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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Deutschkunde oder Germanistik?

Studien bereits im Anne stehender Germanisten, Historiker, Geographen, die
sich zu Deutschkundelehrern ausbilden wollen, die Folge zu ziehen sein.

Wir haben ein Studium der Deutschkunde nicht; die Germanisten sind in
Wahrheit germanische Philologen, wobei der Begriff der Philologie oft in be¬
ängstigender Enge gefaßt wird, viel enger als seit langem in der klassischen
Philologie. Während dort seit Boeckh die gesamte menschliche Kultur ihrer
Völker zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht wurde, hat die
Germanistik zwar den Grundsatz nicht abgelehnt, aber doch in der Praxis nicht
durchgeführt. Sie hat sich viel zu sehr auf die Bearbeitung der sprachlichen
und der literarischen Denkmäler beschränkt, und sie hat immer den Schwer¬
punkt aller echten Germanistik im Alten und Mittelalter gesucht. Damit ist
aber der Schule nicht gedient. Sie kann weder die Trockenheit der rein
sprachlich-literarischen Arbeit brauchen, denn sie will die Menschen auch lebendig
aufzeigen, noch kann sie sich der Aufgabe entziehen, auch aus den neueren
Lebensäußerungen des deutschen Menschen sein deutsches Wesen erkennen zu
lehren. Wenn es auch richtig ist. daß aus der älteren deutschen Kultur das
Deutschtum stärker hervorleuchtet als aus der Kultur nach dem großen Bruch,
den der Humanismus in unser Volkswesen gebracht hat, so ist es doch unsere
Gegenwart und Zukunft, die ihr Licht empfangen soll ans der Betrachtung des
Werdeganges bis auf uns herab.

So kann das Studium der Germanistik dem künftigen Deutschkundelehrer
nicht genügen. Er muß sich sein Wissen suchen, wo er es findet, und wenn
er in vielen Fällen im Vorlesungsverzeichnis der Universität vergeblich nach
den für ihn passenden Vorlesungen suchen wird, so wird er doch dnrch privates
Studium meist die Lücken schließen können. Auch ist zu hoffen, daß der Hoch¬
schulunterricht, sobald die Deutschkunde erst einmal anerkanntes Studiengebiet
sein wird, sich ihren Forderungen schnell anpaßt.

Wenn ich es nun versuche, die Gebiete in großen Zügen zu umreißen,
denen der Student der Deutschkunde seine Arbeit zu widmen hätte, so versteht
es sich bei der Menge der Gegenstände von selbst, daß je nach Neigung und
Gelegenheit ein Studienzweig mehr bevorzugt, der andere mehr vernachlässigt
werden kann; auch wird eine genauere Prüfung der einzelnen Fächer bald
eine Scheidung in wichtigere und minder wichtige ergeben. Ganz fremd aber
sollte der Lehrer der Deutschkunde auf keinem der angegebenen Gebiete sein.

Als Vorkenntnisse bringe der Student auf die Hochschule mit, was die
deutsche höhere Schule bietet; an Fremdsprachen sind Latein und Französisch
unumgänglich, weitere Sprachkenntnisse erwünscht. Das Studium gliedert sich
in einen geographisch-ethnographischen Zweig, an den die Volkswirtschaftslehre
sich anschließt; in einen sprachlichen, einen historischen und einen philosophischen
Zweig. Ich würde folgende Gebiete im einzelnen zum Studium vorschlagen:

I. Allgemeine physische Geographie, allgemeine politische Geographie (Ratzell);
Klimalehre; physische Geographie, Fauna und Flora Deutschlands; politische


Deutschkunde oder Germanistik?

Studien bereits im Anne stehender Germanisten, Historiker, Geographen, die
sich zu Deutschkundelehrern ausbilden wollen, die Folge zu ziehen sein.

Wir haben ein Studium der Deutschkunde nicht; die Germanisten sind in
Wahrheit germanische Philologen, wobei der Begriff der Philologie oft in be¬
ängstigender Enge gefaßt wird, viel enger als seit langem in der klassischen
Philologie. Während dort seit Boeckh die gesamte menschliche Kultur ihrer
Völker zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht wurde, hat die
Germanistik zwar den Grundsatz nicht abgelehnt, aber doch in der Praxis nicht
durchgeführt. Sie hat sich viel zu sehr auf die Bearbeitung der sprachlichen
und der literarischen Denkmäler beschränkt, und sie hat immer den Schwer¬
punkt aller echten Germanistik im Alten und Mittelalter gesucht. Damit ist
aber der Schule nicht gedient. Sie kann weder die Trockenheit der rein
sprachlich-literarischen Arbeit brauchen, denn sie will die Menschen auch lebendig
aufzeigen, noch kann sie sich der Aufgabe entziehen, auch aus den neueren
Lebensäußerungen des deutschen Menschen sein deutsches Wesen erkennen zu
lehren. Wenn es auch richtig ist. daß aus der älteren deutschen Kultur das
Deutschtum stärker hervorleuchtet als aus der Kultur nach dem großen Bruch,
den der Humanismus in unser Volkswesen gebracht hat, so ist es doch unsere
Gegenwart und Zukunft, die ihr Licht empfangen soll ans der Betrachtung des
Werdeganges bis auf uns herab.

