Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie recht eine große Mannigfaltigkeit und Abstufung des Wertes von Gruppen und Historisch betrachtet finden wir die Blüte des Rationalismus im Verein Und so sollte das zwanzigste Jahrhundert nicht wieder in die Fehler des Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie recht eine große Mannigfaltigkeit und Abstufung des Wertes von Gruppen und Historisch betrachtet finden wir die Blüte des Rationalismus im Verein Und so sollte das zwanzigste Jahrhundert nicht wieder in die Fehler des <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0116" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331958"/> <fw type="header" place="top"> Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie</fw><lb/> <p xml:id="ID_291" prev="#ID_290"> recht eine große Mannigfaltigkeit und Abstufung des Wertes von Gruppen und<lb/> Gliederungen im Staat und für ihn.</p><lb/> <p xml:id="ID_292"> Historisch betrachtet finden wir die Blüte des Rationalismus im Verein<lb/> mit dem künstlichen Glcichheitsgedanken im achtzehnten Jahrhundert, und es ist<lb/> im Grunde durchaus reaktionär, wenn wir immer wieder in jene Gedanken -<lb/> gänge zurückfallen, die von der Fiktion ausgingen, man könne Menschen.<lb/> Gruppen und Werte nützlich als gleich behandeln. Selbst „vor dem Gesetz",<lb/> wie man immer sagt, sind wir nur darin gleich, daß wir ihm alle Untertan<lb/> sind; in der Anwendung, den Strafmaßen, den Ausführungsbestin,n,ungen usw.<lb/> herrscht keine Gleichheit. Das neunzehnte Jahrhundert war dagegen im ganzen<lb/> eine große Schule der Erfahrung; man hat es mit Recht teils als das natur¬<lb/> wissenschaftliche, teils als das historische bezeichnet. Beide Fäden laufen zu¬<lb/> sammen im Begriff des Empirismus, der Erkenntnis der Tatsachen von Natur<lb/> und Geschichte, die mit künstlichen Aktionen aufräumend die Welt nimmt, wie<lb/> sie ist. Und da erweist sie sich für keinen Gesichtspunkt als „gleich", d. h. als<lb/> aus gleichen Menschenatomen zusammengesetzt, und der Staat immer als<lb/> Organisation von verschiedenem und das Volksleben darin als etwas Kompli¬<lb/> ziertes. Nur gewaltsam kann man diese Höhenunterschiede glattbügeln und<lb/> durch die Gleichheitsbrille nicht sehen, daß die körperliche und geistige Ver¬<lb/> schiedenheit gerade das von der Natur gegebene Fundament gesunder Real¬<lb/> politik darstellt.</p><lb/> <p xml:id="ID_293"> Und so sollte das zwanzigste Jahrhundert nicht wieder in die Fehler des<lb/> achtzehnten zurückfallen und vor allem mit der ganzen modernen Philosophie<lb/> den Wert-Gesichtspunkt berücksichtigen. Denn dieser zeigt die Komplikation nicht<lb/> minder; für das Gedeihen des Staates, für seine Zwecke, seine Aufgaben sind<lb/> die einzelnen Teile, aus denen er sich aufbaut (nicht zusammensetzt), in ver¬<lb/> schiedenstem Maße wichtig. Dem müßte das Wahlrecht Rechnung tragen und dem<lb/> entspricht "einzig und allein das System von Pluralstimmen. Die Gleichmacherei<lb/> ist rationalistisch, künstlich und will sehen, was nicht ist; auch wenn der Pflicht¬<lb/> gedanke im Vordergrunde steht, ergibt sich nicht die gleichmäßige Pflicht für alle. Wie<lb/> beim Recht bestünde dann die Gleichheit nur darin, daß alle Wahlfähigen<lb/> wählen; ihre verschiedene Bedeutung für das Ganze aber käme in der Abstufung<lb/> der Geltung ihrer Stimme zum Ausdruck. Denn die wichtigere Gruppe hat<lb/> auch stärkere Verpflichtung, aus der sich dann ungezwungen größere Rechte<lb/> ergeben. Mit dem Pluralwahlrecht befinden wir uns auf dem Boden des<lb/> Tatsächlichen, auf dem gesunde und fruchtbare Theorien aufbauen sollen; eine<lb/> Wahl und ein Wahlrecht ist freilich an sich nie mehr „Natur", sondern eine<lb/> Menschliche Form und Einrichtung. Darin unterscheiden sich diese aber, daß die<lb/> einen auf die empirische Wirklichkeit Rücksicht nehmen und sie zugrunde legen,<lb/> die andern aber, wie der ganze reine Nationalismus, auf Begriffen aufbauen, die<lb/> nicht an der Erfahrung erprobt sind. „Modern" in einem tieferen Sinne ist nicht<lb/> das gleiche Wahlrecht, das auf sehr alten Fiktionen ruht, sondern das abgestufte.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0116]
Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie
recht eine große Mannigfaltigkeit und Abstufung des Wertes von Gruppen und
Gliederungen im Staat und für ihn.
