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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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geklagt, daß ein Teil der Landwirte, der städtischen Bevölkerung und der Ar¬
beiterschaft nicht mittun will. Die Großgrundbesitzer scheuen sich vor demo¬
kratischen Strömungen, die durch die neuen Verhältnisse hervorgerufen werden
könnten. Man fürchtet offenbar die Ansprüche der bisher unterdrückten Bauern.
Ebenso besteht die Scheu vor einer Erhebung der Arbeiterschaft, die unbekümmert
um nationale Ziele ihre eigenen Wege gehen will. Aber auch der Geistlichkeit
ist man nicht sicher. Die Spaltung muß sehr beträchtlich sein, denn ein polnisches
Organ äußert sich: .Entweder -- Oder! Entweder stellen sich alle unsere Land¬
wirte und der ganze Klerus auf die Seite des polnischen Staates oder es gibt
für sie keinen Platz in Polen. Dann aber haben wir das Recht, sie als russische
Untertanen anzusehen und zur Auswanderung nach Rußland zu zwingen.'
Das läßt sehr tief blicken, bietet aber für den Sachkundigen keine Überraschung.
Ebenso wurde die Verschärfung der jüdischen Frage vorausgesehen. Tatsächlich
werden von jüdischer Seite Klagen geführt über Mißhandlung der Juden durch
Polen. Die jüdischen Stadtverordneten beginnen sich zu einheitlichem Vorgehen
zu verbinden. Andererseits findet man in polnischen Blättern spaltenlange
Artikel, die gegen die Juden, ihre Moral und die in ihren Schulbüchern ent¬
haltenen Lehren gegen die "Gojm" (Christen) wettern. Ebenso klagen diese
polnischen Blätter über die Agitation der Nuthenen, gegen die Sonderstellung
Galiziens. Sie werfen den Ukrainern vor, daß sie sich Rußland nähern, zu¬
sammen rin Dumaabgeordneten einen Entwurf für die ukrainische Autonomie
in Rußland beraten und Beziehungen zur "alldeutschen Klique" suchen. Schon
wird auch allgemein davou gesprochen, daß sich unter den polnischen Demo¬
kraten gefährliche Elemente befinden, die unschädlich gemacht werden müssen.
Der Schriftsteller Nowazinski soll den polnischen Staat in zahlreichen Flug¬
schriften angreifen. Auch unter der hohen polnischen Geistlichkeit gibt es Un¬
stimmigkeiten. Der Ton der polnischen Blätter läßt allgemein erkennen, daß
wenig Zuversicht auf eine glatte Abwicklung der polnischen Bestrebungen vor¬
handen ist. Die Deutschen unter den Polen rüsten sich, ihre Rechte zu ver¬
teidigen. So fand vor einiger Zeit eine von zweitausend Deutschen besuchte
Versammlung statt, die die Forderungen der Deutschen festlegte, und für sie
Sicherheiten forderte. Diese müßten sich erstrecken auf Gewährleistung des
Bürgerrechtes, Schutz der konfessionellen Freiheit, Vertretung der Interessen der
deutschen Minderheit im Staate, in der Stadt und auf dem Lande, Schutz der
deutschen Arbeit, des uneingeschränkten Vereins-, Koalitions- und Versammlungs¬
rechtes, und vor allem auf das Recht an der Erhaltung, Entwicklung und Ver¬
waltung der niederen, mittleren und höheren deutschen Schulen im Lande.
Ferner sei die Selbstverwaltung der wohltätigen Anstalten der Deutschen zu ge¬
währleisten. Wie man sieht, lodert der nationale und religiöse Zwist in ver
stürktem Maße auf. Der Neuordnung der Verhältnisse entstehen daraus große
Schwierigkeiten." Zu dem allen kommen die ungünstigen wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse in Polen; man hörte wiederholt von Anleihen bei deutschen Banken.
Schließlich versagte offenbar auch die Aufstellung eines polnischen Heeres.


