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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Zur litauischen Frage
von Professor Kranz

a kein Deutscher andeuten darf, in welchem Umfange er Litauen
als Siedlungsland für uns Deutsche beansprucht sehen möchte,
so begnüge ich mich, darzulegen, was ein Deutscher, wenn er,
sich möglichst unbestimmt ausdrückend, Litauen nennt, darunter
alles verstehen kann, und was "die sämtlichen polnischen Parteien
in Warschau" unter den "Ländern des ehemaligen Großfürstentums Litauen"
verstehen.

Der Deutsche kann an viererlei denken: an das Litauen des vierzehnten
Jahrhunderts vom Meer zum Meer, an das des sogenannten "Westgebietes",
der neun Gouvernements Kowno, Wilna, Grodno, Minsk, Witebsk, Mohilew,
Wolhynien, Podolien, Kiew, an das "historische" seit der Realunion von 1569
und der Vereinigung der drei letztgenannten kleinrussischen Gouvernements mit
der Krone Polen, und schließlich an das ethnographische, das sich so ziemlich
mit dem Verwaltungsgebiete Ober-Ost deckt und aus Kowno, Wilna, Grodno
und dem überwiegend von Litauern bewohnten und seit je zum Großfürstentum
gehörenden, erst 1815 vom Wiener Kongreß mit Kongreßpolen vereinigten
Gouvernement Suwalki zusammensetzt.

Die Erklärung der "sämtlichen polnischen Parteien in Warschau" versteht
unter den Ländern "des ehemaligen Großfürstentums Litauen" etwas ganz Be¬
stimmtes, nicht das ethnographische der vorgeschichtlichen Zeit, nicht das der
größten Ausdehnung vor der Personalunion von 1386, auch nicht das der neun
Gouvernements bis zur Realunion von Ludim (1569), sondern das "historische",
die litauisch-weißrussischen Lande, was daraus erhellt, daß sie unter den das
Großfürstentum bewohnenden Völkerschaften die Ukrainer nicht nennt, auf die
drei kleinrussischen Gouvernements also verzichtet.

Weshalb verzichtet die polnische Begehrlichkeit auf dieses fruchtbare und
stark bevölkerte Gebiet von 165000 Quadratkilometern und dreizehneinhalb Mil¬
lionen Einwohnern? Es ist doch während reichlich zwei Jahrhunderten ein aufs
übelste zugerichteter Bestandteil Kronpolens gewesen und war bisher nach der
naiven Staatsrechtstheorie der Polen auf Grund des Eroberungsrechtes ein
unverlierbarer, bei der Zurückrevidierung des "Unrechts" der drei Teilungen
ihnen auszuhändiger Besitz. Weshalb begnügt sie sich mit den 316000 Quadrat-




Zur litauischen Frage
von Professor Kranz

a kein Deutscher andeuten darf, in welchem Umfange er Litauen
als Siedlungsland für uns Deutsche beansprucht sehen möchte,
so begnüge ich mich, darzulegen, was ein Deutscher, wenn er,
sich möglichst unbestimmt ausdrückend, Litauen nennt, darunter
alles verstehen kann, und was „die sämtlichen polnischen Parteien
in Warschau" unter den „Ländern des ehemaligen Großfürstentums Litauen"
verstehen.

Der Deutsche kann an viererlei denken: an das Litauen des vierzehnten
Jahrhunderts vom Meer zum Meer, an das des sogenannten „Westgebietes",
der neun Gouvernements Kowno, Wilna, Grodno, Minsk, Witebsk, Mohilew,
Wolhynien, Podolien, Kiew, an das „historische" seit der Realunion von 1569
und der Vereinigung der drei letztgenannten kleinrussischen Gouvernements mit
der Krone Polen, und schließlich an das ethnographische, das sich so ziemlich
mit dem Verwaltungsgebiete Ober-Ost deckt und aus Kowno, Wilna, Grodno
und dem überwiegend von Litauern bewohnten und seit je zum Großfürstentum
gehörenden, erst 1815 vom Wiener Kongreß mit Kongreßpolen vereinigten
Gouvernement Suwalki zusammensetzt.

