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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie

Wie eine solche im einzelnen vorzunehmen wäre, läßt sich nun freilich
theoretisch nicht mehr so leicht sagen, mindestens nicht in kurzer Abhandlung.
Nur eines ist dabei festzuhalten, daß eben der Wert des einzelnen oder der
Gruppe für das Ganze des Staates den Maßstab der Beurteilung bilden muß.
Verschiedenes läßt sich damit begründen: eine Bevorzugung unserer Feldgrauen
die eben für das Vaterland kämpfen, wie im Frieden jeder positiven
Leistung vor einer selbstsüchtigen Existenz ohne Arbeit. Vor allem aber eine
Bevorzugung der Familie, schon weil der Staat aus solchen besteht und nicht
aus Menschenatomen, dann aber auch, weil, wer Kinder hat, das meiste Inter¬
esse an der Zukunft des Vaterlandes hat. Für ihn fällt egoistische Fürsorge für das
Wohl seiner Nachkommen mit der Sorge um das Gedeihen des Staates zu¬
sammen und eines ist durch das andere kausal bedingt. Sein Geschlecht wird
im Guten und Bösen ernten, was er für sich und andere gesät hat; sehr viele
Ausgaben, die eine Volksvertretung zu lösen hat, beziehen sich auf die Zukunft.
Ja, es ist eine ideale Forderung, daß sie sich nicht nur vom Interesse des Tages
leiten läßt, sondern von der Hoffnung auf Verbesserung der Zustände, auch
wenn die Früchte erst spät reifen und die Vorteile vieler gesetzgeberischer Ma߬
nahmen erst dem werdenden Geschlecht zugute kommen. Daran kann auch
der Junggeselle und kinderlose Vater lebhaft denken, aber die sicherere Vermutung
spricht für den Familienvater. Eine Pluralstimme gebührt also jedem Vater
von ehelichen Kindern; ja man könnte ihn auch bei der Wählbarkeit bevorzugen.
Die weitere Erörterung aller Schemata, nach denen abgestuft werden kann,
Bildung, Besitz. Stellung im Staate usw. führt hier zu weit; das läßt sich bei
gutem Willen finden, wenn man nur festhält, daß eine Stimme eine Meinung,
ein Urteil, bestenfalls eine feste Überzeugung bedeutet und die Urteile der ver¬
schiedenen Bürger über politische Dinge nun einmal nicht als gleich wertvoll
betrachtet werden dürfen.

Verwickelter sind die theoretischen Bezüge der beiden Gegensätze: Plural¬
system und Verhältniswahl sProporz. Listenwahl). Mit dem Prinzip der
Gleichheit stehen sie beide im Widerspruch und ließen sich eventuell miteinander
vereinigen, nie aber mit jenem begründen. Denn die Bildung und Bewertung
der bestehenden Parteiunterschiede ist eine Bevorzugung des Parteiwesens über¬
haupt; der Selbständige, Unabhängige, "Wilde" ist beim Proporz benachteiligt.
Eine große Schädigung und eine Erniedrigung des geistigen Niveaus des
Parlaments ist untrennbar davon; gerade die Begabtesten fügen sich schwer der
Parteidiktatur und so unentbehrlich für die entscheidenden Abstimmungen diese
Zusammenballungen sind, so wichtig sind in der vorhergehenden Debatte oft
die Reden gerade der "Wilden", zumal man die Ansichten der Parteihäupter
über eine Frage meist schon vorher kennt. Der Proporz, der jene ausschließt,
nimmt den Verhandlungen ein gut Teil Interesse politisch Denkender, und
gerade die Belebung und Vermehrung eines solchen ist doch zu wünschen.
Politisches Volksleben gegen Parteileben ist die knappste Fassung für den


Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie

Wie eine solche im einzelnen vorzunehmen wäre, läßt sich nun freilich
theoretisch nicht mehr so leicht sagen, mindestens nicht in kurzer Abhandlung.
Nur eines ist dabei festzuhalten, daß eben der Wert des einzelnen oder der
Gruppe für das Ganze des Staates den Maßstab der Beurteilung bilden muß.
Verschiedenes läßt sich damit begründen: eine Bevorzugung unserer Feldgrauen
die eben für das Vaterland kämpfen, wie im Frieden jeder positiven
Leistung vor einer selbstsüchtigen Existenz ohne Arbeit. Vor allem aber eine
Bevorzugung der Familie, schon weil der Staat aus solchen besteht und nicht
aus Menschenatomen, dann aber auch, weil, wer Kinder hat, das meiste Inter¬
esse an der Zukunft des Vaterlandes hat. Für ihn fällt egoistische Fürsorge für das
Wohl seiner Nachkommen mit der Sorge um das Gedeihen des Staates zu¬
sammen und eines ist durch das andere kausal bedingt. Sein Geschlecht wird
im Guten und Bösen ernten, was er für sich und andere gesät hat; sehr viele
Ausgaben, die eine Volksvertretung zu lösen hat, beziehen sich auf die Zukunft.
Ja, es ist eine ideale Forderung, daß sie sich nicht nur vom Interesse des Tages
leiten läßt, sondern von der Hoffnung auf Verbesserung der Zustände, auch
wenn die Früchte erst spät reifen und die Vorteile vieler gesetzgeberischer Ma߬
nahmen erst dem werdenden Geschlecht zugute kommen. Daran kann auch
der Junggeselle und kinderlose Vater lebhaft denken, aber die sicherere Vermutung
spricht für den Familienvater. Eine Pluralstimme gebührt also jedem Vater
von ehelichen Kindern; ja man könnte ihn auch bei der Wählbarkeit bevorzugen.
Die weitere Erörterung aller Schemata, nach denen abgestuft werden kann,
Bildung, Besitz. Stellung im Staate usw. führt hier zu weit; das läßt sich bei
gutem Willen finden, wenn man nur festhält, daß eine Stimme eine Meinung,
ein Urteil, bestenfalls eine feste Überzeugung bedeutet und die Urteile der ver¬
schiedenen Bürger über politische Dinge nun einmal nicht als gleich wertvoll
betrachtet werden dürfen.

