Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutschkunde oder Germanistik?

möglich, wenn der Lehrer jederzeit auf Landschaft und Stamm sich berufen
kann, sobald die Leistung eines Sohnes jener Gegend zu würdigen ist (vgl.
Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. besonders
für die älteren Zeiträume), wenn also das an der Landschaft haftende geistige
Fluidum -- das sich sonst noch in Dialekt. Sitte, Tracht, den in der Volks¬
kunde zusammengefaßten Bräuchen äußert -- die Tat des einzelnen verstehen
hilft, und wenn das geschichtliche Ereignis als Wirkung und als Ursache in
den großen Teppich des Volkswerdens eingeflochten gezeigt wird; wenn schlie߬
lich die Richtung, in der deutscher Geist schöpferisch tätig ist, auf dem Gebiete
der Literatur. Kunst. Wissenschaft. Politik, sich als eigenartig durch die Jahr¬
tausende erweisen läßt.

Landschaft und Menschen sollten also in Deutschland zusammen betrachtet
werden; in den Ebenen und Gebirgen und Städten die Menschen, die gerade
so beschaffenen und gewordenen Alemannen und Thüringer und Niedersachsen
in Vergangenheit und Gegenwart, in Dichtung und Wissenschaft; neben dem
Stimmungsmäßigen der Landschaft (Noe, Stifter; Dürer, besonders aber
Schwind, Steinhausen, Thoma) der Typus der Menschen, Tracht und Sitte
(für die Vergangenheit die Weistümer heranziehen!), allerlei Volkskundliches,
und vor allem die Mundart (Hebel, Reuter, Groth, Niebergall). Hiermit ver¬
bunden werde Heimatdichtung, herangezogen geschichtliche Bilder aus diesem
Stamme; schließlich die Lebensmöglichkeiten, die heute dieser Boden bietet
(volkswirtschaftliche Ausblicke), Aufschlüsse über technische, industrielle Werke und
das Verkehrswesen schlagen die Brücke zur Gegenwart zurück und zur Zukunft
hinüber.

In großem Maße denke ich mir Schulreisen in den Dienst dieser Sache
gestellt, nicht die monatlichen Bewegungsausflüge, sondern freudige Studien¬
reisen, Schülerwanderungcn unter der Führung eines Deutschkundclehrers. In
vielen Teilen Deutschlands sind solche Fahrten ohne viel Aufwand an Zeit
und Geld möglich, in anderen müßte man sie ermöglichen. Jeder Schüler
sollte einmal ein Gebirge, eine ausgedehnte Ebene, den Wogenschlag des
Meeres, die Einsamkeit eines Walddorfes und das Getriebe einer großen Stadt
gesehen und empfunden haben. Im übrigen ist es selbstverständlich, daß an
Bildern alles nur Erreichbare dem Deutschkunde-Unterricht zur Verfügung
stehen niuß.

Ähnlich wie hier an dem geographisch gegebenen Boden könnte auch an
dem historisch gegebenen Zeitpunkt ein vielseitiger Ausblick gewonnen werden.
Man zeigt z. B. bei der Geschichte des Städtewesens die Fäden auf, die der
Handelsverkehr gesponnen hat, man verfolgt die merkantile Tätigkeit nicht nur


oder anders wünschen (was hat die Drehbühne mit deutscher Art zu schaffen?), aber es ist
eben ein Versuch, dem weitere folgen werden. Wer zum Studium von Meyers deutschem
Volkstum (2. Auflage 1903) nicht Muße hat, wird auch aus Hofstaetter Wertvolles genug
schöpfen. So sei H. als Bundesgenosse für die hier vertretenen Ansichten freudig begrüßt.
Deutschkunde oder Germanistik?

möglich, wenn der Lehrer jederzeit auf Landschaft und Stamm sich berufen
kann, sobald die Leistung eines Sohnes jener Gegend zu würdigen ist (vgl.
Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. besonders
für die älteren Zeiträume), wenn also das an der Landschaft haftende geistige
Fluidum — das sich sonst noch in Dialekt. Sitte, Tracht, den in der Volks¬
kunde zusammengefaßten Bräuchen äußert — die Tat des einzelnen verstehen
hilft, und wenn das geschichtliche Ereignis als Wirkung und als Ursache in
den großen Teppich des Volkswerdens eingeflochten gezeigt wird; wenn schlie߬
lich die Richtung, in der deutscher Geist schöpferisch tätig ist, auf dem Gebiete
der Literatur. Kunst. Wissenschaft. Politik, sich als eigenartig durch die Jahr¬
tausende erweisen läßt.

