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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie

Macht zu bringen -- Theorie. Nicht darin liegen die Gegensätze, sondern ob
Theorien mit hinreichender Benutzung früherer Erfahrungen gebildet wurden,
oder etwa wie beim reinen Idealismus und Rationalismus lediglich aus Prin¬
zipien a priori, allgemeinsten Vorurteilen oder Glaubenssätzen ohne alle Empirie
abgeleitet worden sind. Da nun heute alle sogenannte Realpolitiker sein wollen
und die Gefahr völliger weltabgewandter Konstruktion nicht groß ist, so besteht
darüber wohl Einigkeit, daß auch eine philosophische Wahirechtstheorie nicht
etwa alles "us dem "Begriffe" der Wahl oder einer Definition eines abstrakten
Wahlrechts herauswickeln kann, sondern die psychologischen Verhältnisse der
Menschennatur wie die bisher mit verschiedenen Systemen gemachten Erfahrungen
mitsprechen lassen muß. Umsoweniger aber brauchten dann die Männer der
Praxis gegen eine solche Erörterung die Ohren zu verschließen, da diese Theorie
ja nicht grau und weltfremd ist, sondern im festen Boden der Tatsachen, des
Volkes und des Lebens wurzelt.

Nun herrscht freilich bei den Wahlrechtsfragen noch eine ganz besondere
Art von "Praxis": die Parteien beurteilen es und nehmen Stellung dazu, je
nachdem es ihnen die Existenz garantiert, die Macht verheißt oder nicht. Des¬
halb wollen die Konservativen in Preußen gern das alte Dreiklassensystem bev
behalten, deshalb in Bayern das Zentrum das gleiche Wahlrecht u.s.f. Geradezu
erheiternd wirkte es, als kürzlich im Reichstag ein Vertreter der sozialdemo¬
kratischen Minderheit für diesen das Verhältniswahlsystem verlangte, also ganz
naiv eine Änderung des bisher geradezu sakrosankten Reichstagswahlrechts, an
dem zu rütteln immer als bezeichnend für den schlimmsten Geisteszustand eines
Reaktionärs galt. Natürlich, weil diese äußerste Linke fürchtet, erdrückt zu
werden, wenn erst die feldgrauen Arbeiter wieder mitwühlen, die draußen einen
politischen Kursus durchgemacht haben, wie ihn kein Parteigezänk in Jahr¬
zehnten bieten kann. Also wenn es der eigenen Partei dienlich scheint, wird
alles umgestoßen, und gegen solche Beurteilungsweise ist natürlich jede Theorie
machtlos. Das Schönste aber ist, daß man sich auch bei solcher klugen Rechnung
irren kann, wie denn Bismarck bekanntlich sich vom gleichen Wahlrecht ein
ganz anderes Ergebnis versprach, als es tatsächlich gezeitigt hat. Derartiger
Irrtum kann nun jederzeit und jedem passieren, und so spricht diese Sachlage
jedenfalls bei einer Änderung oder Schaffung von Neuem doch wieder für die
Theorie und die allgemeinen Gesichtspunkte, da man ja des Erfolges für die
Parteien keineswegs sicher ist. Auch erfordert es unter diesen Umstünden die
Gerechtigkeit, bei einer Neuordnung von höheren Gesichtspunkten auszugehen
und die Verhältnisse des ganzen Volkes ins Auge zu fassen.

Tun wir dies zunächst nach der subjektiven, geistigen Seite hin, so be¬
gegnet uns häufig der Gedanke der Reife unseres Volkes für ein bestimmtes
Wahlrecht. So einfach das klingt, so enthält es doch eine Reihe von Voraus¬
setzungen. Jedermann wird zustimmen, daß wir für das beste Wahlrecht reif
sind; welches das ist, das aber ist ja eben noch die Frage. Ferner wird dabei


Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie

Macht zu bringen — Theorie. Nicht darin liegen die Gegensätze, sondern ob
Theorien mit hinreichender Benutzung früherer Erfahrungen gebildet wurden,
oder etwa wie beim reinen Idealismus und Rationalismus lediglich aus Prin¬
zipien a priori, allgemeinsten Vorurteilen oder Glaubenssätzen ohne alle Empirie
abgeleitet worden sind. Da nun heute alle sogenannte Realpolitiker sein wollen
und die Gefahr völliger weltabgewandter Konstruktion nicht groß ist, so besteht
darüber wohl Einigkeit, daß auch eine philosophische Wahirechtstheorie nicht
etwa alles «us dem „Begriffe" der Wahl oder einer Definition eines abstrakten
Wahlrechts herauswickeln kann, sondern die psychologischen Verhältnisse der
Menschennatur wie die bisher mit verschiedenen Systemen gemachten Erfahrungen
mitsprechen lassen muß. Umsoweniger aber brauchten dann die Männer der
Praxis gegen eine solche Erörterung die Ohren zu verschließen, da diese Theorie
ja nicht grau und weltfremd ist, sondern im festen Boden der Tatsachen, des
Volkes und des Lebens wurzelt.

