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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Goethe-Forschung in Frankreich

Flüchtigkeiten und Ungenauigkeiten aufgedeckt und hinter die bekannte Stelle ein
Fragezeichen gesetzt. Auch war ihm dort schon der Gedanke aufgestiegen, daß
Massenbach, den Goethe ja neben verschiedenen anderen zu seiner Orientierung
gelesen hatte, ihn mit seiner ganz ähnlichen Betrachtung: "Der 20. September
1792 hat der Welt eine andere Gestalt gegeben; es ist der wichtigste Tag des
Jahrhunderts" inspiriert haben könne. Vielleicht habe Goethe damals nur
gesagt, daß die Franzosen von dieser Kanonade den Beginn einer neuen Ära
datieren würden. Man sieht, wie zurückhaltend sich Chuquet noch verhielt b-r
und trotz allem Quellendetail, das er genau beherrschte. Ein entscheidendes
Wort wagte er nicht, ließ vielmehr, genau genommen, schließlich alles beim
alten, indem er eine so bedeutsam? Charakterisierung jenes Tages zugab und
nur die Möglichkeit einer anderen Formgebung erwog. Auch die neu?, im
Kriege aufgefrischte Lektüre gab zunächst keinen inneren Anstoß. Die Goethesche
Beschreibung ward fürs erste ganz in den Dienst der Stunde gestellt. Denn
auch Arthur Chuquet hat es, gleich so vielen seiner Kollegen, nicht verschmäht,
sich den geistigen Freischärlern anzuschließen. ,.ve Vaino 5 la Narns" h"5t
seine Kampfbroschüre, die mit Bedterschem Tagebuchmaterial arbeitet und unfere
"Kultur" höhnt. Es ist ein flüchtig zusammengerafftes Bündel von Tage",
aussähen, das mit der antithetisch wirksamen Parole >.co Qoetlie Ä KernKarm"
Reklame macht. So wird Goethe natürlich gelobt. Wie würde er erröten,
weint Chuquet. über die unvornehme Haltung seiner Landsleute, wenn er das
mitansehen müßte. Die Tendenz ist ganz unverkennbar: es gilt den Dicht-r
herauszustreichen. Darum erhält sein "recit" diesmal das Zeugnis "exact
I'en8sable". Und weitere Überraschungen werden geboten: "Le civil
a ete brave", versichert Chuquet und erzählt, wie da Goethe, das Kanonen¬
fieber kennen zu lernen, die Gefahr sogar gesucht habe. Der Gedanke an die
viel spätere Niederschrift scheint hier nicht weiter gestört zu haben; der Verdacht,
daß es sich lediglich um -- Tamsconnadcn handle, hätte doch sonst sehr nahe
gelegen! Hätte allerdings nicht in den Zusammenhang gepaßt! Denn es soll
gezeigt werden, daß Goethe ein Wohltäter an den vom Kriege betroffenen
Bewohnern Frankreichs war. Deshalb kann es nicht laut genug verkündet
werden, mit welchem Abscheu er Plünderungen und Brandschatzungen ver¬
dammte. Wenn auch nicht jede Äußerung dazu stimmt, so bereitet das keine
Verlegenheit. Einen Satz") wie diesen: "Einige Dörfer brannten zwar vor
uns auf. allein der Rauch thut in einem Kriegsbilde auch nicht übel"
kommentiert Chuquet harmlos: "cstte röllexion ä'artiZte est la 8ente ac ce
Mnrs qui Im ecliappe." Nach der Lektüre dieser plumpen Wieverholung
einer von Meziöres eigentlich bereits totgehetzten Methode, die dennoch mit
aufdringlicher Gespreiztheit wieder vorgetragen wird, wirkt der zweite, nun
gegen Goethe gekehrte Aufsatz doppelt unerquicklich. Denn bei keiner Zeile