Die Erklärung der „sämtlichen polnischen Parteien in Warschau" versteht
unter den Ländern „des ehemaligen Großfürstentums Litauen" etwas ganz Be¬
stimmtes, nicht das ethnographische der vorgeschichtlichen Zeit, nicht das der
größten Ausdehnung vor der Personalunion von 1386, auch nicht das der neun
Gouvernements bis zur Realunion von Ludim (1569), sondern das „historische",
die litauisch-weißrussischen Lande, was daraus erhellt, daß sie unter den das
Großfürstentum bewohnenden Völkerschaften die Ukrainer nicht nennt, auf die
drei kleinrussischen Gouvernements also verzichtet.

Weshalb verzichtet die polnische Begehrlichkeit auf dieses fruchtbare und
stark bevölkerte Gebiet von 165000 Quadratkilometern und dreizehneinhalb Mil¬
lionen Einwohnern? Es ist doch während reichlich zwei Jahrhunderten ein aufs
übelste zugerichteter Bestandteil Kronpolens gewesen und war bisher nach der
naiven Staatsrechtstheorie der Polen auf Grund des Eroberungsrechtes ein
unverlierbarer, bei der Zurückrevidierung des „Unrechts" der drei Teilungen
ihnen auszuhändiger Besitz. Weshalb begnügt sie sich mit den 316000 Quadrat-


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[0152] [Abbildung] Zur litauischen Frage von Professor Kranz a kein Deutscher andeuten darf, in welchem Umfange er Litauen als Siedlungsland für uns Deutsche beansprucht sehen möchte, so begnüge ich mich, darzulegen, was ein Deutscher, wenn er, sich möglichst unbestimmt ausdrückend, Litauen nennt, darunter alles verstehen kann, und was „die sämtlichen polnischen Parteien in Warschau" unter den „Ländern des ehemaligen Großfürstentums Litauen" verstehen. Der Deutsche kann an viererlei denken: an das Litauen des vierzehnten Jahrhunderts vom Meer zum Meer, an das des sogenannten „Westgebietes", der neun Gouvernements Kowno, Wilna, Grodno, Minsk, Witebsk, Mohilew, Wolhynien, Podolien, Kiew, an das „historische" seit der Realunion von 1569 und der Vereinigung der drei letztgenannten kleinrussischen Gouvernements mit der Krone Polen, und schließlich an das ethnographische, das sich so ziemlich mit dem Verwaltungsgebiete Ober-Ost deckt und aus Kowno, Wilna, Grodno und dem überwiegend von Litauern bewohnten und seit je zum Großfürstentum gehörenden, erst 1815 vom Wiener Kongreß mit Kongreßpolen vereinigten Gouvernement Suwalki zusammensetzt. Die Erklärung der „sämtlichen polnischen Parteien in Warschau" versteht unter den Ländern „des ehemaligen Großfürstentums Litauen" etwas ganz Be¬ stimmtes, nicht das ethnographische der vorgeschichtlichen Zeit, nicht das der größten Ausdehnung vor der Personalunion von 1386, auch nicht das der neun Gouvernements bis zur Realunion von Ludim (1569), sondern das „historische", die litauisch-weißrussischen Lande, was daraus erhellt, daß sie unter den das Großfürstentum bewohnenden Völkerschaften die Ukrainer nicht nennt, auf die drei kleinrussischen Gouvernements also verzichtet. Weshalb verzichtet die polnische Begehrlichkeit auf dieses fruchtbare und stark bevölkerte Gebiet von 165000 Quadratkilometern und dreizehneinhalb Mil¬ lionen Einwohnern? Es ist doch während reichlich zwei Jahrhunderten ein aufs übelste zugerichteter Bestandteil Kronpolens gewesen und war bisher nach der naiven Staatsrechtstheorie der Polen auf Grund des Eroberungsrechtes ein unverlierbarer, bei der Zurückrevidierung des „Unrechts" der drei Teilungen ihnen auszuhändiger Besitz. Weshalb begnügt sie sich mit den 316000 Quadrat-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/152>, abgerufen am 01.07.2024.