischen westslawischen Staatenbunde zu bilden,
die Zunge an der Wage der europäischen Politik zu bleiben, ihre alte Neigung
Zu Intrigen und Zettelungen ausgiebig zu befriedigen und so eine Bedeutung
zu erlangen, die ihrer Zahl (sechzehn Millionen) nicht zukommt. Sie nehmen
an. daß die Großrussen (dreiundsechzig Millionen) durch den Krieg furchtbar
geschwächt, in jenem östlichen Föderativsystem das führende, nicht das herrschende
Voll, die pi-lui inter pares, d. h. nicht mehr zu fürchten fein werden, und
behalten sich klüglich vor, sich mit dem zweitzahlreichsten, ihnen an Zahl er¬
heblich überlegenen Slawenstamme, den sechsunddreißig Millionen Ukrainern,
ihren bisherigen Todfeinden, auf friedlichen Fuß zu stellen und ihnen, wenn
es durchaus sein nutz, das Glück des Lebens im eigenen Staate — vor¬
läufig — zu gönnen.

Um im Slawenkonzern und auf der europäischen Staatenbühne die an¬
gedeutete Rolle spielen zu können, ist. wie die Polen richtig erkennen, eine er¬
hebliche Vergrößerung ihres Volks- und Staatsgebietes über die Grenzen der
Lande an der Weichsel notwendig. Ohne auf ihre prinzipielle Forderung:
Vereinigung aller ehemals altpolnischen Länder mit Neupolen, zu verzichten
(das beweist z. B. ihr neuerliches Verhalten im österreichischen Reichsrate und
ihr Werk, der Sturz des Ministeriums Clam-Martinic), bestehen sie augen¬
blicklich, weil ihnen dies am leichtesten erreichbar und durchführbar erscheint,
auf der Angliederung des historischen Litauen an den Weichselstaat, d. h. auf
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[0153] Zur litauischen Frage kilometern und dreizehn Millionen Einwohnern „des ehemaligen Großfürstentums Litauen" und der „freiwilligen und einträchtigen Verbindung des unabhängigen, selbständigen Staates" mit Neupolen? Bisher war doch nach der polnischen, übrigens unrichtigen Auffassung Litauen und Polen ein unteilbarer „Leichnam", ein Einheitsstaat, und von einer Neigung der Polen, die Selbständigkeit Litauens zu respektieren, nichts zu spüren. Seit der russischen Märzrevolution orientiert sich die große Masse der Polen, mit ihren Schlagworten und politischen Zielen einverstanden, erneut nach Osten und nach der Seite des Panslawismus; nur ein Teil der dünnen Oberschicht, hauptsächlich der Großgrundbesitz, scheint auch heute noch dem Anschluß nach der andersrassigen, der deutschen Seite geneigt. Als Optimisten und Sanguiniker reden sich die Polen ein. der Panslawismus höre jetzt auf, der alle anderen Slawenvölker unterjochende Panrufsismus zu sein, und fange an, das erträumte, zur Weltherrschaft prädestinierte Allslawentum zu werden. Das slawische Ge¬ meinschaftsgefühl wird in ihnen wieder lebendig, und der Zug des Herzens gilt ihnen als des Schicksals Stimme. Dazu kommt, daß sie hoffen, beim Anschluß an das neue Nußland und an die Ententemächte, mit deren Sieg sie, wenn nicht im Kriege, so doch bei den Friedensverhandlungen, rechnen, mehr zu Inkneren. als ihnen Preußen-Deutschland an Macht, Land und Freiheit ge¬ währen kann; sie hoffen außerdem, auf die Dauer das vermittelnde Bindeglied zwischen dem oft- und dem hypothetischen westslawischen Staatenbunde zu bilden, die Zunge an der Wage der europäischen Politik zu bleiben, ihre alte Neigung Zu Intrigen und Zettelungen ausgiebig zu befriedigen und so eine Bedeutung zu erlangen, die ihrer Zahl (sechzehn Millionen) nicht zukommt. Sie nehmen an. daß die Großrussen (dreiundsechzig Millionen) durch den Krieg furchtbar geschwächt, in jenem östlichen Föderativsystem das führende, nicht das herrschende Voll, die pi-lui inter pares, d. h. nicht mehr zu fürchten fein werden, und behalten sich klüglich vor, sich mit dem zweitzahlreichsten, ihnen an Zahl er¬ heblich überlegenen Slawenstamme, den sechsunddreißig Millionen Ukrainern, ihren bisherigen Todfeinden, auf friedlichen Fuß zu stellen und ihnen, wenn es durchaus sein nutz, das Glück des Lebens im eigenen Staate — vor¬ läufig — zu gönnen. Um im Slawenkonzern und auf der europäischen Staatenbühne die an¬ gedeutete Rolle spielen zu können, ist. wie die Polen richtig erkennen, eine er¬ hebliche Vergrößerung ihres Volks- und Staatsgebietes über die Grenzen der Lande an der Weichsel notwendig. Ohne auf ihre prinzipielle Forderung: Vereinigung aller ehemals altpolnischen Länder mit Neupolen, zu verzichten (das beweist z. B. ihr neuerliches Verhalten im österreichischen Reichsrate und ihr Werk, der Sturz des Ministeriums Clam-Martinic), bestehen sie augen¬ blicklich, weil ihnen dies am leichtesten erreichbar und durchführbar erscheint, auf der Angliederung des historischen Litauen an den Weichselstaat, d. h. auf der Ausdehnung nach Osten. De^ polnische Staatsrat hat demgemäß der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/153>, abgerufen am 01.07.2024.