So kann das Studium der Germanistik dem künftigen Deutschkundelehrer
nicht genügen. Er muß sich sein Wissen suchen, wo er es findet, und wenn
er in vielen Fällen im Vorlesungsverzeichnis der Universität vergeblich nach
den für ihn passenden Vorlesungen suchen wird, so wird er doch dnrch privates
Studium meist die Lücken schließen können. Auch ist zu hoffen, daß der Hoch¬
schulunterricht, sobald die Deutschkunde erst einmal anerkanntes Studiengebiet
sein wird, sich ihren Forderungen schnell anpaßt.

Wenn ich es nun versuche, die Gebiete in großen Zügen zu umreißen,
denen der Student der Deutschkunde seine Arbeit zu widmen hätte, so versteht
es sich bei der Menge der Gegenstände von selbst, daß je nach Neigung und
Gelegenheit ein Studienzweig mehr bevorzugt, der andere mehr vernachlässigt
werden kann; auch wird eine genauere Prüfung der einzelnen Fächer bald
eine Scheidung in wichtigere und minder wichtige ergeben. Ganz fremd aber
sollte der Lehrer der Deutschkunde auf keinem der angegebenen Gebiete sein.

Als Vorkenntnisse bringe der Student auf die Hochschule mit, was die
deutsche höhere Schule bietet; an Fremdsprachen sind Latein und Französisch
unumgänglich, weitere Sprachkenntnisse erwünscht. Das Studium gliedert sich
in einen geographisch-ethnographischen Zweig, an den die Volkswirtschaftslehre
sich anschließt; in einen sprachlichen, einen historischen und einen philosophischen
Zweig. Ich würde folgende Gebiete im einzelnen zum Studium vorschlagen:

I. Allgemeine physische Geographie, allgemeine politische Geographie (Ratzell);
Klimalehre; physische Geographie, Fauna und Flora Deutschlands; politische


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[0157] Deutschkunde oder Germanistik? Studien bereits im Anne stehender Germanisten, Historiker, Geographen, die sich zu Deutschkundelehrern ausbilden wollen, die Folge zu ziehen sein. Wir haben ein Studium der Deutschkunde nicht; die Germanisten sind in Wahrheit germanische Philologen, wobei der Begriff der Philologie oft in be¬ ängstigender Enge gefaßt wird, viel enger als seit langem in der klassischen Philologie. Während dort seit Boeckh die gesamte menschliche Kultur ihrer Völker zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht wurde, hat die Germanistik zwar den Grundsatz nicht abgelehnt, aber doch in der Praxis nicht durchgeführt. Sie hat sich viel zu sehr auf die Bearbeitung der sprachlichen und der literarischen Denkmäler beschränkt, und sie hat immer den Schwer¬ punkt aller echten Germanistik im Alten und Mittelalter gesucht. Damit ist aber der Schule nicht gedient. Sie kann weder die Trockenheit der rein sprachlich-literarischen Arbeit brauchen, denn sie will die Menschen auch lebendig aufzeigen, noch kann sie sich der Aufgabe entziehen, auch aus den neueren Lebensäußerungen des deutschen Menschen sein deutsches Wesen erkennen zu lehren. Wenn es auch richtig ist. daß aus der älteren deutschen Kultur das Deutschtum stärker hervorleuchtet als aus der Kultur nach dem großen Bruch, den der Humanismus in unser Volkswesen gebracht hat, so ist es doch unsere Gegenwart und Zukunft, die ihr Licht empfangen soll ans der Betrachtung des Werdeganges bis auf uns herab. So kann das Studium der Germanistik dem künftigen Deutschkundelehrer nicht genügen. Er muß sich sein Wissen suchen, wo er es findet, und wenn er in vielen Fällen im Vorlesungsverzeichnis der Universität vergeblich nach den für ihn passenden Vorlesungen suchen wird, so wird er doch dnrch privates Studium meist die Lücken schließen können. Auch ist zu hoffen, daß der Hoch¬ schulunterricht, sobald die Deutschkunde erst einmal anerkanntes Studiengebiet sein wird, sich ihren Forderungen schnell anpaßt. Wenn ich es nun versuche, die Gebiete in großen Zügen zu umreißen, denen der Student der Deutschkunde seine Arbeit zu widmen hätte, so versteht es sich bei der Menge der Gegenstände von selbst, daß je nach Neigung und Gelegenheit ein Studienzweig mehr bevorzugt, der andere mehr vernachlässigt werden kann; auch wird eine genauere Prüfung der einzelnen Fächer bald eine Scheidung in wichtigere und minder wichtige ergeben. Ganz fremd aber sollte der Lehrer der Deutschkunde auf keinem der angegebenen Gebiete sein. Als Vorkenntnisse bringe der Student auf die Hochschule mit, was die deutsche höhere Schule bietet; an Fremdsprachen sind Latein und Französisch unumgänglich, weitere Sprachkenntnisse erwünscht. Das Studium gliedert sich in einen geographisch-ethnographischen Zweig, an den die Volkswirtschaftslehre sich anschließt; in einen sprachlichen, einen historischen und einen philosophischen Zweig. Ich würde folgende Gebiete im einzelnen zum Studium vorschlagen: I. Allgemeine physische Geographie, allgemeine politische Geographie (Ratzell); Klimalehre; physische Geographie, Fauna und Flora Deutschlands; politische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/157>, abgerufen am 15.01.2025.