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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Goethe-Lorschung in Frankreich

Dagegen kann weder das Fehlen von ähnlichen charakteristischen Stellen
in den Briefen an die Vulpius als Stütze für Chuquets Behauptung in An¬
spruch genommen werden -- denn wie Hütte Goethe ihr, die nur von neuen,
für den "braven Hausschatz" erstandenen "Judenkrämchen" hören wollte, darin
verständlich sein sollen? -- noch darf man sich zu sehr von Massenbachs ähn¬
licher Einschätzung des Tages von Vatar bestechen lassen; die nämlich gleichfalls
bei Massenbach auftretende Attilaerinnerung. zu der das königliche Hauptquartier
bei Hans Veranlassung gab, hat Goethe bestimmt nicht nachgesprochen, sondern
schon am 25, September 1792 brieflich die Aufmerksamkeit der Herzogin Amalie
auf alte Hunnenschanzen in dieser Gegend gelenkt. So kommt die Wissenschaft
bei genauer und ehrlicher Abwägung nach keiner Richtung über Doves For¬
mulierung"') hinaus. Was demnach von Chuquets Funden bleibt, wiegt doch
nicht leicht: es ist die traurige Erkenntnis, daß ein bedeutender Forscher sein
eigenstes, glänzend bestelltes Gebiet dem prokeurum vuIZus zum Tummelplatz
der Leidenschaften ausliefert, um sich so verdienstlich zu machen. Man scheint
sich in Frankreich viel von dieser Art der Kriegshilfe zu versprechen: die
"l?cone liedtlomaZaire" hat seitdem einen Beitrag Peladans, "Ooettie et la
Kultur", gebracht;^) Potataus Ausführungen wollen den Nachweis bringen,
daß Goethe sich von unserer "Kultur" schaudernd abgewendet hätte, wie er
zugunsten der grad'o-katholischen Zivilisation Frankreichs Luther und Kant ab¬
gelehnt habe. Eine Richtigstellung seiner tendenziösen Konstruktionen, die in
Mephistopheles gar das inkarnierte Preußentum erkennen wollen, ist selbstver¬
ständlich unnötig; nur die wechselnde Methode im Kampf der Geister bleibt
festzuhalten: auf Goethes Äußerungen gegen Deutschland solle Frankreich nicht
verzichten, und mit Zufriedenheit wird das Endresultat verkündet "it est clonL
notre". Vielleicht, daß danach wiederum Arthur Chuquet das Wort
ergreift, um etwa die Clavigo-Frage "neu" zu beleuchten. Ein Plagiat ließe
sich zumindest daraus konstruieren, und daß Chuquct gerade den Clavigo einst als
dramatischstes Werk Goethes erklärt hatte, hat kein Bedenken.

Uns selbst zwar schadet das wenig, und am allerwenigsten darf man im
Namen Goethes protestieren, Einspruch erheben aber muß die Wissenschaft,
deren oberster Grundsatz noch immer die Wahrheit war, und deren 8ymboIuM
einst -- auch zur Kriegszeit -- Gaston Paris im LollöZL nie Graues feierlich
mit den bekannten schönen Worten verkündet^) hatte.

Sollte ein solches Kredo, dessen ehernes Gepräge für die Ewigkeit bestimmt
schien, schon nach fünfundvierzig Jahren so ganz und gar und so schmählich
vergessen sein?







Vgl. Einleitung und Anmerkungen zum 28, Band der Jubiläumsausgabe.
") Januar 1S16.
I^Ä poösie du mo^en AM, Paris 1885, le.sörie, S. 90.
Goethe-Lorschung in Frankreich

Dagegen kann weder das Fehlen von ähnlichen charakteristischen Stellen
in den Briefen an die Vulpius als Stütze für Chuquets Behauptung in An¬
spruch genommen werden — denn wie Hütte Goethe ihr, die nur von neuen,
für den „braven Hausschatz" erstandenen „Judenkrämchen" hören wollte, darin
verständlich sein sollen? — noch darf man sich zu sehr von Massenbachs ähn¬
licher Einschätzung des Tages von Vatar bestechen lassen; die nämlich gleichfalls
bei Massenbach auftretende Attilaerinnerung. zu der das königliche Hauptquartier
bei Hans Veranlassung gab, hat Goethe bestimmt nicht nachgesprochen, sondern
schon am 25, September 1792 brieflich die Aufmerksamkeit der Herzogin Amalie
auf alte Hunnenschanzen in dieser Gegend gelenkt. So kommt die Wissenschaft
bei genauer und ehrlicher Abwägung nach keiner Richtung über Doves For¬
mulierung"') hinaus. Was demnach von Chuquets Funden bleibt, wiegt doch
nicht leicht: es ist die traurige Erkenntnis, daß ein bedeutender Forscher sein
eigenstes, glänzend bestelltes Gebiet dem prokeurum vuIZus zum Tummelplatz
der Leidenschaften ausliefert, um sich so verdienstlich zu machen. Man scheint
sich in Frankreich viel von dieser Art der Kriegshilfe zu versprechen: die
„l?cone liedtlomaZaire" hat seitdem einen Beitrag Peladans, „Ooettie et la
Kultur", gebracht;^) Potataus Ausführungen wollen den Nachweis bringen,
daß Goethe sich von unserer „Kultur" schaudernd abgewendet hätte, wie er
zugunsten der grad'o-katholischen Zivilisation Frankreichs Luther und Kant ab¬
gelehnt habe. Eine Richtigstellung seiner tendenziösen Konstruktionen, die in
Mephistopheles gar das inkarnierte Preußentum erkennen wollen, ist selbstver¬
ständlich unnötig; nur die wechselnde Methode im Kampf der Geister bleibt
festzuhalten: auf Goethes Äußerungen gegen Deutschland solle Frankreich nicht
verzichten, und mit Zufriedenheit wird das Endresultat verkündet „it est clonL
notre". Vielleicht, daß danach wiederum Arthur Chuquet das Wort
ergreift, um etwa die Clavigo-Frage „neu" zu beleuchten. Ein Plagiat ließe
sich zumindest daraus konstruieren, und daß Chuquct gerade den Clavigo einst als
dramatischstes Werk Goethes erklärt hatte, hat kein Bedenken.

