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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie

ob jemand dienen kann oder nicht und in welcher Art das Heer eines Staates
geordnet ist.

Ganz schwierig für eine ethische Betrachtungsweise ist die Forderung des
geheimen Wahlaktes, den nun tatsächlich weite Kreise als etwas Unwürdiges
empfinden. Recht oder Pflicht -- ein Ideal kann es nie sein, daß man diese
Handlung im Verborgenen übt und nicht den Mut hat, sich zu seiner Ab¬
stimmung zu bekennen. Es ist eine bedenkliche Antinomie: der Gefahr der
Beeinflussung steht die Förderung der Heuchelei und die Schädigung des
Charakters gegenüber. Eine philosophische Stellungnahme läßt sich von de^l
Standpunkten des Optimismus und Pessimismus aus gewinnen. Hat man
viel Vertrauen zu einem "reifen" Volk, so sollte man ihm auch zutrauen, daß
es der unerlaubten Beeinflussung trotzend sich offen zu seiner Meinung bekennt.
Die jetzige Einrichtung des Wahlklosetts entspringt dagegen einer pessimistischen
Denkungsweise, dem Mißtrauen in die Charaktere und einer niedrigen Ein¬
schätzung des Volkes. Das ließe sich stark verallgemeinern; bei allen Ein¬
richtungen und Neuordnungen rechnen die einen mehr auf die guten, bedenken
die anderen mehr die schlechten Seiten der Menschennatur, jene sehen zwar die
Mängel, hoffen aber auf Besserung, Fortschritt, Entwicklung; diese halten sich
an die klaren Schwächen der Menschen und tragen nur ihnen Rechnung.
Jedenfalls gehörte zum "allgemeinen" das offene Wahlsystem; denn wer der
Menge politische Urteilsfähigkeit zutraut, sollte ihr auch soviel Charakter zu¬
trauen, als zu diesem gehört.

Für die Prüfung der Probleme des gleichen oder eines abgestuften Wahl¬
rechts endlich lassen sich andere Grundurteile benützen, die in den Gegensätzen:
Fiktion -- Tatsachen, künstlich -- natürlich, kurz auszudrücken sind, während der
Unterschied der Abstufung: Pluralstimmen oder Verhältniswahl (Proporz) sich
in den Gegensätzen Volksleben -- Parteileben, Entwicklung -- Stabilität,
darstellen läßt. Um dies zu begründen, gehen wir am besten von einer Stelle
in der Rede des Reichskanzlers o. Bethmann Hollweg vom 27. Februar 1917
aus, in der er sagte: "Überall wo politische Rechte neu zu ordnen sein werden,
da handelt es sich nicht darum, das Volk zu belohnen für das, was es getan
hat, sondern allein darum, den richtigen politischen und staatlichen Ausdruck
für das zu finden, was dieses Volk ist." Legt man diesen logisch klaren und
unanfechtbaren Satz zugrunde, so bedarf es nur einer näheren Bestimmung
dieses Seins und Wesens eines Volkes, um zu einer Entscheidung in den obigen
Problemen zu gelangen. Nun ist ein Kulturstaat niemals eine Summe gleicher
Einzelner, sondern die Organisation") des Volkslebens, und das Volk ist sicher
nichts einfaches und gleichmäßiges, wenn man es richtig erfaßt. Das ewig
intensiv und extensiv Verschiedene ist das Charakteristikum alles Seins; nimmt
man aber den hier allein richtigen Begriff des Wertes hinzu, so zeigt sich erst



*) Wie ich gleichfalls in dem genannten Buche S. 31 f., auch S. 87 ausgeführt habe.
Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie

ob jemand dienen kann oder nicht und in welcher Art das Heer eines Staates
geordnet ist.

Ganz schwierig für eine ethische Betrachtungsweise ist die Forderung des
geheimen Wahlaktes, den nun tatsächlich weite Kreise als etwas Unwürdiges
empfinden. Recht oder Pflicht — ein Ideal kann es nie sein, daß man diese
Handlung im Verborgenen übt und nicht den Mut hat, sich zu seiner Ab¬
stimmung zu bekennen. Es ist eine bedenkliche Antinomie: der Gefahr der
Beeinflussung steht die Förderung der Heuchelei und die Schädigung des
Charakters gegenüber. Eine philosophische Stellungnahme läßt sich von de^l
Standpunkten des Optimismus und Pessimismus aus gewinnen. Hat man
viel Vertrauen zu einem „reifen" Volk, so sollte man ihm auch zutrauen, daß
es der unerlaubten Beeinflussung trotzend sich offen zu seiner Meinung bekennt.
Die jetzige Einrichtung des Wahlklosetts entspringt dagegen einer pessimistischen
Denkungsweise, dem Mißtrauen in die Charaktere und einer niedrigen Ein¬
schätzung des Volkes. Das ließe sich stark verallgemeinern; bei allen Ein¬
richtungen und Neuordnungen rechnen die einen mehr auf die guten, bedenken
die anderen mehr die schlechten Seiten der Menschennatur, jene sehen zwar die
Mängel, hoffen aber auf Besserung, Fortschritt, Entwicklung; diese halten sich
an die klaren Schwächen der Menschen und tragen nur ihnen Rechnung.
Jedenfalls gehörte zum „allgemeinen" das offene Wahlsystem; denn wer der
Menge politische Urteilsfähigkeit zutraut, sollte ihr auch soviel Charakter zu¬
trauen, als zu diesem gehört.