Historisch betrachtet finden wir die Blüte des Rationalismus im Verein
mit dem künstlichen Glcichheitsgedanken im achtzehnten Jahrhundert, und es ist
im Grunde durchaus reaktionär, wenn wir immer wieder in jene Gedanken -
gänge zurückfallen, die von der Fiktion ausgingen, man könne Menschen.
Gruppen und Werte nützlich als gleich behandeln. Selbst „vor dem Gesetz",
wie man immer sagt, sind wir nur darin gleich, daß wir ihm alle Untertan
sind; in der Anwendung, den Strafmaßen, den Ausführungsbestin,n,ungen usw.
herrscht keine Gleichheit. Das neunzehnte Jahrhundert war dagegen im ganzen
eine große Schule der Erfahrung; man hat es mit Recht teils als das natur¬
wissenschaftliche, teils als das historische bezeichnet. Beide Fäden laufen zu¬
sammen im Begriff des Empirismus, der Erkenntnis der Tatsachen von Natur
und Geschichte, die mit künstlichen Aktionen aufräumend die Welt nimmt, wie
sie ist. Und da erweist sie sich für keinen Gesichtspunkt als „gleich", d. h. als
aus gleichen Menschenatomen zusammengesetzt, und der Staat immer als
Organisation von verschiedenem und das Volksleben darin als etwas Kompli¬
ziertes. Nur gewaltsam kann man diese Höhenunterschiede glattbügeln und
durch die Gleichheitsbrille nicht sehen, daß die körperliche und geistige Ver¬
schiedenheit gerade das von der Natur gegebene Fundament gesunder Real¬
politik darstellt.
Und so sollte das zwanzigste Jahrhundert nicht wieder in die Fehler des
achtzehnten zurückfallen und vor allem mit der ganzen modernen Philosophie
den Wert-Gesichtspunkt berücksichtigen. Denn dieser zeigt die Komplikation nicht
minder; für das Gedeihen des Staates, für seine Zwecke, seine Aufgaben sind
die einzelnen Teile, aus denen er sich aufbaut (nicht zusammensetzt), in ver¬
schiedenstem Maße wichtig. Dem müßte das Wahlrecht Rechnung tragen und dem
entspricht "einzig und allein das System von Pluralstimmen. Die Gleichmacherei
ist rationalistisch, künstlich und will sehen, was nicht ist; auch wenn der Pflicht¬
gedanke im Vordergrunde steht, ergibt sich nicht die gleichmäßige Pflicht für alle. Wie
beim Recht bestünde dann die Gleichheit nur darin, daß alle Wahlfähigen
wählen; ihre verschiedene Bedeutung für das Ganze aber käme in der Abstufung
der Geltung ihrer Stimme zum Ausdruck. Denn die wichtigere Gruppe hat
auch stärkere Verpflichtung, aus der sich dann ungezwungen größere Rechte
ergeben. Mit dem Pluralwahlrecht befinden wir uns auf dem Boden des
Tatsächlichen, auf dem gesunde und fruchtbare Theorien aufbauen sollen; eine
Wahl und ein Wahlrecht ist freilich an sich nie mehr „Natur", sondern eine
Menschliche Form und Einrichtung. Darin unterscheiden sich diese aber, daß die
einen auf die empirische Wirklichkeit Rücksicht nehmen und sie zugrunde legen,
die andern aber, wie der ganze reine Nationalismus, auf Begriffen aufbauen, die
nicht an der Erfahrung erprobt sind. „Modern" in einem tieferen Sinne ist nicht
das gleiche Wahlrecht, das auf sehr alten Fiktionen ruht, sondern das abgestufte.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |