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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Neue Homerbücher

und im Oberstock sind die Zimmer der Frau und die Rumpelkammer: wenn
das zu Tiryns passen soll, paßt es schlechter zu dem Häuschen in der ersten
Rede des Lysias (um 400 v. Chr.)? Der Schild des Aias ist erst durch die
Darstellungen aus der alten Zeit verständlich geworden, aber diesen Schild hat
noch Tyrtaios (680 v. Chr.) gekannt____"

Ist dies alles wirklich zwingend? Und außerdem erklärt Wilamowitz selbst,
aus der Nichterwähnung von Dingen, die nicht in den Kreis des höfischen Epos
gehörten, sei der Schluß keineswegs zulässig, der Dichter hätte sie noch gar
nicht gekannt. Die Methode dieser Homerkritik läßt sich demnach auf diese
zwei Formeln bringen: erstens, der Dichter gehört einer späten Zeit an, weil
er etwas nicht kennt, was er nennen müßte; zweitens, er archaisiert absichtlich,
weil er etwas nicht nennt, was er kennen müßte.

Die Verfasserschaft Homers für die Odyssee hält Finster für unmöglich:
"Wenn er die Ilias um 700 v, Chr. geschrieben hat, so kann er nicht der Dichter
der Odyssee sein, .... die erst gegen 600 v. Chr. abgeschlossen worden ist";
Wilamowitz ist das so selbstverständlich, daß er von der Jugend der Odyssee
nur ganz beiläufig als von etwas selbstverständlichen spricht. Das gilt,
sagen wir einmal, harmlosen Leuten wie dem jüngsten Lobredner Wilamowitzens
als Evangelium: "Daß sein kürzlich erschienenes Werk nur der Ilias gilt, ist
für jeden, auf diesem Gebiete auch nur einigermaßen Unterrichteten selbst¬
verständlich, da die Odyssee bekanntlich (!) ein weit jüngeres und nur eben
auf den Namen Homer überschriebenes Gedicht ist!!" Von Drerup, der schlie߬
lich auf diesem Gebiet auch nicht unbewandert ist, weiß dieser Kritiker offenbar
nichts: Drerup hält noch immer daran fest, daß Homer beide Werke geschaffen
hat und daß die Odyssee als das reifere Wer! später entstanden ist als die
Ilias. Und hören wir dazu noch das Urteil eines unbefangenen Laien wie
Bartning (Vortrupp 1913, S. 668): "Trotz allen Unterschieden zwischen
beiden Epen wird das Trennende für mein Gefühl durch das Gemeinsame weit
überwogen. Dies Gemeinsame aber konzentriert sich . .. in der aus den Werken
zu erschließenden Persönlichkeit des Dichters.....Auch die Odyssee ist und
bleibt ein ungeheures, nie genug zu bewunderndes Werk; wenn nicht Homer, wer
ist dann der Riese, der so bald nach ihm solches schaffen konnte und für den
wir nicht einmal einen Namen haben?.....Zugegeben, daß beklagenswert
viel an dem Epos herumgeschnitzelt und herumgestückelt worden ist; auch so
noch vermeinen wir hinter ihm denselben Mann wie hinter der Ilias zu erkennen:
einen treuen, unermüdlichen Beobachter der Natur, einen Kenner und barmherzigen
Freund der Tiere, einen Gesinnungsaristokraten und Pöbelverächter, der trotzdem
von mitleidiger Liebe zu allem, was Menschenantlitz trägt, erfüllt ist. einen Mann,
dessen Grundstimmung bei allerHeiterkeit im Einzelnen und allerLebenstapferkeit doch
eine durchaus dunkle, ja melancholische ist, wie sie allen Genies nachgesagt wird."

Wie kann es wundernehmen, daß rebus 8in 8tantibu8 das äußerste
Mißtrauen sich regt gegenüber der Art, wie Wilamowitz die Schichten der


Neue Homerbücher

und im Oberstock sind die Zimmer der Frau und die Rumpelkammer: wenn
das zu Tiryns passen soll, paßt es schlechter zu dem Häuschen in der ersten
Rede des Lysias (um 400 v. Chr.)? Der Schild des Aias ist erst durch die
Darstellungen aus der alten Zeit verständlich geworden, aber diesen Schild hat
noch Tyrtaios (680 v. Chr.) gekannt____"

Ist dies alles wirklich zwingend? Und außerdem erklärt Wilamowitz selbst,
aus der Nichterwähnung von Dingen, die nicht in den Kreis des höfischen Epos
gehörten, sei der Schluß keineswegs zulässig, der Dichter hätte sie noch gar
nicht gekannt. Die Methode dieser Homerkritik läßt sich demnach auf diese
zwei Formeln bringen: erstens, der Dichter gehört einer späten Zeit an, weil
er etwas nicht kennt, was er nennen müßte; zweitens, er archaisiert absichtlich,
weil er etwas nicht nennt, was er kennen müßte.