Landschaft und Menschen sollten also in Deutschland zusammen betrachtet
werden; in den Ebenen und Gebirgen und Städten die Menschen, die gerade
so beschaffenen und gewordenen Alemannen und Thüringer und Niedersachsen
in Vergangenheit und Gegenwart, in Dichtung und Wissenschaft; neben dem
Stimmungsmäßigen der Landschaft (Noe, Stifter; Dürer, besonders aber
Schwind, Steinhausen, Thoma) der Typus der Menschen, Tracht und Sitte
(für die Vergangenheit die Weistümer heranziehen!), allerlei Volkskundliches,
und vor allem die Mundart (Hebel, Reuter, Groth, Niebergall). Hiermit ver¬
bunden werde Heimatdichtung, herangezogen geschichtliche Bilder aus diesem
Stamme; schließlich die Lebensmöglichkeiten, die heute dieser Boden bietet
(volkswirtschaftliche Ausblicke), Aufschlüsse über technische, industrielle Werke und
das Verkehrswesen schlagen die Brücke zur Gegenwart zurück und zur Zukunft
hinüber.

In großem Maße denke ich mir Schulreisen in den Dienst dieser Sache
gestellt, nicht die monatlichen Bewegungsausflüge, sondern freudige Studien¬
reisen, Schülerwanderungcn unter der Führung eines Deutschkundclehrers. In
vielen Teilen Deutschlands sind solche Fahrten ohne viel Aufwand an Zeit
und Geld möglich, in anderen müßte man sie ermöglichen. Jeder Schüler
sollte einmal ein Gebirge, eine ausgedehnte Ebene, den Wogenschlag des
Meeres, die Einsamkeit eines Walddorfes und das Getriebe einer großen Stadt
gesehen und empfunden haben. Im übrigen ist es selbstverständlich, daß an
Bildern alles nur Erreichbare dem Deutschkunde-Unterricht zur Verfügung
stehen niuß.

Ähnlich wie hier an dem geographisch gegebenen Boden könnte auch an
dem historisch gegebenen Zeitpunkt ein vielseitiger Ausblick gewonnen werden.
Man zeigt z. B. bei der Geschichte des Städtewesens die Fäden auf, die der
Handelsverkehr gesponnen hat, man verfolgt die merkantile Tätigkeit nicht nur


