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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Goethe-Forschung in Frankreich

pörung der Geister völlig fern; er hatte niedergeschrieben, was er aufrichtig
empfunden hatte, da er sich und fein Land in solcher Notlage erblickte. Im
übrigen hielt ein ausschließlich sachliches Interesse ihn von jeglichen Weiterungen
ab. Er setzte nach dem Kriege seine Goethe-Studien unbeeinträchtigt fort
und legte deren Ergebnisse 1873 in einem wohlfundamentierten Werkes vor,
das mit gutem Gelingen den rapport constant ami existe mers I'nomme et
!s poete aufzeigte.

Die Anerkennung der Wissenschaft blieb nicht aus. Aber sie galt lediglich
der Leistung des Verfassers, nicht dem behandelten Gegenstand. Denn die
Goethe-Krise in Frankreich war mit Beendigung des Krieges erst akut geworden.
Julian Schmidt hat einmal gesagt, daß auch dem Ausland der innere Zu¬
sammenhang zwischen Faust und Sedan, der in der deutschen Nationalität zu
suchen sei, deutlich werde. Er ward es, aber freilich in einem ganz anderen
Sinne. Bei der Ausnahme Mezieres in die Akademie (1874) kargte Camille
Doucet^) ^ seiner Begrüßungsrede zwar keineswegs mit dem Beifall, den er
der Arbeit des neuen Kollegen zollte. Ob aber dieser "heldenmütige Versuch"
seinen Lohn gefunden, scheute er nicht zu fragen Und hielt auch nicht mit dem
Geständnis zurück, daß er sehr viel "strenger" als Mezieres über Goethe denke.
Schließlich fanden sich dennoch die Ansichten in der unverhohlener Anerkennung
und Liebe Goethes für französisches Wesen, und so endigte dies Schauspiel,
wenngleich an erster Bühne agiert, friedlicher als andere voraufgegangene
Szenen.

In einem offenen Briefe vom 27. Juli 1872 an den Chefredakteur der
"Kenaissanee litteraire et al-tisique" hatte nämlich wesentlich unverblümter
Menard eine Reaktion gegen das intellektuelle Deutschland für unerläßlich er¬
klärt: "it kauärait eommsneer par empoiZner leur eilen, le Zrancl (Zoetne,
Is plus viele et le plus Zorne cle tous leurs Mannequins." Wenn er dabei
den zweiten Teil Faust einen unverdaulichen Plunder (inäiAeste tatras) nannte
und dem Lebenswerk Goethes jeden moralischen Gehalt absprach, so war ein
derartiges Gutachten freilich ohne den "Maßstab" Sedan nicht gut denkbar.
Übrigens stand er keineswegs als Rufer in der Wüste da. Ihm pflichtete
sofort Edmond Scherer bei, der zwar vor zehn Jahren, noch gelegentlich der
Übersetzung Porchats, den Faust als ouvraZe gerühmt hatte, "ami, sans
ressernbler ü nen as es que les nommss ont jamais ka.it, ne le noae
ü aucun c?es LNeks-6'oeuvre an passe", seit dem Kriege aber Goethe nur
als den auf seine persönliche Fortbildung bedachten Egoisten wertete. Wenn
1864 bereits (in seinem William Shakespeare) Victor Hugo für Goethe die
Formel aufgestellt hatte: "etre inclikkerent, cela s'appelait Stre Olvrnpien",
so mag man das als eine zwar eigenartige Anschauung gelten lassen (obwohl




4) W. Goethe "I^es ceuvros expliquüos par le ol"."
°) Vgl. dazu Ludwig Spach "Zur Geschichte der modernen französischen Literatur",
Straßburg 1877, S. 85 ff. Zum ganzen die genannten Werke von Baldensverger.
Goethe-Forschung in Frankreich

pörung der Geister völlig fern; er hatte niedergeschrieben, was er aufrichtig
empfunden hatte, da er sich und fein Land in solcher Notlage erblickte. Im
übrigen hielt ein ausschließlich sachliches Interesse ihn von jeglichen Weiterungen
ab. Er setzte nach dem Kriege seine Goethe-Studien unbeeinträchtigt fort
und legte deren Ergebnisse 1873 in einem wohlfundamentierten Werkes vor,
das mit gutem Gelingen den rapport constant ami existe mers I'nomme et
!s poete aufzeigte.

Die Anerkennung der Wissenschaft blieb nicht aus. Aber sie galt lediglich
der Leistung des Verfassers, nicht dem behandelten Gegenstand. Denn die
Goethe-Krise in Frankreich war mit Beendigung des Krieges erst akut geworden.
Julian Schmidt hat einmal gesagt, daß auch dem Ausland der innere Zu¬
sammenhang zwischen Faust und Sedan, der in der deutschen Nationalität zu
suchen sei, deutlich werde. Er ward es, aber freilich in einem ganz anderen
Sinne. Bei der Ausnahme Mezieres in die Akademie (1874) kargte Camille
Doucet^) ^ seiner Begrüßungsrede zwar keineswegs mit dem Beifall, den er
der Arbeit des neuen Kollegen zollte. Ob aber dieser „heldenmütige Versuch"
seinen Lohn gefunden, scheute er nicht zu fragen Und hielt auch nicht mit dem
Geständnis zurück, daß er sehr viel „strenger" als Mezieres über Goethe denke.
Schließlich fanden sich dennoch die Ansichten in der unverhohlener Anerkennung
und Liebe Goethes für französisches Wesen, und so endigte dies Schauspiel,
wenngleich an erster Bühne agiert, friedlicher als andere voraufgegangene
Szenen.

In einem offenen Briefe vom 27. Juli 1872 an den Chefredakteur der
„Kenaissanee litteraire et al-tisique" hatte nämlich wesentlich unverblümter
Menard eine Reaktion gegen das intellektuelle Deutschland für unerläßlich er¬
klärt: „it kauärait eommsneer par empoiZner leur eilen, le Zrancl (Zoetne,
Is plus viele et le plus Zorne cle tous leurs Mannequins." Wenn er dabei
den zweiten Teil Faust einen unverdaulichen Plunder (inäiAeste tatras) nannte
und dem Lebenswerk Goethes jeden moralischen Gehalt absprach, so war ein
derartiges Gutachten freilich ohne den „Maßstab" Sedan nicht gut denkbar.
Übrigens stand er keineswegs als Rufer in der Wüste da. Ihm pflichtete
sofort Edmond Scherer bei, der zwar vor zehn Jahren, noch gelegentlich der
Übersetzung Porchats, den Faust als ouvraZe gerühmt hatte, „ami, sans
ressernbler ü nen as es que les nommss ont jamais ka.it, ne le noae
ü aucun c?es LNeks-6'oeuvre an passe", seit dem Kriege aber Goethe nur
als den auf seine persönliche Fortbildung bedachten Egoisten wertete. Wenn
1864 bereits (in seinem William Shakespeare) Victor Hugo für Goethe die
Formel aufgestellt hatte: „etre inclikkerent, cela s'appelait Stre Olvrnpien",
so mag man das als eine zwar eigenartige Anschauung gelten lassen (obwohl




4) W. Goethe »I^es ceuvros expliquüos par le ol«."
°) Vgl. dazu Ludwig Spach „Zur Geschichte der modernen französischen Literatur",
Straßburg 1877, S. 85 ff. Zum ganzen die genannten Werke von Baldensverger.
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[0128] Goethe-Forschung in Frankreich pörung der Geister völlig fern; er hatte niedergeschrieben, was er aufrichtig empfunden hatte, da er sich und fein Land in solcher Notlage erblickte. Im übrigen hielt ein ausschließlich sachliches Interesse ihn von jeglichen Weiterungen ab. Er setzte nach dem Kriege seine Goethe-Studien unbeeinträchtigt fort und legte deren Ergebnisse 1873 in einem wohlfundamentierten Werkes vor, das mit gutem Gelingen den rapport constant ami existe mers I'nomme et !s poete aufzeigte. Die Anerkennung der Wissenschaft blieb nicht aus. Aber sie galt lediglich der Leistung des Verfassers, nicht dem behandelten Gegenstand. Denn die Goethe-Krise in Frankreich war mit Beendigung des Krieges erst akut geworden. Julian Schmidt hat einmal gesagt, daß auch dem Ausland der innere Zu¬ sammenhang zwischen Faust und Sedan, der in der deutschen Nationalität zu suchen sei, deutlich werde. Er ward es, aber freilich in einem ganz anderen Sinne. Bei der Ausnahme Mezieres in die Akademie (1874) kargte Camille Doucet^) ^ seiner Begrüßungsrede zwar keineswegs mit dem Beifall, den er der Arbeit des neuen Kollegen zollte. Ob aber dieser „heldenmütige Versuch" seinen Lohn gefunden, scheute er nicht zu fragen Und hielt auch nicht mit dem Geständnis zurück, daß er sehr viel „strenger" als Mezieres über Goethe denke. Schließlich fanden sich dennoch die Ansichten in der unverhohlener Anerkennung und Liebe Goethes für französisches Wesen, und so endigte dies Schauspiel, wenngleich an erster Bühne agiert, friedlicher als andere voraufgegangene Szenen. In einem offenen Briefe vom 27. Juli 1872 an den Chefredakteur der „Kenaissanee litteraire et al-tisique" hatte nämlich wesentlich unverblümter Menard eine Reaktion gegen das intellektuelle Deutschland für unerläßlich er¬ klärt: „it kauärait eommsneer par empoiZner leur eilen, le Zrancl (Zoetne, Is plus viele et le plus Zorne cle tous leurs Mannequins." Wenn er dabei den zweiten Teil Faust einen unverdaulichen Plunder (inäiAeste tatras) nannte und dem Lebenswerk Goethes jeden moralischen Gehalt absprach, so war ein derartiges Gutachten freilich ohne den „Maßstab" Sedan nicht gut denkbar. Übrigens stand er keineswegs als Rufer in der Wüste da. Ihm pflichtete sofort Edmond Scherer bei, der zwar vor zehn Jahren, noch gelegentlich der Übersetzung Porchats, den Faust als ouvraZe gerühmt hatte, „ami, sans ressernbler ü nen as es que les nommss ont jamais ka.it, ne le noae ü aucun c?es LNeks-6'oeuvre an passe", seit dem Kriege aber Goethe nur als den auf seine persönliche Fortbildung bedachten Egoisten wertete. Wenn 1864 bereits (in seinem William Shakespeare) Victor Hugo für Goethe die Formel aufgestellt hatte: „etre inclikkerent, cela s'appelait Stre Olvrnpien", so mag man das als eine zwar eigenartige Anschauung gelten lassen (obwohl 4) W. Goethe »I^es ceuvros expliquüos par le ol«." °) Vgl. dazu Ludwig Spach „Zur Geschichte der modernen französischen Literatur", Straßburg 1877, S. 85 ff. Zum ganzen die genannten Werke von Baldensverger.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/128>, abgerufen am 01.07.2024.