Die Verfasserschaft Homers für die Odyssee hält Finster für unmöglich:
„Wenn er die Ilias um 700 v, Chr. geschrieben hat, so kann er nicht der Dichter
der Odyssee sein, .... die erst gegen 600 v. Chr. abgeschlossen worden ist";
Wilamowitz ist das so selbstverständlich, daß er von der Jugend der Odyssee
nur ganz beiläufig als von etwas selbstverständlichen spricht. Das gilt,
sagen wir einmal, harmlosen Leuten wie dem jüngsten Lobredner Wilamowitzens
als Evangelium: „Daß sein kürzlich erschienenes Werk nur der Ilias gilt, ist
für jeden, auf diesem Gebiete auch nur einigermaßen Unterrichteten selbst¬
verständlich, da die Odyssee bekanntlich (!) ein weit jüngeres und nur eben
auf den Namen Homer überschriebenes Gedicht ist!!" Von Drerup, der schlie߬
lich auf diesem Gebiet auch nicht unbewandert ist, weiß dieser Kritiker offenbar
nichts: Drerup hält noch immer daran fest, daß Homer beide Werke geschaffen
hat und daß die Odyssee als das reifere Wer! später entstanden ist als die
Ilias. Und hören wir dazu noch das Urteil eines unbefangenen Laien wie
Bartning (Vortrupp 1913, S. 668): „Trotz allen Unterschieden zwischen
beiden Epen wird das Trennende für mein Gefühl durch das Gemeinsame weit
überwogen. Dies Gemeinsame aber konzentriert sich . .. in der aus den Werken
zu erschließenden Persönlichkeit des Dichters.....Auch die Odyssee ist und
bleibt ein ungeheures, nie genug zu bewunderndes Werk; wenn nicht Homer, wer
ist dann der Riese, der so bald nach ihm solches schaffen konnte und für den
wir nicht einmal einen Namen haben?.....Zugegeben, daß beklagenswert
viel an dem Epos herumgeschnitzelt und herumgestückelt worden ist; auch so
noch vermeinen wir hinter ihm denselben Mann wie hinter der Ilias zu erkennen:
einen treuen, unermüdlichen Beobachter der Natur, einen Kenner und barmherzigen
Freund der Tiere, einen Gesinnungsaristokraten und Pöbelverächter, der trotzdem
von mitleidiger Liebe zu allem, was Menschenantlitz trägt, erfüllt ist. einen Mann,
dessen Grundstimmung bei allerHeiterkeit im Einzelnen und allerLebenstapferkeit doch
eine durchaus dunkle, ja melancholische ist, wie sie allen Genies nachgesagt wird."

Wie kann es wundernehmen, daß rebus 8in 8tantibu8 das äußerste
Mißtrauen sich regt gegenüber der Art, wie Wilamowitz die Schichten der


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[0426] Neue Homerbücher und im Oberstock sind die Zimmer der Frau und die Rumpelkammer: wenn das zu Tiryns passen soll, paßt es schlechter zu dem Häuschen in der ersten Rede des Lysias (um 400 v. Chr.)? Der Schild des Aias ist erst durch die Darstellungen aus der alten Zeit verständlich geworden, aber diesen Schild hat noch Tyrtaios (680 v. Chr.) gekannt____" Ist dies alles wirklich zwingend? Und außerdem erklärt Wilamowitz selbst, aus der Nichterwähnung von Dingen, die nicht in den Kreis des höfischen Epos gehörten, sei der Schluß keineswegs zulässig, der Dichter hätte sie noch gar nicht gekannt. Die Methode dieser Homerkritik läßt sich demnach auf diese zwei Formeln bringen: erstens, der Dichter gehört einer späten Zeit an, weil er etwas nicht kennt, was er nennen müßte; zweitens, er archaisiert absichtlich, weil er etwas nicht nennt, was er kennen müßte. Die Verfasserschaft Homers für die Odyssee hält Finster für unmöglich: „Wenn er die Ilias um 700 v, Chr. geschrieben hat, so kann er nicht der Dichter der Odyssee sein, .... die erst gegen 600 v. Chr. abgeschlossen worden ist"; Wilamowitz ist das so selbstverständlich, daß er von der Jugend der Odyssee nur ganz beiläufig als von etwas selbstverständlichen spricht. Das gilt, sagen wir einmal, harmlosen Leuten wie dem jüngsten Lobredner Wilamowitzens als Evangelium: „Daß sein kürzlich erschienenes Werk nur der Ilias gilt, ist für jeden, auf diesem Gebiete auch nur einigermaßen Unterrichteten selbst¬ verständlich, da die Odyssee bekanntlich (!) ein weit jüngeres und nur eben auf den Namen Homer überschriebenes Gedicht ist!!" Von Drerup, der schlie߬ lich auf diesem Gebiet auch nicht unbewandert ist, weiß dieser Kritiker offenbar nichts: Drerup hält noch immer daran fest, daß Homer beide Werke geschaffen hat und daß die Odyssee als das reifere Wer! später entstanden ist als die Ilias. Und hören wir dazu noch das Urteil eines unbefangenen Laien wie Bartning (Vortrupp 1913, S. 668): „Trotz allen Unterschieden zwischen beiden Epen wird das Trennende für mein Gefühl durch das Gemeinsame weit überwogen. Dies Gemeinsame aber konzentriert sich . .. in der aus den Werken zu erschließenden Persönlichkeit des Dichters.....Auch die Odyssee ist und bleibt ein ungeheures, nie genug zu bewunderndes Werk; wenn nicht Homer, wer ist dann der Riese, der so bald nach ihm solches schaffen konnte und für den wir nicht einmal einen Namen haben?.....Zugegeben, daß beklagenswert viel an dem Epos herumgeschnitzelt und herumgestückelt worden ist; auch so noch vermeinen wir hinter ihm denselben Mann wie hinter der Ilias zu erkennen: einen treuen, unermüdlichen Beobachter der Natur, einen Kenner und barmherzigen Freund der Tiere, einen Gesinnungsaristokraten und Pöbelverächter, der trotzdem von mitleidiger Liebe zu allem, was Menschenantlitz trägt, erfüllt ist. einen Mann, dessen Grundstimmung bei allerHeiterkeit im Einzelnen und allerLebenstapferkeit doch eine durchaus dunkle, ja melancholische ist, wie sie allen Genies nachgesagt wird." Wie kann es wundernehmen, daß rebus 8in 8tantibu8 das äußerste Mißtrauen sich regt gegenüber der Art, wie Wilamowitz die Schichten der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/426>, abgerufen am 23.07.2024.