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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Neue Homerbücher

Diese Ansicht von einer Dichterpersönlichkeit Homers ist jetzt die ziemlich
allgemein herrschende; auch in der zeitlichen Festsetzung des Dichters gibt Finster
die meist herrschende Anschauung wieder. Ebenso ist es mit der Meinung über
den Gegenstand der Schilderungen Homers: er stellt nicht die Kultur seiner
Zeit dar, sondern die Heidenzeit, die kretisch-mykenische, und archaisiert mit
Absicht. "Die epische Poesie", sagt Finster, "will eine alte Zeit darstellen
und schließt die Gegenwart aus, in bewußtem Streben nach Altertümlichkeit";
ähnlich äußert sich Wilamowitz.

Aber Finster selber muß zugeben, daß diese Absicht des Dichters, wenn sie
wirklich bestand, durchaus nicht konsequent durchgeführt worden ist: "Die Zeich¬
nung von dem Leben seiner Heroen atmet so sehr den frischen Hauch unmittel¬
barster Wirklichkeit, daß es schwer ist, an eine systematisch durchgeführte poetische
Fiktion zu glauben......Was Homer so getreu schildert, hat er gesehen.
Weder ein ängstliches Archaisieren noch ein historisch falsches Jdealgemälde ver¬
möchte die Lebenswahrheit seiner Poesie hervorzuzaubern". Und in der Tat
läßt sich an zahlreichen Belegen zeigen, daß von einer Durchführung jenes be¬
haupteten Archaisierens keine Rede sein kann: wenn z. B., wie Finster an¬
nimmt, bei Homer die Eisenzeit herrschte, aber die Überlieferung für die alte
Zeit nur Bronze kannte, so durste er das Eisen gar nicht erwähnen, was aber
doch mehrfach geschieht. Wenn Finster ferner meint, im Weltbilde Homers fehle
die Großstadt, die es doch zu seiner Zeit gegeben habe, so wird hierbei etwas als
erwiesen angenommen, was erst bewiesen werden muß. Für die NichtVerwendung
der Reiterei durch den Dichter hat Finster selbst schon seine frühere Anschauung,
daß dies geschehe, weil Homer sie nicht für altertümlich genug gehalten habe,
aufgegeben und sagt, es sei sehr wahrscheinlich, daß die Heere der Jonier über¬
haupt keine Reiterei hatten. Unter diesen Umständen ist es eigentlich natür¬
licher, anzunehmen, daß Homer alte und "moderne" Kultur in seinem Werk
vereinigt, nicht, weil "lange andauernde poetische Behandlung die altertümliche
Färbung festgehalten hatte", sondern weil er an der Scheide zweier Kulturen
steht, die er unbefangen beide verwertet, weil er beide aus eigener Anschauung
kennt; dabei kann zugegeben werden, daß er sich dann und wann gewisser
Gegensätze bewußt ist. Freilich wird die zünftige Homerphilologie sich zu
dieser Meinung nie bekehren, weil Homer dann zu hoch hinaufgerückt werden
muß, und das soll wieder nicht gehen wegen der wesentlichen Unterschiede der
homerischen Kultur von der kretisch-mykenischen. Diese werden aber vielfach
erst gewonnen aus der Heranziehung von Dingen, die Homer nicht nennt,
ohne daß wir wissen, ob er sie nicht doch kennt: "Hatte man nicht", sagt
Wilamowitz, "das ,Löwentor' und das .Schatzhaus des Atreus' immer ge¬
kannt und gewußt, daß Homer von Skulptur und von Kuppelgräbern nichts
weiß? Von der ganzen Malerei weiß er^mchtK, die uns nun vertraut ist ... .
Der Blumenflor und die spielenden Asche "der kretischen Vasen sind ihm
fremd . .'. Der Palast des Odyssees zeigt einen Saal und einen Vorraum,


Neue Homerbücher

Diese Ansicht von einer Dichterpersönlichkeit Homers ist jetzt die ziemlich
allgemein herrschende; auch in der zeitlichen Festsetzung des Dichters gibt Finster
die meist herrschende Anschauung wieder. Ebenso ist es mit der Meinung über
den Gegenstand der Schilderungen Homers: er stellt nicht die Kultur seiner
Zeit dar, sondern die Heidenzeit, die kretisch-mykenische, und archaisiert mit
Absicht. „Die epische Poesie", sagt Finster, „will eine alte Zeit darstellen
und schließt die Gegenwart aus, in bewußtem Streben nach Altertümlichkeit";
ähnlich äußert sich Wilamowitz.

