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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Goethe-Forschung in Frankreich

auch nicht erfolgt. Dagegen kann es überraschen, die seit 1870 geübten Varia¬
tionen einer durchsichtigen Gesinnungskritik nunmehr in einer kurzen Zeitspanne
und noch dazu von ein und derselben Persönlichkeit gehandhabt zu sehen. Die
Ausführungen, die hier näher geprüft werden sollen, rühren von Chuquet her
und finden sichMnter dem Titel "I^e mot 6s Ooetno an soir as Valm^" in
Ur. 51 der "l?evus KebäsmaciairL" vom 18. Dezember 1915. Der Name
Chuquets pille freilich vor jeder Warnungstafel sicher sein. In der Geschichte
wie in der Literatur in gleicher Weise kundig und mit bedeutendem Ertrage
forschend tätig, hat er sich in langen, Schaffens- und wirkungsreichen Arbeits¬
jahren eine ansehnliche, auch in Deutschland wohl beachtete Stellung errungen.
Und besonders sollte, ihn über Valmy reden zu hören, nicht im mindesten auf¬
fällig sein. Hat er doch nicht bloß ein vielbändiges historisches Werk dem Zeit¬
alter der Revolutionskriege gewidmet, sondern sich auch bemüht, diese folgen¬
reichen Jahre literarisch auszuschöpfen. Wenn gerade die "Kampagne in
Frankreich" von unseren westlichen Nachbarn eifrig gelesen wird, so dankt sie
diese weite Verbreitung nächst der besonderen stofflichen Anziehungskraft der
wertvollen Anteilnahme Chuquets, der in einer gut kommentierten Ausgabe
gerade diese Schrift Goethes seinen Landsleuten mit Erfolg nahezubringen
wußte. Nirgends also etwas, das auf ein vestiZia terrene deutete. Um so
stärker der Abfall eines solchen Mannes, den wir fröstelnd fast wie Verrat
empfinden. Doch es soll nicht Gleiches mit Gleichem erwidert, ein Verdammungs¬
urteil nicht ohne Begründung ausgesprochen werden. So mag zunächst Chuquet
selbst das Wort erhalten. Der Kern seiner Abhandlung ist kurz gesagt der
Nachweis, daß Goethes berühmte Worte am Abend der Kanonade von Valmy:
"Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte ans, und ihr
könnt sagen, ihr seid dabei gewesen" keine ahnungsreiche Inspiration des Genies
seien, sondern erklügelter Treppenwitz, den der späte Redaktor Goethe nach
dem Vorbilde Massenbachs einzuflechten für gut befand. Es braucht hier nicht
die Entstehungsgeschichte der "Kampagne" von neuem dargelegt zu werden.
Man wird sich erinnern, daß Goethe diese Blätter von 1792/93 nicht un¬
mittelbar nach den geschilderten Ereignissen herausgegeben, sondern erst 1820,
unter dem Eindruck ähnlich revolutionärer Stimmungen in Deutschland (wie
Alfred Dove überzeugend dargetan hat), auszuarbeiten begonnen und erst 1822
veröffentlicht hat. Zu späteren Einschiebseln war also übergenug Gelegenheit
gegeben. Auch daß einst Mszieres die Echtheit jenes Satzes mit dem freudigen
Bemerken hingenommen hatte, daß wirklich mit jenem Tage der neue Kalender
begonnen habe; oder daß noch 1906 Henri Bordeaux in seinem "pa^sa^es
romanesques" gläubig den stolzen Ausspruch wiederholt, will nichts besagen.
Denn schon viel früher war Chuquet nicht so vertrauensvoll gefolgt. Er hatte
in seiner "Ooetne en LKampa^ris" gewidmeten Studie^) bereits zahlreiche



') "öwctes <te littörature allemtMiZe", Paris 1902, äeuxiöme sörie, S. 73--130.
Goethe-Forschung in Frankreich

auch nicht erfolgt. Dagegen kann es überraschen, die seit 1870 geübten Varia¬
tionen einer durchsichtigen Gesinnungskritik nunmehr in einer kurzen Zeitspanne
und noch dazu von ein und derselben Persönlichkeit gehandhabt zu sehen. Die
Ausführungen, die hier näher geprüft werden sollen, rühren von Chuquet her
und finden sichMnter dem Titel „I^e mot 6s Ooetno an soir as Valm^" in
Ur. 51 der „l?evus KebäsmaciairL" vom 18. Dezember 1915. Der Name
Chuquets pille freilich vor jeder Warnungstafel sicher sein. In der Geschichte
wie in der Literatur in gleicher Weise kundig und mit bedeutendem Ertrage
forschend tätig, hat er sich in langen, Schaffens- und wirkungsreichen Arbeits¬
jahren eine ansehnliche, auch in Deutschland wohl beachtete Stellung errungen.
Und besonders sollte, ihn über Valmy reden zu hören, nicht im mindesten auf¬
fällig sein. Hat er doch nicht bloß ein vielbändiges historisches Werk dem Zeit¬
alter der Revolutionskriege gewidmet, sondern sich auch bemüht, diese folgen¬
reichen Jahre literarisch auszuschöpfen. Wenn gerade die „Kampagne in
Frankreich" von unseren westlichen Nachbarn eifrig gelesen wird, so dankt sie
diese weite Verbreitung nächst der besonderen stofflichen Anziehungskraft der
wertvollen Anteilnahme Chuquets, der in einer gut kommentierten Ausgabe
gerade diese Schrift Goethes seinen Landsleuten mit Erfolg nahezubringen
wußte. Nirgends also etwas, das auf ein vestiZia terrene deutete. Um so
stärker der Abfall eines solchen Mannes, den wir fröstelnd fast wie Verrat
empfinden. Doch es soll nicht Gleiches mit Gleichem erwidert, ein Verdammungs¬
urteil nicht ohne Begründung ausgesprochen werden. So mag zunächst Chuquet
selbst das Wort erhalten. Der Kern seiner Abhandlung ist kurz gesagt der
Nachweis, daß Goethes berühmte Worte am Abend der Kanonade von Valmy:
„Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte ans, und ihr
könnt sagen, ihr seid dabei gewesen" keine ahnungsreiche Inspiration des Genies
seien, sondern erklügelter Treppenwitz, den der späte Redaktor Goethe nach
dem Vorbilde Massenbachs einzuflechten für gut befand. Es braucht hier nicht
die Entstehungsgeschichte der „Kampagne" von neuem dargelegt zu werden.
Man wird sich erinnern, daß Goethe diese Blätter von 1792/93 nicht un¬
mittelbar nach den geschilderten Ereignissen herausgegeben, sondern erst 1820,
unter dem Eindruck ähnlich revolutionärer Stimmungen in Deutschland (wie
Alfred Dove überzeugend dargetan hat), auszuarbeiten begonnen und erst 1822
veröffentlicht hat. Zu späteren Einschiebseln war also übergenug Gelegenheit
gegeben. Auch daß einst Mszieres die Echtheit jenes Satzes mit dem freudigen
Bemerken hingenommen hatte, daß wirklich mit jenem Tage der neue Kalender
begonnen habe; oder daß noch 1906 Henri Bordeaux in seinem „pa^sa^es
romanesques" gläubig den stolzen Ausspruch wiederholt, will nichts besagen.
Denn schon viel früher war Chuquet nicht so vertrauensvoll gefolgt. Er hatte
in seiner „Ooetne en LKampa^ris" gewidmeten Studie^) bereits zahlreiche



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/130>, abgerufen am 01.07.2024.