Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutschkunde oder Germanistik?

volkswirtschaftlich, sondern auch insofern sie eine Wandlung in der Denkweise
hervorgebracht hat, man sieht den Gegensatz zwischen Stadt und Land ent¬
stehen (RiehtI). Nimmt man eine oder die andere Stadt als Beispiel vor, so
beginnt man mit den geographischen Grundlagen ihres Werdens, steht sie im
alten und im neuen Bilde und im Grundriß und ihren merkwürdigen Bauten,
liest ihre chronikalischen Aufzeichnungen, lernt die Denkart bestimmter Epochen
kennen. Auch hier klinge die Mundart der Stadt, erfahre der Schüler von
den gegenwärtigen Beschäftigungen und Gewohnheiten der Bürger. Oder man
verfolgt die Geschichte eines deutschen Stammes/ z. B. der Schwaben oder der
Niederländer, durch die Jahrhunderte, ausgehend vom Boden, von ethno¬
graphischen Verhältnissen und von der Urzeit und endend mit der heutigen
politischen und wirtschaftlichen Zugehörigkeit, überall die Zeiten nicht nur reich
mit historischer Charakteristik, sondern auch mit künstlerischer und literarischer
Leistung ausmalend.

Auch der literaturgeschichtliche Unterricht (wenn man ihn nicht durch einen
geistesgeschichtlichen umschließen läßt) kann den Ausgangspunkt solcher Be¬
trachtungen bilden, wenn man sich grundsätzlich dazu entschließt, in Dichters
Lande zu gehen, das Dichtwerk mehr als bisher in die geistige Atmosphäre
der Zeit, der Landschaft und des sozialen Kreises hineinsieht, die Denkweise
und Mundart in des Dichters Kinderstube und Schulstube, seine Umgebung und
seinen wachsenden Gesichtskreis beobachtet. Und wenn die Kunstgeschichte in
unseren höheren Schulen erst einmal Wurzel fassen wird, wieviel wird der
empfängliche Schüler für das Verständnis eines Werkes gewinnen, wenn er
zeitlich und örtlich orientiert ist, und anderseits wird auch die Betrachtung der
Kunstwerke einer Zeit ihn lehren, wie jene Zeit die Welt sah, und wie ein
Sohn jener Tage seinem inneren Erlebnis Formen gab.

Von selbst führen hier Wege hinüber zu Fragen der Weltanschauung, der
Kulturphilosophie und der Ästhetik, die gewiß oft begangen werden können
und sollen.

Ja selbst der stolze Lateinunterricht unserer höheren Schulen sollte von
seinem Throne steigen, um sich der höheren Würde des eigenen Volkstums
zu beugen. Die Zeiten der reinen ciceronischen Phrase und des alleinselig¬
machenden color latinus sind ohnehin vorbei. So entschließe man sich end¬
lich, die antiken Klassiker zurücktreten zu lassen. Statt Livius könnte man Otto
von Freising oder Lampert von Hersfeld lesen, statt Sallust Wipo oder Ein¬
hard, statt Ovid das Lärmen cle oello Laxonico oder Waltharius und
Ruodlieb. Unsere Ahnen sind es, die hierdurch lebendig werden. Und neben
Walthers Lyrik darf sich manches Stück aus den Larmina IZurana sehen lassen.
Will man diesen konsequenten Schritt nicht tun (auch Humanistenwerke, wie
ausgewählte Lpistolas obseurorum virorum und viele charakteristische Schriften
deutschen Gefühls aus dem sechzehnten Jahrhundert kämen noch in Betracht),
so denke man doch jedenfalls daran, daß wir mustergültige Übersetzungen haben.


Deutschkunde oder Germanistik?

volkswirtschaftlich, sondern auch insofern sie eine Wandlung in der Denkweise
hervorgebracht hat, man sieht den Gegensatz zwischen Stadt und Land ent¬
stehen (RiehtI). Nimmt man eine oder die andere Stadt als Beispiel vor, so
beginnt man mit den geographischen Grundlagen ihres Werdens, steht sie im
alten und im neuen Bilde und im Grundriß und ihren merkwürdigen Bauten,
liest ihre chronikalischen Aufzeichnungen, lernt die Denkart bestimmter Epochen
kennen. Auch hier klinge die Mundart der Stadt, erfahre der Schüler von
den gegenwärtigen Beschäftigungen und Gewohnheiten der Bürger. Oder man
verfolgt die Geschichte eines deutschen Stammes/ z. B. der Schwaben oder der
Niederländer, durch die Jahrhunderte, ausgehend vom Boden, von ethno¬
graphischen Verhältnissen und von der Urzeit und endend mit der heutigen
politischen und wirtschaftlichen Zugehörigkeit, überall die Zeiten nicht nur reich
mit historischer Charakteristik, sondern auch mit künstlerischer und literarischer
Leistung ausmalend.