Uns selbst zwar schadet das wenig, und am allerwenigsten darf man im
Namen Goethes protestieren, Einspruch erheben aber muß die Wissenschaft,
deren oberster Grundsatz noch immer die Wahrheit war, und deren 8ymboIuM
einst — auch zur Kriegszeit — Gaston Paris im LollöZL nie Graues feierlich
mit den bekannten schönen Worten verkündet^) hatte.

Sollte ein solches Kredo, dessen ehernes Gepräge für die Ewigkeit bestimmt
schien, schon nach fünfundvierzig Jahren so ganz und gar und so schmählich
vergessen sein?







Vgl. Einleitung und Anmerkungen zum 28, Band der Jubiläumsausgabe.
") Januar 1S16.
I^Ä poösie du mo^en AM, Paris 1885, le.sörie, S. 90.
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[0134] Goethe-Lorschung in Frankreich Dagegen kann weder das Fehlen von ähnlichen charakteristischen Stellen in den Briefen an die Vulpius als Stütze für Chuquets Behauptung in An¬ spruch genommen werden — denn wie Hütte Goethe ihr, die nur von neuen, für den „braven Hausschatz" erstandenen „Judenkrämchen" hören wollte, darin verständlich sein sollen? — noch darf man sich zu sehr von Massenbachs ähn¬ licher Einschätzung des Tages von Vatar bestechen lassen; die nämlich gleichfalls bei Massenbach auftretende Attilaerinnerung. zu der das königliche Hauptquartier bei Hans Veranlassung gab, hat Goethe bestimmt nicht nachgesprochen, sondern schon am 25, September 1792 brieflich die Aufmerksamkeit der Herzogin Amalie auf alte Hunnenschanzen in dieser Gegend gelenkt. So kommt die Wissenschaft bei genauer und ehrlicher Abwägung nach keiner Richtung über Doves For¬ mulierung"') hinaus. Was demnach von Chuquets Funden bleibt, wiegt doch nicht leicht: es ist die traurige Erkenntnis, daß ein bedeutender Forscher sein eigenstes, glänzend bestelltes Gebiet dem prokeurum vuIZus zum Tummelplatz der Leidenschaften ausliefert, um sich so verdienstlich zu machen. Man scheint sich in Frankreich viel von dieser Art der Kriegshilfe zu versprechen: die „l?cone liedtlomaZaire" hat seitdem einen Beitrag Peladans, „Ooettie et la Kultur", gebracht;^) Potataus Ausführungen wollen den Nachweis bringen, daß Goethe sich von unserer „Kultur" schaudernd abgewendet hätte, wie er zugunsten der grad'o-katholischen Zivilisation Frankreichs Luther und Kant ab¬ gelehnt habe. Eine Richtigstellung seiner tendenziösen Konstruktionen, die in Mephistopheles gar das inkarnierte Preußentum erkennen wollen, ist selbstver¬ ständlich unnötig; nur die wechselnde Methode im Kampf der Geister bleibt festzuhalten: auf Goethes Äußerungen gegen Deutschland solle Frankreich nicht verzichten, und mit Zufriedenheit wird das Endresultat verkündet „it est clonL notre". Vielleicht, daß danach wiederum Arthur Chuquet das Wort ergreift, um etwa die Clavigo-Frage „neu" zu beleuchten. Ein Plagiat ließe sich zumindest daraus konstruieren, und daß Chuquct gerade den Clavigo einst als dramatischstes Werk Goethes erklärt hatte, hat kein Bedenken. Uns selbst zwar schadet das wenig, und am allerwenigsten darf man im Namen Goethes protestieren, Einspruch erheben aber muß die Wissenschaft, deren oberster Grundsatz noch immer die Wahrheit war, und deren 8ymboIuM einst — auch zur Kriegszeit — Gaston Paris im LollöZL nie Graues feierlich mit den bekannten schönen Worten verkündet^) hatte. Sollte ein solches Kredo, dessen ehernes Gepräge für die Ewigkeit bestimmt schien, schon nach fünfundvierzig Jahren so ganz und gar und so schmählich vergessen sein? Vgl. Einleitung und Anmerkungen zum 28, Band der Jubiläumsausgabe. ") Januar 1S16. I^Ä poösie du mo^en AM, Paris 1885, le.sörie, S. 90.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/134>, abgerufen am 01.07.2024.