Verwickelter sind die theoretischen Bezüge der beiden Gegensätze: Plural¬
system und Verhältniswahl sProporz. Listenwahl). Mit dem Prinzip der
Gleichheit stehen sie beide im Widerspruch und ließen sich eventuell miteinander
vereinigen, nie aber mit jenem begründen. Denn die Bildung und Bewertung
der bestehenden Parteiunterschiede ist eine Bevorzugung des Parteiwesens über¬
haupt; der Selbständige, Unabhängige, „Wilde" ist beim Proporz benachteiligt.
Eine große Schädigung und eine Erniedrigung des geistigen Niveaus des
Parlaments ist untrennbar davon; gerade die Begabtesten fügen sich schwer der
Parteidiktatur und so unentbehrlich für die entscheidenden Abstimmungen diese
Zusammenballungen sind, so wichtig sind in der vorhergehenden Debatte oft
die Reden gerade der „Wilden", zumal man die Ansichten der Parteihäupter
über eine Frage meist schon vorher kennt. Der Proporz, der jene ausschließt,
nimmt den Verhandlungen ein gut Teil Interesse politisch Denkender, und
gerade die Belebung und Vermehrung eines solchen ist doch zu wünschen.
Politisches Volksleben gegen Parteileben ist die knappste Fassung für den


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[0117] Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie Wie eine solche im einzelnen vorzunehmen wäre, läßt sich nun freilich theoretisch nicht mehr so leicht sagen, mindestens nicht in kurzer Abhandlung. Nur eines ist dabei festzuhalten, daß eben der Wert des einzelnen oder der Gruppe für das Ganze des Staates den Maßstab der Beurteilung bilden muß. Verschiedenes läßt sich damit begründen: eine Bevorzugung unserer Feldgrauen die eben für das Vaterland kämpfen, wie im Frieden jeder positiven Leistung vor einer selbstsüchtigen Existenz ohne Arbeit. Vor allem aber eine Bevorzugung der Familie, schon weil der Staat aus solchen besteht und nicht aus Menschenatomen, dann aber auch, weil, wer Kinder hat, das meiste Inter¬ esse an der Zukunft des Vaterlandes hat. Für ihn fällt egoistische Fürsorge für das Wohl seiner Nachkommen mit der Sorge um das Gedeihen des Staates zu¬ sammen und eines ist durch das andere kausal bedingt. Sein Geschlecht wird im Guten und Bösen ernten, was er für sich und andere gesät hat; sehr viele Ausgaben, die eine Volksvertretung zu lösen hat, beziehen sich auf die Zukunft. Ja, es ist eine ideale Forderung, daß sie sich nicht nur vom Interesse des Tages leiten läßt, sondern von der Hoffnung auf Verbesserung der Zustände, auch wenn die Früchte erst spät reifen und die Vorteile vieler gesetzgeberischer Ma߬ nahmen erst dem werdenden Geschlecht zugute kommen. Daran kann auch der Junggeselle und kinderlose Vater lebhaft denken, aber die sicherere Vermutung spricht für den Familienvater. Eine Pluralstimme gebührt also jedem Vater von ehelichen Kindern; ja man könnte ihn auch bei der Wählbarkeit bevorzugen. Die weitere Erörterung aller Schemata, nach denen abgestuft werden kann, Bildung, Besitz. Stellung im Staate usw. führt hier zu weit; das läßt sich bei gutem Willen finden, wenn man nur festhält, daß eine Stimme eine Meinung, ein Urteil, bestenfalls eine feste Überzeugung bedeutet und die Urteile der ver¬ schiedenen Bürger über politische Dinge nun einmal nicht als gleich wertvoll betrachtet werden dürfen. Verwickelter sind die theoretischen Bezüge der beiden Gegensätze: Plural¬ system und Verhältniswahl sProporz. Listenwahl). Mit dem Prinzip der Gleichheit stehen sie beide im Widerspruch und ließen sich eventuell miteinander vereinigen, nie aber mit jenem begründen. Denn die Bildung und Bewertung der bestehenden Parteiunterschiede ist eine Bevorzugung des Parteiwesens über¬ haupt; der Selbständige, Unabhängige, „Wilde" ist beim Proporz benachteiligt. Eine große Schädigung und eine Erniedrigung des geistigen Niveaus des Parlaments ist untrennbar davon; gerade die Begabtesten fügen sich schwer der Parteidiktatur und so unentbehrlich für die entscheidenden Abstimmungen diese Zusammenballungen sind, so wichtig sind in der vorhergehenden Debatte oft die Reden gerade der „Wilden", zumal man die Ansichten der Parteihäupter über eine Frage meist schon vorher kennt. Der Proporz, der jene ausschließt, nimmt den Verhandlungen ein gut Teil Interesse politisch Denkender, und gerade die Belebung und Vermehrung eines solchen ist doch zu wünschen. Politisches Volksleben gegen Parteileben ist die knappste Fassung für den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/117>, abgerufen am 28.12.2024.