Auch der literaturgeschichtliche Unterricht (wenn man ihn nicht durch einen
geistesgeschichtlichen umschließen läßt) kann den Ausgangspunkt solcher Be¬
trachtungen bilden, wenn man sich grundsätzlich dazu entschließt, in Dichters
Lande zu gehen, das Dichtwerk mehr als bisher in die geistige Atmosphäre
der Zeit, der Landschaft und des sozialen Kreises hineinsieht, die Denkweise
und Mundart in des Dichters Kinderstube und Schulstube, seine Umgebung und
seinen wachsenden Gesichtskreis beobachtet. Und wenn die Kunstgeschichte in
unseren höheren Schulen erst einmal Wurzel fassen wird, wieviel wird der
empfängliche Schüler für das Verständnis eines Werkes gewinnen, wenn er
zeitlich und örtlich orientiert ist, und anderseits wird auch die Betrachtung der
Kunstwerke einer Zeit ihn lehren, wie jene Zeit die Welt sah, und wie ein
Sohn jener Tage seinem inneren Erlebnis Formen gab.

Von selbst führen hier Wege hinüber zu Fragen der Weltanschauung, der
Kulturphilosophie und der Ästhetik, die gewiß oft begangen werden können
und sollen.

Ja selbst der stolze Lateinunterricht unserer höheren Schulen sollte von
seinem Throne steigen, um sich der höheren Würde des eigenen Volkstums
zu beugen. Die Zeiten der reinen ciceronischen Phrase und des alleinselig¬
machenden color latinus sind ohnehin vorbei. So entschließe man sich end¬
lich, die antiken Klassiker zurücktreten zu lassen. Statt Livius könnte man Otto
von Freising oder Lampert von Hersfeld lesen, statt Sallust Wipo oder Ein¬
hard, statt Ovid das Lärmen cle oello Laxonico oder Waltharius und
Ruodlieb. Unsere Ahnen sind es, die hierdurch lebendig werden. Und neben
Walthers Lyrik darf sich manches Stück aus den Larmina IZurana sehen lassen.
Will man diesen konsequenten Schritt nicht tun (auch Humanistenwerke, wie
ausgewählte Lpistolas obseurorum virorum und viele charakteristische Schriften
deutschen Gefühls aus dem sechzehnten Jahrhundert kämen noch in Betracht),
so denke man doch jedenfalls daran, daß wir mustergültige Übersetzungen haben.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0155" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331997"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutschkunde oder Germanistik?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_396" prev="#ID_395"> volkswirtschaftlich, sondern auch insofern sie eine Wandlung in der Denkweise<lb/>
hervorgebracht hat, man sieht den Gegensatz zwischen Stadt und Land ent¬<lb/>
stehen (RiehtI). Nimmt man eine oder die andere Stadt als Beispiel vor, so<lb/>
beginnt man mit den geographischen Grundlagen ihres Werdens, steht sie im<lb/>
alten und im neuen Bilde und im Grundriß und ihren merkwürdigen Bauten,<lb/>
liest ihre chronikalischen Aufzeichnungen, lernt die Denkart bestimmter Epochen<lb/>
kennen. Auch hier klinge die Mundart der Stadt, erfahre der Schüler von<lb/>
den gegenwärtigen Beschäftigungen und Gewohnheiten der Bürger. Oder man<lb/>
verfolgt die Geschichte eines deutschen Stammes/ z. B. der Schwaben oder der<lb/>
Niederländer, durch die Jahrhunderte, ausgehend vom Boden, von ethno¬<lb/>
graphischen Verhältnissen und von der Urzeit und endend mit der heutigen<lb/>
politischen und wirtschaftlichen Zugehörigkeit, überall die Zeiten nicht nur reich<lb/>
mit historischer Charakteristik, sondern auch mit künstlerischer und literarischer<lb/>
Leistung ausmalend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_397"> Auch der literaturgeschichtliche Unterricht (wenn man ihn nicht durch einen<lb/>
geistesgeschichtlichen umschließen läßt) kann den Ausgangspunkt solcher Be¬<lb/>
trachtungen bilden, wenn man sich grundsätzlich dazu entschließt, in Dichters<lb/>
Lande zu gehen, das Dichtwerk mehr als bisher in die geistige Atmosphäre<lb/>
der Zeit, der Landschaft und des sozialen Kreises hineinsieht, die Denkweise<lb/>
und Mundart in des Dichters Kinderstube und Schulstube, seine Umgebung und<lb/>
seinen wachsenden Gesichtskreis beobachtet. Und wenn die Kunstgeschichte in<lb/>
unseren höheren Schulen erst einmal Wurzel fassen wird, wieviel wird der<lb/>
empfängliche Schüler für das Verständnis eines Werkes gewinnen, wenn er<lb/>
zeitlich und örtlich orientiert ist, und anderseits wird auch die Betrachtung der<lb/>
Kunstwerke einer Zeit ihn lehren, wie jene Zeit die Welt sah, und wie ein<lb/>
Sohn jener Tage seinem inneren Erlebnis Formen gab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_398"> Von selbst führen hier Wege hinüber zu Fragen der Weltanschauung, der<lb/>
Kulturphilosophie und der Ästhetik, die gewiß oft begangen werden können<lb/>
und sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_399" next="#ID_400"> Ja selbst der stolze Lateinunterricht unserer höheren Schulen sollte von<lb/>
seinem Throne steigen, um sich der höheren Würde des eigenen Volkstums<lb/>
zu beugen. Die Zeiten der reinen ciceronischen Phrase und des alleinselig¬<lb/>
machenden color latinus sind ohnehin vorbei. So entschließe man sich end¬<lb/>
lich, die antiken Klassiker zurücktreten zu lassen. Statt Livius könnte man Otto<lb/>
von Freising oder Lampert von Hersfeld lesen, statt Sallust Wipo oder Ein¬<lb/>
hard, statt Ovid das Lärmen cle oello Laxonico oder Waltharius und<lb/>
Ruodlieb. Unsere Ahnen sind es, die hierdurch lebendig werden. Und neben<lb/>
Walthers Lyrik darf sich manches Stück aus den Larmina IZurana sehen lassen.<lb/>
Will man diesen konsequenten Schritt nicht tun (auch Humanistenwerke, wie<lb/>
ausgewählte Lpistolas obseurorum virorum und viele charakteristische Schriften<lb/>
deutschen Gefühls aus dem sechzehnten Jahrhundert kämen noch in Betracht),<lb/>
so denke man doch jedenfalls daran, daß wir mustergültige Übersetzungen haben.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0155] Deutschkunde oder Germanistik? volkswirtschaftlich, sondern auch insofern sie eine Wandlung in der Denkweise hervorgebracht hat, man sieht den Gegensatz zwischen Stadt und Land ent¬ stehen (RiehtI). Nimmt man eine oder die andere Stadt als Beispiel vor, so beginnt man mit den geographischen Grundlagen ihres Werdens, steht sie im alten und im neuen Bilde und im Grundriß und ihren merkwürdigen Bauten, liest ihre chronikalischen Aufzeichnungen, lernt die Denkart bestimmter Epochen kennen. Auch hier klinge die Mundart der Stadt, erfahre der Schüler von den gegenwärtigen Beschäftigungen und Gewohnheiten der Bürger. Oder man verfolgt die Geschichte eines deutschen Stammes/ z. B. der Schwaben oder der Niederländer, durch die Jahrhunderte, ausgehend vom Boden, von ethno¬ graphischen Verhältnissen und von der Urzeit und endend mit der heutigen politischen und wirtschaftlichen Zugehörigkeit, überall die Zeiten nicht nur reich mit historischer Charakteristik, sondern auch mit künstlerischer und literarischer Leistung ausmalend. Auch der literaturgeschichtliche Unterricht (wenn man ihn nicht durch einen geistesgeschichtlichen umschließen läßt) kann den Ausgangspunkt solcher Be¬ trachtungen bilden, wenn man sich grundsätzlich dazu entschließt, in Dichters Lande zu gehen, das Dichtwerk mehr als bisher in die geistige Atmosphäre der Zeit, der Landschaft und des sozialen Kreises hineinsieht, die Denkweise und Mundart in des Dichters Kinderstube und Schulstube, seine Umgebung und seinen wachsenden Gesichtskreis beobachtet. Und wenn die Kunstgeschichte in unseren höheren Schulen erst einmal Wurzel fassen wird, wieviel wird der empfängliche Schüler für das Verständnis eines Werkes gewinnen, wenn er zeitlich und örtlich orientiert ist, und anderseits wird auch die Betrachtung der Kunstwerke einer Zeit ihn lehren, wie jene Zeit die Welt sah, und wie ein Sohn jener Tage seinem inneren Erlebnis Formen gab. Von selbst führen hier Wege hinüber zu Fragen der Weltanschauung, der Kulturphilosophie und der Ästhetik, die gewiß oft begangen werden können und sollen. Ja selbst der stolze Lateinunterricht unserer höheren Schulen sollte von seinem Throne steigen, um sich der höheren Würde des eigenen Volkstums zu beugen. Die Zeiten der reinen ciceronischen Phrase und des alleinselig¬ machenden color latinus sind ohnehin vorbei. So entschließe man sich end¬ lich, die antiken Klassiker zurücktreten zu lassen. Statt Livius könnte man Otto von Freising oder Lampert von Hersfeld lesen, statt Sallust Wipo oder Ein¬ hard, statt Ovid das Lärmen cle oello Laxonico oder Waltharius und Ruodlieb. Unsere Ahnen sind es, die hierdurch lebendig werden. Und neben Walthers Lyrik darf sich manches Stück aus den Larmina IZurana sehen lassen. Will man diesen konsequenten Schritt nicht tun (auch Humanistenwerke, wie ausgewählte Lpistolas obseurorum virorum und viele charakteristische Schriften deutschen Gefühls aus dem sechzehnten Jahrhundert kämen noch in Betracht), so denke man doch jedenfalls daran, daß wir mustergültige Übersetzungen haben.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/155
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/155>, abgerufen am 14.01.2025.