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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Die polnische Frage

Interessen gefordert. Alle diese Umstände hätten die polnischen Politiker nicht
dazu gebracht, daß sie den Kampf um die Sonderstellung Galiziens zurück¬
stellten, wenn ihr eigentliches Ziel nicht die Verbindung Galiziens mit dem
neuen Polen gewesen wäre. Daß dieses Polen entgegen den Absichten des
Obersten Nationalkomitees ein selbständiger Staat geworden war, hatte selbst¬
verständlich die galizische Frage überaus erschwert. Unter diesen Umständen
gewannen die radikalen Elemente immer mehr Einfluß. Durch den Ausbruch
der russischen Revolution wurden sie Herren der Lage.

Es ist ein merkwürdiges Schicksal unseres deutschen Krieges, daß er nicht
nur den Polen die Freiheit brachte, sondern auch durch die Niederschmetterung
der russischen Heeresmacht den Boden für die russische Revolution vorbereitete
und dadurch in der Polen- und Ruthenenfrage uns neue Schwierigkeiten schuf.

Bekanntlich nahm die neue russische Negierung das Programm von
Nikolai Nikolajewitsch auf. Sie verkündigte Ende März in ihrem Aufrufe
an die Polen, daß die politischen Rechte, die die Mittelmächte ihnen gegeben
haben, hinfällig seien und versprach die Schaffung eines aus allen Gebieten
mit polnischer Bevölkerungsmehrheit gebildeten polnischen Staatswesens. Da
aber dieser Staat im engsten militärischen Verbände mit Rußland stehen
und eine nach Warschau einzuberufende "konstituierende Versammlung" über
die Regierungsform Polens entscheiden sollte, da aber vor allem die
Russen nichts von den polnischen Ländern in Händen hatten, lehnten polnische
Blätter und der Staatsrat mit verbindlichen Worten das russische Angebot ab
(13. April). Manche Anzeichen sprechen jedoch dafür, daß nicht alle Polen
dieser Ansicht waren. So finden wir am 18. April eine polnische Blätter¬
stimme, welche die Zurückweisung der russischen Proklamation mit folgender
Bemerkung begleitet: "Jene Hoffnungen, die gewisse Kreise an das alte Nu߬
land knüpften, feien (durch die Revolution) zunichte geworden, und allem
Gerede über die bindende Kraft des Untertaneneides sei ein Ende gemacht."
Daraus ist zu ersehen, daß man in Polen wieder gegen russophile Strömungen
zu kämpfen hatte. Eine lehrreiche Illustration dazu bietet die Nachricht, daß
der bekannte Josef Wilsudski, der ursprünglich die galizischen Legionen gebildet
hatte und als künftiger Kriegsminister Polens genannt wurde, aus dem
Warschauer Staatsrat zurücktrat und nach Rußland ging, weil ihm nicht alles
in Polen nach Wunsch ging. In Rußland soll er an der Bildung eines
polnischen Heeres beteiligt sein, in das auch die in Frankreich und Amerika
gebildeten polnischen Legionen treten würden*). Dazu kommt die Nachricht,
daß der Warschauer Staatsrat am 1. Mai neue Forderungen erhoben und
am 17. Mai (vorübergehend) seine Tätigkeit eingestellt hat, worauf am 10. Juni



*) Die Nachricht von Wilsudski wird soeben dementiert. Aber schon der Bestand der
französischen und amerikanischen Polcnlegion beweist, daß die Polen noch immer uneinig
sind und russophile Strömungen herrschen.
Die polnische Frage

Interessen gefordert. Alle diese Umstände hätten die polnischen Politiker nicht
dazu gebracht, daß sie den Kampf um die Sonderstellung Galiziens zurück¬
stellten, wenn ihr eigentliches Ziel nicht die Verbindung Galiziens mit dem
neuen Polen gewesen wäre. Daß dieses Polen entgegen den Absichten des
Obersten Nationalkomitees ein selbständiger Staat geworden war, hatte selbst¬
verständlich die galizische Frage überaus erschwert. Unter diesen Umständen
gewannen die radikalen Elemente immer mehr Einfluß. Durch den Ausbruch
der russischen Revolution wurden sie Herren der Lage.

Es ist ein merkwürdiges Schicksal unseres deutschen Krieges, daß er nicht
nur den Polen die Freiheit brachte, sondern auch durch die Niederschmetterung
der russischen Heeresmacht den Boden für die russische Revolution vorbereitete
und dadurch in der Polen- und Ruthenenfrage uns neue Schwierigkeiten schuf.

Bekanntlich nahm die neue russische Negierung das Programm von
Nikolai Nikolajewitsch auf. Sie verkündigte Ende März in ihrem Aufrufe
an die Polen, daß die politischen Rechte, die die Mittelmächte ihnen gegeben
haben, hinfällig seien und versprach die Schaffung eines aus allen Gebieten
mit polnischer Bevölkerungsmehrheit gebildeten polnischen Staatswesens. Da
aber dieser Staat im engsten militärischen Verbände mit Rußland stehen
und eine nach Warschau einzuberufende „konstituierende Versammlung" über
die Regierungsform Polens entscheiden sollte, da aber vor allem die
Russen nichts von den polnischen Ländern in Händen hatten, lehnten polnische
Blätter und der Staatsrat mit verbindlichen Worten das russische Angebot ab
(13. April). Manche Anzeichen sprechen jedoch dafür, daß nicht alle Polen
dieser Ansicht waren. So finden wir am 18. April eine polnische Blätter¬
stimme, welche die Zurückweisung der russischen Proklamation mit folgender
Bemerkung begleitet: „Jene Hoffnungen, die gewisse Kreise an das alte Nu߬
land knüpften, feien (durch die Revolution) zunichte geworden, und allem
Gerede über die bindende Kraft des Untertaneneides sei ein Ende gemacht."
Daraus ist zu ersehen, daß man in Polen wieder gegen russophile Strömungen
zu kämpfen hatte. Eine lehrreiche Illustration dazu bietet die Nachricht, daß
der bekannte Josef Wilsudski, der ursprünglich die galizischen Legionen gebildet
hatte und als künftiger Kriegsminister Polens genannt wurde, aus dem
Warschauer Staatsrat zurücktrat und nach Rußland ging, weil ihm nicht alles
in Polen nach Wunsch ging. In Rußland soll er an der Bildung eines
polnischen Heeres beteiligt sein, in das auch die in Frankreich und Amerika
gebildeten polnischen Legionen treten würden*). Dazu kommt die Nachricht,
daß der Warschauer Staatsrat am 1. Mai neue Forderungen erhoben und
am 17. Mai (vorübergehend) seine Tätigkeit eingestellt hat, worauf am 10. Juni



*) Die Nachricht von Wilsudski wird soeben dementiert. Aber schon der Bestand der
französischen und amerikanischen Polcnlegion beweist, daß die Polen noch immer uneinig
sind und russophile Strömungen herrschen.
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[0102] Die polnische Frage Interessen gefordert. Alle diese Umstände hätten die polnischen Politiker nicht dazu gebracht, daß sie den Kampf um die Sonderstellung Galiziens zurück¬ stellten, wenn ihr eigentliches Ziel nicht die Verbindung Galiziens mit dem neuen Polen gewesen wäre. Daß dieses Polen entgegen den Absichten des Obersten Nationalkomitees ein selbständiger Staat geworden war, hatte selbst¬ verständlich die galizische Frage überaus erschwert. Unter diesen Umständen gewannen die radikalen Elemente immer mehr Einfluß. Durch den Ausbruch der russischen Revolution wurden sie Herren der Lage. Es ist ein merkwürdiges Schicksal unseres deutschen Krieges, daß er nicht nur den Polen die Freiheit brachte, sondern auch durch die Niederschmetterung der russischen Heeresmacht den Boden für die russische Revolution vorbereitete und dadurch in der Polen- und Ruthenenfrage uns neue Schwierigkeiten schuf. Bekanntlich nahm die neue russische Negierung das Programm von Nikolai Nikolajewitsch auf. Sie verkündigte Ende März in ihrem Aufrufe an die Polen, daß die politischen Rechte, die die Mittelmächte ihnen gegeben haben, hinfällig seien und versprach die Schaffung eines aus allen Gebieten mit polnischer Bevölkerungsmehrheit gebildeten polnischen Staatswesens. Da aber dieser Staat im engsten militärischen Verbände mit Rußland stehen und eine nach Warschau einzuberufende „konstituierende Versammlung" über die Regierungsform Polens entscheiden sollte, da aber vor allem die Russen nichts von den polnischen Ländern in Händen hatten, lehnten polnische Blätter und der Staatsrat mit verbindlichen Worten das russische Angebot ab (13. April). Manche Anzeichen sprechen jedoch dafür, daß nicht alle Polen dieser Ansicht waren. So finden wir am 18. April eine polnische Blätter¬ stimme, welche die Zurückweisung der russischen Proklamation mit folgender Bemerkung begleitet: „Jene Hoffnungen, die gewisse Kreise an das alte Nu߬ land knüpften, feien (durch die Revolution) zunichte geworden, und allem Gerede über die bindende Kraft des Untertaneneides sei ein Ende gemacht." Daraus ist zu ersehen, daß man in Polen wieder gegen russophile Strömungen zu kämpfen hatte. Eine lehrreiche Illustration dazu bietet die Nachricht, daß der bekannte Josef Wilsudski, der ursprünglich die galizischen Legionen gebildet hatte und als künftiger Kriegsminister Polens genannt wurde, aus dem Warschauer Staatsrat zurücktrat und nach Rußland ging, weil ihm nicht alles in Polen nach Wunsch ging. In Rußland soll er an der Bildung eines polnischen Heeres beteiligt sein, in das auch die in Frankreich und Amerika gebildeten polnischen Legionen treten würden*). Dazu kommt die Nachricht, daß der Warschauer Staatsrat am 1. Mai neue Forderungen erhoben und am 17. Mai (vorübergehend) seine Tätigkeit eingestellt hat, worauf am 10. Juni *) Die Nachricht von Wilsudski wird soeben dementiert. Aber schon der Bestand der französischen und amerikanischen Polcnlegion beweist, daß die Polen noch immer uneinig sind und russophile Strömungen herrschen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/102>, abgerufen am 01.07.2024.