geklagt, daß ein Teil der Landwirte, der städtischen Bevölkerung und der Ar¬
beiterschaft nicht mittun will. Die Großgrundbesitzer scheuen sich vor demo¬
kratischen Strömungen, die durch die neuen Verhältnisse hervorgerufen werden
könnten. Man fürchtet offenbar die Ansprüche der bisher unterdrückten Bauern.
Ebenso besteht die Scheu vor einer Erhebung der Arbeiterschaft, die unbekümmert
um nationale Ziele ihre eigenen Wege gehen will. Aber auch der Geistlichkeit
ist man nicht sicher. Die Spaltung muß sehr beträchtlich sein, denn ein polnisches
Organ äußert sich: .Entweder — Oder! Entweder stellen sich alle unsere Land¬
wirte und der ganze Klerus auf die Seite des polnischen Staates oder es gibt
für sie keinen Platz in Polen. Dann aber haben wir das Recht, sie als russische
Untertanen anzusehen und zur Auswanderung nach Rußland zu zwingen.'
Das läßt sehr tief blicken, bietet aber für den Sachkundigen keine Überraschung.
Ebenso wurde die Verschärfung der jüdischen Frage vorausgesehen. Tatsächlich
werden von jüdischer Seite Klagen geführt über Mißhandlung der Juden durch
Polen. Die jüdischen Stadtverordneten beginnen sich zu einheitlichem Vorgehen
zu verbinden. Andererseits findet man in polnischen Blättern spaltenlange
Artikel, die gegen die Juden, ihre Moral und die in ihren Schulbüchern ent¬
haltenen Lehren gegen die „Gojm" (Christen) wettern. Ebenso klagen diese
polnischen Blätter über die Agitation der Nuthenen, gegen die Sonderstellung
Galiziens. Sie werfen den Ukrainern vor, daß sie sich Rußland nähern, zu¬
sammen rin Dumaabgeordneten einen Entwurf für die ukrainische Autonomie
in Rußland beraten und Beziehungen zur „alldeutschen Klique" suchen. Schon
wird auch allgemein davou gesprochen, daß sich unter den polnischen Demo¬
kraten gefährliche Elemente befinden, die unschädlich gemacht werden müssen.
Der Schriftsteller Nowazinski soll den polnischen Staat in zahlreichen Flug¬
schriften angreifen. Auch unter der hohen polnischen Geistlichkeit gibt es Un¬
stimmigkeiten. Der Ton der polnischen Blätter läßt allgemein erkennen, daß
wenig Zuversicht auf eine glatte Abwicklung der polnischen Bestrebungen vor¬
handen ist. Die Deutschen unter den Polen rüsten sich, ihre Rechte zu ver¬
teidigen. So fand vor einiger Zeit eine von zweitausend Deutschen besuchte
Versammlung statt, die die Forderungen der Deutschen festlegte, und für sie
Sicherheiten forderte. Diese müßten sich erstrecken auf Gewährleistung des
Bürgerrechtes, Schutz der konfessionellen Freiheit, Vertretung der Interessen der
deutschen Minderheit im Staate, in der Stadt und auf dem Lande, Schutz der
deutschen Arbeit, des uneingeschränkten Vereins-, Koalitions- und Versammlungs¬
rechtes, und vor allem auf das Recht an der Erhaltung, Entwicklung und Ver¬
waltung der niederen, mittleren und höheren deutschen Schulen im Lande.
Ferner sei die Selbstverwaltung der wohltätigen Anstalten der Deutschen zu ge¬
währleisten. Wie man sieht, lodert der nationale und religiöse Zwist in ver
stürktem Maße auf. Der Neuordnung der Verhältnisse entstehen daraus große
Schwierigkeiten." Zu dem allen kommen die ungünstigen wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse in Polen; man hörte wiederholt von Anleihen bei deutschen Banken.
Schließlich versagte offenbar auch die Aufstellung eines polnischen Heeres.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/100>, abgerufen am 01.07.2024.