Für die Prüfung der Probleme des gleichen oder eines abgestuften Wahl¬
rechts endlich lassen sich andere Grundurteile benützen, die in den Gegensätzen:
Fiktion — Tatsachen, künstlich — natürlich, kurz auszudrücken sind, während der
Unterschied der Abstufung: Pluralstimmen oder Verhältniswahl (Proporz) sich
in den Gegensätzen Volksleben — Parteileben, Entwicklung — Stabilität,
darstellen läßt. Um dies zu begründen, gehen wir am besten von einer Stelle
in der Rede des Reichskanzlers o. Bethmann Hollweg vom 27. Februar 1917
aus, in der er sagte: „Überall wo politische Rechte neu zu ordnen sein werden,
da handelt es sich nicht darum, das Volk zu belohnen für das, was es getan
hat, sondern allein darum, den richtigen politischen und staatlichen Ausdruck
für das zu finden, was dieses Volk ist." Legt man diesen logisch klaren und
unanfechtbaren Satz zugrunde, so bedarf es nur einer näheren Bestimmung
dieses Seins und Wesens eines Volkes, um zu einer Entscheidung in den obigen
Problemen zu gelangen. Nun ist ein Kulturstaat niemals eine Summe gleicher
Einzelner, sondern die Organisation") des Volkslebens, und das Volk ist sicher
nichts einfaches und gleichmäßiges, wenn man es richtig erfaßt. Das ewig
intensiv und extensiv Verschiedene ist das Charakteristikum alles Seins; nimmt
man aber den hier allein richtigen Begriff des Wertes hinzu, so zeigt sich erst



*) Wie ich gleichfalls in dem genannten Buche S. 31 f., auch S. 87 ausgeführt habe.
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[0115] Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie ob jemand dienen kann oder nicht und in welcher Art das Heer eines Staates geordnet ist. Ganz schwierig für eine ethische Betrachtungsweise ist die Forderung des geheimen Wahlaktes, den nun tatsächlich weite Kreise als etwas Unwürdiges empfinden. Recht oder Pflicht — ein Ideal kann es nie sein, daß man diese Handlung im Verborgenen übt und nicht den Mut hat, sich zu seiner Ab¬ stimmung zu bekennen. Es ist eine bedenkliche Antinomie: der Gefahr der Beeinflussung steht die Förderung der Heuchelei und die Schädigung des Charakters gegenüber. Eine philosophische Stellungnahme läßt sich von de^l Standpunkten des Optimismus und Pessimismus aus gewinnen. Hat man viel Vertrauen zu einem „reifen" Volk, so sollte man ihm auch zutrauen, daß es der unerlaubten Beeinflussung trotzend sich offen zu seiner Meinung bekennt. Die jetzige Einrichtung des Wahlklosetts entspringt dagegen einer pessimistischen Denkungsweise, dem Mißtrauen in die Charaktere und einer niedrigen Ein¬ schätzung des Volkes. Das ließe sich stark verallgemeinern; bei allen Ein¬ richtungen und Neuordnungen rechnen die einen mehr auf die guten, bedenken die anderen mehr die schlechten Seiten der Menschennatur, jene sehen zwar die Mängel, hoffen aber auf Besserung, Fortschritt, Entwicklung; diese halten sich an die klaren Schwächen der Menschen und tragen nur ihnen Rechnung. Jedenfalls gehörte zum „allgemeinen" das offene Wahlsystem; denn wer der Menge politische Urteilsfähigkeit zutraut, sollte ihr auch soviel Charakter zu¬ trauen, als zu diesem gehört. Für die Prüfung der Probleme des gleichen oder eines abgestuften Wahl¬ rechts endlich lassen sich andere Grundurteile benützen, die in den Gegensätzen: Fiktion — Tatsachen, künstlich — natürlich, kurz auszudrücken sind, während der Unterschied der Abstufung: Pluralstimmen oder Verhältniswahl (Proporz) sich in den Gegensätzen Volksleben — Parteileben, Entwicklung — Stabilität, darstellen läßt. Um dies zu begründen, gehen wir am besten von einer Stelle in der Rede des Reichskanzlers o. Bethmann Hollweg vom 27. Februar 1917 aus, in der er sagte: „Überall wo politische Rechte neu zu ordnen sein werden, da handelt es sich nicht darum, das Volk zu belohnen für das, was es getan hat, sondern allein darum, den richtigen politischen und staatlichen Ausdruck für das zu finden, was dieses Volk ist." Legt man diesen logisch klaren und unanfechtbaren Satz zugrunde, so bedarf es nur einer näheren Bestimmung dieses Seins und Wesens eines Volkes, um zu einer Entscheidung in den obigen Problemen zu gelangen. Nun ist ein Kulturstaat niemals eine Summe gleicher Einzelner, sondern die Organisation") des Volkslebens, und das Volk ist sicher nichts einfaches und gleichmäßiges, wenn man es richtig erfaßt. Das ewig intensiv und extensiv Verschiedene ist das Charakteristikum alles Seins; nimmt man aber den hier allein richtigen Begriff des Wertes hinzu, so zeigt sich erst *) Wie ich gleichfalls in dem genannten Buche S. 31 f., auch S. 87 ausgeführt habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/115>, abgerufen am 29.12.2024.