Weimarer Ausgabe, Bd. 33. S. 66, 20.
Goethe-Forschung in Frankreich

Flüchtigkeiten und Ungenauigkeiten aufgedeckt und hinter die bekannte Stelle ein
Fragezeichen gesetzt. Auch war ihm dort schon der Gedanke aufgestiegen, daß
Massenbach, den Goethe ja neben verschiedenen anderen zu seiner Orientierung
gelesen hatte, ihn mit seiner ganz ähnlichen Betrachtung: „Der 20. September
1792 hat der Welt eine andere Gestalt gegeben; es ist der wichtigste Tag des
Jahrhunderts" inspiriert haben könne. Vielleicht habe Goethe damals nur
gesagt, daß die Franzosen von dieser Kanonade den Beginn einer neuen Ära
datieren würden. Man sieht, wie zurückhaltend sich Chuquet noch verhielt b-r
und trotz allem Quellendetail, das er genau beherrschte. Ein entscheidendes
Wort wagte er nicht, ließ vielmehr, genau genommen, schließlich alles beim
alten, indem er eine so bedeutsam? Charakterisierung jenes Tages zugab und
nur die Möglichkeit einer anderen Formgebung erwog. Auch die neu?, im
Kriege aufgefrischte Lektüre gab zunächst keinen inneren Anstoß. Die Goethesche
Beschreibung ward fürs erste ganz in den Dienst der Stunde gestellt. Denn
auch Arthur Chuquet hat es, gleich so vielen seiner Kollegen, nicht verschmäht,
sich den geistigen Freischärlern anzuschließen. ,.ve Vaino 5 la Narns" h«5t
seine Kampfbroschüre, die mit Bedterschem Tagebuchmaterial arbeitet und unfere
»Kultur" höhnt. Es ist ein flüchtig zusammengerafftes Bündel von Tage«,
aussähen, das mit der antithetisch wirksamen Parole >.co Qoetlie Ä KernKarm"
Reklame macht. So wird Goethe natürlich gelobt. Wie würde er erröten,
weint Chuquet. über die unvornehme Haltung seiner Landsleute, wenn er das
mitansehen müßte. Die Tendenz ist ganz unverkennbar: es gilt den Dicht-r
herauszustreichen. Darum erhält sein „recit« diesmal das Zeugnis „exact
I'en8sable". Und weitere Überraschungen werden geboten: „Le civil
a ete brave", versichert Chuquet und erzählt, wie da Goethe, das Kanonen¬
fieber kennen zu lernen, die Gefahr sogar gesucht habe. Der Gedanke an die
viel spätere Niederschrift scheint hier nicht weiter gestört zu haben; der Verdacht,
daß es sich lediglich um — Tamsconnadcn handle, hätte doch sonst sehr nahe
gelegen! Hätte allerdings nicht in den Zusammenhang gepaßt! Denn es soll
gezeigt werden, daß Goethe ein Wohltäter an den vom Kriege betroffenen
Bewohnern Frankreichs war. Deshalb kann es nicht laut genug verkündet
werden, mit welchem Abscheu er Plünderungen und Brandschatzungen ver¬
dammte. Wenn auch nicht jede Äußerung dazu stimmt, so bereitet das keine
Verlegenheit. Einen Satz") wie diesen: „Einige Dörfer brannten zwar vor
uns auf. allein der Rauch thut in einem Kriegsbilde auch nicht übel"
kommentiert Chuquet harmlos: „cstte röllexion ä'artiZte est la 8ente ac ce
Mnrs qui Im ecliappe." Nach der Lektüre dieser plumpen Wieverholung
einer von Meziöres eigentlich bereits totgehetzten Methode, die dennoch mit
aufdringlicher Gespreiztheit wieder vorgetragen wird, wirkt der zweite, nun
gegen Goethe gekehrte Aufsatz doppelt unerquicklich. Denn bei keiner Zeile



Weimarer Ausgabe, Bd. 33. S. 66, 20.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/131>, abgerufen am 01.07.2024.