Nun herrscht freilich bei den Wahlrechtsfragen noch eine ganz besondere
Art von „Praxis": die Parteien beurteilen es und nehmen Stellung dazu, je
nachdem es ihnen die Existenz garantiert, die Macht verheißt oder nicht. Des¬
halb wollen die Konservativen in Preußen gern das alte Dreiklassensystem bev
behalten, deshalb in Bayern das Zentrum das gleiche Wahlrecht u.s.f. Geradezu
erheiternd wirkte es, als kürzlich im Reichstag ein Vertreter der sozialdemo¬
kratischen Minderheit für diesen das Verhältniswahlsystem verlangte, also ganz
naiv eine Änderung des bisher geradezu sakrosankten Reichstagswahlrechts, an
dem zu rütteln immer als bezeichnend für den schlimmsten Geisteszustand eines
Reaktionärs galt. Natürlich, weil diese äußerste Linke fürchtet, erdrückt zu
werden, wenn erst die feldgrauen Arbeiter wieder mitwühlen, die draußen einen
politischen Kursus durchgemacht haben, wie ihn kein Parteigezänk in Jahr¬
zehnten bieten kann. Also wenn es der eigenen Partei dienlich scheint, wird
alles umgestoßen, und gegen solche Beurteilungsweise ist natürlich jede Theorie
machtlos. Das Schönste aber ist, daß man sich auch bei solcher klugen Rechnung
irren kann, wie denn Bismarck bekanntlich sich vom gleichen Wahlrecht ein
ganz anderes Ergebnis versprach, als es tatsächlich gezeitigt hat. Derartiger
Irrtum kann nun jederzeit und jedem passieren, und so spricht diese Sachlage
jedenfalls bei einer Änderung oder Schaffung von Neuem doch wieder für die
Theorie und die allgemeinen Gesichtspunkte, da man ja des Erfolges für die
Parteien keineswegs sicher ist. Auch erfordert es unter diesen Umstünden die
Gerechtigkeit, bei einer Neuordnung von höheren Gesichtspunkten auszugehen
und die Verhältnisse des ganzen Volkes ins Auge zu fassen.

Tun wir dies zunächst nach der subjektiven, geistigen Seite hin, so be¬
gegnet uns häufig der Gedanke der Reife unseres Volkes für ein bestimmtes
Wahlrecht. So einfach das klingt, so enthält es doch eine Reihe von Voraus¬
setzungen. Jedermann wird zustimmen, daß wir für das beste Wahlrecht reif
sind; welches das ist, das aber ist ja eben noch die Frage. Ferner wird dabei


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[0111] Das Wahlrecht im Lichte der Philosophie Macht zu bringen — Theorie. Nicht darin liegen die Gegensätze, sondern ob Theorien mit hinreichender Benutzung früherer Erfahrungen gebildet wurden, oder etwa wie beim reinen Idealismus und Rationalismus lediglich aus Prin¬ zipien a priori, allgemeinsten Vorurteilen oder Glaubenssätzen ohne alle Empirie abgeleitet worden sind. Da nun heute alle sogenannte Realpolitiker sein wollen und die Gefahr völliger weltabgewandter Konstruktion nicht groß ist, so besteht darüber wohl Einigkeit, daß auch eine philosophische Wahirechtstheorie nicht etwa alles «us dem „Begriffe" der Wahl oder einer Definition eines abstrakten Wahlrechts herauswickeln kann, sondern die psychologischen Verhältnisse der Menschennatur wie die bisher mit verschiedenen Systemen gemachten Erfahrungen mitsprechen lassen muß. Umsoweniger aber brauchten dann die Männer der Praxis gegen eine solche Erörterung die Ohren zu verschließen, da diese Theorie ja nicht grau und weltfremd ist, sondern im festen Boden der Tatsachen, des Volkes und des Lebens wurzelt. Nun herrscht freilich bei den Wahlrechtsfragen noch eine ganz besondere Art von „Praxis": die Parteien beurteilen es und nehmen Stellung dazu, je nachdem es ihnen die Existenz garantiert, die Macht verheißt oder nicht. Des¬ halb wollen die Konservativen in Preußen gern das alte Dreiklassensystem bev behalten, deshalb in Bayern das Zentrum das gleiche Wahlrecht u.s.f. Geradezu erheiternd wirkte es, als kürzlich im Reichstag ein Vertreter der sozialdemo¬ kratischen Minderheit für diesen das Verhältniswahlsystem verlangte, also ganz naiv eine Änderung des bisher geradezu sakrosankten Reichstagswahlrechts, an dem zu rütteln immer als bezeichnend für den schlimmsten Geisteszustand eines Reaktionärs galt. Natürlich, weil diese äußerste Linke fürchtet, erdrückt zu werden, wenn erst die feldgrauen Arbeiter wieder mitwühlen, die draußen einen politischen Kursus durchgemacht haben, wie ihn kein Parteigezänk in Jahr¬ zehnten bieten kann. Also wenn es der eigenen Partei dienlich scheint, wird alles umgestoßen, und gegen solche Beurteilungsweise ist natürlich jede Theorie machtlos. Das Schönste aber ist, daß man sich auch bei solcher klugen Rechnung irren kann, wie denn Bismarck bekanntlich sich vom gleichen Wahlrecht ein ganz anderes Ergebnis versprach, als es tatsächlich gezeitigt hat. Derartiger Irrtum kann nun jederzeit und jedem passieren, und so spricht diese Sachlage jedenfalls bei einer Änderung oder Schaffung von Neuem doch wieder für die Theorie und die allgemeinen Gesichtspunkte, da man ja des Erfolges für die Parteien keineswegs sicher ist. Auch erfordert es unter diesen Umstünden die Gerechtigkeit, bei einer Neuordnung von höheren Gesichtspunkten auszugehen und die Verhältnisse des ganzen Volkes ins Auge zu fassen. Tun wir dies zunächst nach der subjektiven, geistigen Seite hin, so be¬ gegnet uns häufig der Gedanke der Reife unseres Volkes für ein bestimmtes Wahlrecht. So einfach das klingt, so enthält es doch eine Reihe von Voraus¬ setzungen. Jedermann wird zustimmen, daß wir für das beste Wahlrecht reif sind; welches das ist, das aber ist ja eben noch die Frage. Ferner wird dabei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/111>, abgerufen am 07.01.2025.