oder anders wünschen (was hat die Drehbühne mit deutscher Art zu schaffen?), aber es ist
eben ein Versuch, dem weitere folgen werden. Wer zum Studium von Meyers deutschem
Volkstum (2. Auflage 1903) nicht Muße hat, wird auch aus Hofstaetter Wertvolles genug
schöpfen. So sei H. als Bundesgenosse für die hier vertretenen Ansichten freudig begrüßt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0154" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331996"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutschkunde oder Germanistik?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_392" prev="#ID_391"> möglich, wenn der Lehrer jederzeit auf Landschaft und Stamm sich berufen<lb/>
kann, sobald die Leistung eines Sohnes jener Gegend zu würdigen ist (vgl.<lb/>
Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. besonders<lb/>
für die älteren Zeiträume), wenn also das an der Landschaft haftende geistige<lb/>
Fluidum &#x2014; das sich sonst noch in Dialekt. Sitte, Tracht, den in der Volks¬<lb/>
kunde zusammengefaßten Bräuchen äußert &#x2014; die Tat des einzelnen verstehen<lb/>
hilft, und wenn das geschichtliche Ereignis als Wirkung und als Ursache in<lb/>
den großen Teppich des Volkswerdens eingeflochten gezeigt wird; wenn schlie߬<lb/>
lich die Richtung, in der deutscher Geist schöpferisch tätig ist, auf dem Gebiete<lb/>
der Literatur. Kunst. Wissenschaft. Politik, sich als eigenartig durch die Jahr¬<lb/>
tausende erweisen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_393"> Landschaft und Menschen sollten also in Deutschland zusammen betrachtet<lb/>
werden; in den Ebenen und Gebirgen und Städten die Menschen, die gerade<lb/>
so beschaffenen und gewordenen Alemannen und Thüringer und Niedersachsen<lb/>
in Vergangenheit und Gegenwart, in Dichtung und Wissenschaft; neben dem<lb/>
Stimmungsmäßigen der Landschaft (Noe, Stifter; Dürer, besonders aber<lb/>
Schwind, Steinhausen, Thoma) der Typus der Menschen, Tracht und Sitte<lb/>
(für die Vergangenheit die Weistümer heranziehen!), allerlei Volkskundliches,<lb/>
und vor allem die Mundart (Hebel, Reuter, Groth, Niebergall). Hiermit ver¬<lb/>
bunden werde Heimatdichtung, herangezogen geschichtliche Bilder aus diesem<lb/>
Stamme; schließlich die Lebensmöglichkeiten, die heute dieser Boden bietet<lb/>
(volkswirtschaftliche Ausblicke), Aufschlüsse über technische, industrielle Werke und<lb/>
das Verkehrswesen schlagen die Brücke zur Gegenwart zurück und zur Zukunft<lb/>
hinüber.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_394"> In großem Maße denke ich mir Schulreisen in den Dienst dieser Sache<lb/>
gestellt, nicht die monatlichen Bewegungsausflüge, sondern freudige Studien¬<lb/>
reisen, Schülerwanderungcn unter der Führung eines Deutschkundclehrers. In<lb/>
vielen Teilen Deutschlands sind solche Fahrten ohne viel Aufwand an Zeit<lb/>
und Geld möglich, in anderen müßte man sie ermöglichen. Jeder Schüler<lb/>
sollte einmal ein Gebirge, eine ausgedehnte Ebene, den Wogenschlag des<lb/>
Meeres, die Einsamkeit eines Walddorfes und das Getriebe einer großen Stadt<lb/>
gesehen und empfunden haben. Im übrigen ist es selbstverständlich, daß an<lb/>
Bildern alles nur Erreichbare dem Deutschkunde-Unterricht zur Verfügung<lb/>
stehen niuß.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_395" next="#ID_396"> Ähnlich wie hier an dem geographisch gegebenen Boden könnte auch an<lb/>
dem historisch gegebenen Zeitpunkt ein vielseitiger Ausblick gewonnen werden.<lb/>
Man zeigt z. B. bei der Geschichte des Städtewesens die Fäden auf, die der<lb/>
Handelsverkehr gesponnen hat, man verfolgt die merkantile Tätigkeit nicht nur</p><lb/>
          <note xml:id="FID_40" prev="#FID_39" place="foot"> oder anders wünschen (was hat die Drehbühne mit deutscher Art zu schaffen?), aber es ist<lb/>
eben ein Versuch, dem weitere folgen werden. Wer zum Studium von Meyers deutschem<lb/>
Volkstum (2. Auflage 1903) nicht Muße hat, wird auch aus Hofstaetter Wertvolles genug<lb/>
schöpfen. So sei H. als Bundesgenosse für die hier vertretenen Ansichten freudig begrüßt.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0154] Deutschkunde oder Germanistik? möglich, wenn der Lehrer jederzeit auf Landschaft und Stamm sich berufen kann, sobald die Leistung eines Sohnes jener Gegend zu würdigen ist (vgl. Nadlers Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. besonders für die älteren Zeiträume), wenn also das an der Landschaft haftende geistige Fluidum — das sich sonst noch in Dialekt. Sitte, Tracht, den in der Volks¬ kunde zusammengefaßten Bräuchen äußert — die Tat des einzelnen verstehen hilft, und wenn das geschichtliche Ereignis als Wirkung und als Ursache in den großen Teppich des Volkswerdens eingeflochten gezeigt wird; wenn schlie߬ lich die Richtung, in der deutscher Geist schöpferisch tätig ist, auf dem Gebiete der Literatur. Kunst. Wissenschaft. Politik, sich als eigenartig durch die Jahr¬ tausende erweisen läßt. Landschaft und Menschen sollten also in Deutschland zusammen betrachtet werden; in den Ebenen und Gebirgen und Städten die Menschen, die gerade so beschaffenen und gewordenen Alemannen und Thüringer und Niedersachsen in Vergangenheit und Gegenwart, in Dichtung und Wissenschaft; neben dem Stimmungsmäßigen der Landschaft (Noe, Stifter; Dürer, besonders aber Schwind, Steinhausen, Thoma) der Typus der Menschen, Tracht und Sitte (für die Vergangenheit die Weistümer heranziehen!), allerlei Volkskundliches, und vor allem die Mundart (Hebel, Reuter, Groth, Niebergall). Hiermit ver¬ bunden werde Heimatdichtung, herangezogen geschichtliche Bilder aus diesem Stamme; schließlich die Lebensmöglichkeiten, die heute dieser Boden bietet (volkswirtschaftliche Ausblicke), Aufschlüsse über technische, industrielle Werke und das Verkehrswesen schlagen die Brücke zur Gegenwart zurück und zur Zukunft hinüber. In großem Maße denke ich mir Schulreisen in den Dienst dieser Sache gestellt, nicht die monatlichen Bewegungsausflüge, sondern freudige Studien¬ reisen, Schülerwanderungcn unter der Führung eines Deutschkundclehrers. In vielen Teilen Deutschlands sind solche Fahrten ohne viel Aufwand an Zeit und Geld möglich, in anderen müßte man sie ermöglichen. Jeder Schüler sollte einmal ein Gebirge, eine ausgedehnte Ebene, den Wogenschlag des Meeres, die Einsamkeit eines Walddorfes und das Getriebe einer großen Stadt gesehen und empfunden haben. Im übrigen ist es selbstverständlich, daß an Bildern alles nur Erreichbare dem Deutschkunde-Unterricht zur Verfügung stehen niuß. Ähnlich wie hier an dem geographisch gegebenen Boden könnte auch an dem historisch gegebenen Zeitpunkt ein vielseitiger Ausblick gewonnen werden. Man zeigt z. B. bei der Geschichte des Städtewesens die Fäden auf, die der Handelsverkehr gesponnen hat, man verfolgt die merkantile Tätigkeit nicht nur oder anders wünschen (was hat die Drehbühne mit deutscher Art zu schaffen?), aber es ist eben ein Versuch, dem weitere folgen werden. Wer zum Studium von Meyers deutschem Volkstum (2. Auflage 1903) nicht Muße hat, wird auch aus Hofstaetter Wertvolles genug schöpfen. So sei H. als Bundesgenosse für die hier vertretenen Ansichten freudig begrüßt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/154
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/154>, abgerufen am 13.01.2025.