Aber Finster selber muß zugeben, daß diese Absicht des Dichters, wenn sie
wirklich bestand, durchaus nicht konsequent durchgeführt worden ist: „Die Zeich¬
nung von dem Leben seiner Heroen atmet so sehr den frischen Hauch unmittel¬
barster Wirklichkeit, daß es schwer ist, an eine systematisch durchgeführte poetische
Fiktion zu glauben......Was Homer so getreu schildert, hat er gesehen.
Weder ein ängstliches Archaisieren noch ein historisch falsches Jdealgemälde ver¬
möchte die Lebenswahrheit seiner Poesie hervorzuzaubern". Und in der Tat
läßt sich an zahlreichen Belegen zeigen, daß von einer Durchführung jenes be¬
haupteten Archaisierens keine Rede sein kann: wenn z. B., wie Finster an¬
nimmt, bei Homer die Eisenzeit herrschte, aber die Überlieferung für die alte
Zeit nur Bronze kannte, so durste er das Eisen gar nicht erwähnen, was aber
doch mehrfach geschieht. Wenn Finster ferner meint, im Weltbilde Homers fehle
die Großstadt, die es doch zu seiner Zeit gegeben habe, so wird hierbei etwas als
erwiesen angenommen, was erst bewiesen werden muß. Für die NichtVerwendung
der Reiterei durch den Dichter hat Finster selbst schon seine frühere Anschauung,
daß dies geschehe, weil Homer sie nicht für altertümlich genug gehalten habe,
aufgegeben und sagt, es sei sehr wahrscheinlich, daß die Heere der Jonier über¬
haupt keine Reiterei hatten. Unter diesen Umständen ist es eigentlich natür¬
licher, anzunehmen, daß Homer alte und „moderne" Kultur in seinem Werk
vereinigt, nicht, weil „lange andauernde poetische Behandlung die altertümliche
Färbung festgehalten hatte", sondern weil er an der Scheide zweier Kulturen
steht, die er unbefangen beide verwertet, weil er beide aus eigener Anschauung
kennt; dabei kann zugegeben werden, daß er sich dann und wann gewisser
Gegensätze bewußt ist. Freilich wird die zünftige Homerphilologie sich zu
dieser Meinung nie bekehren, weil Homer dann zu hoch hinaufgerückt werden
muß, und das soll wieder nicht gehen wegen der wesentlichen Unterschiede der
homerischen Kultur von der kretisch-mykenischen. Diese werden aber vielfach
erst gewonnen aus der Heranziehung von Dingen, die Homer nicht nennt,
ohne daß wir wissen, ob er sie nicht doch kennt: „Hatte man nicht", sagt
Wilamowitz, „das ,Löwentor' und das .Schatzhaus des Atreus' immer ge¬
kannt und gewußt, daß Homer von Skulptur und von Kuppelgräbern nichts
weiß? Von der ganzen Malerei weiß er^mchtK, die uns nun vertraut ist ... .
Der Blumenflor und die spielenden Asche »der kretischen Vasen sind ihm
fremd . .'. Der Palast des Odyssees zeigt einen Saal und einen Vorraum,


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[0425] Neue Homerbücher Diese Ansicht von einer Dichterpersönlichkeit Homers ist jetzt die ziemlich allgemein herrschende; auch in der zeitlichen Festsetzung des Dichters gibt Finster die meist herrschende Anschauung wieder. Ebenso ist es mit der Meinung über den Gegenstand der Schilderungen Homers: er stellt nicht die Kultur seiner Zeit dar, sondern die Heidenzeit, die kretisch-mykenische, und archaisiert mit Absicht. „Die epische Poesie", sagt Finster, „will eine alte Zeit darstellen und schließt die Gegenwart aus, in bewußtem Streben nach Altertümlichkeit"; ähnlich äußert sich Wilamowitz. Aber Finster selber muß zugeben, daß diese Absicht des Dichters, wenn sie wirklich bestand, durchaus nicht konsequent durchgeführt worden ist: „Die Zeich¬ nung von dem Leben seiner Heroen atmet so sehr den frischen Hauch unmittel¬ barster Wirklichkeit, daß es schwer ist, an eine systematisch durchgeführte poetische Fiktion zu glauben......Was Homer so getreu schildert, hat er gesehen. Weder ein ängstliches Archaisieren noch ein historisch falsches Jdealgemälde ver¬ möchte die Lebenswahrheit seiner Poesie hervorzuzaubern". Und in der Tat läßt sich an zahlreichen Belegen zeigen, daß von einer Durchführung jenes be¬ haupteten Archaisierens keine Rede sein kann: wenn z. B., wie Finster an¬ nimmt, bei Homer die Eisenzeit herrschte, aber die Überlieferung für die alte Zeit nur Bronze kannte, so durste er das Eisen gar nicht erwähnen, was aber doch mehrfach geschieht. Wenn Finster ferner meint, im Weltbilde Homers fehle die Großstadt, die es doch zu seiner Zeit gegeben habe, so wird hierbei etwas als erwiesen angenommen, was erst bewiesen werden muß. Für die NichtVerwendung der Reiterei durch den Dichter hat Finster selbst schon seine frühere Anschauung, daß dies geschehe, weil Homer sie nicht für altertümlich genug gehalten habe, aufgegeben und sagt, es sei sehr wahrscheinlich, daß die Heere der Jonier über¬ haupt keine Reiterei hatten. Unter diesen Umständen ist es eigentlich natür¬ licher, anzunehmen, daß Homer alte und „moderne" Kultur in seinem Werk vereinigt, nicht, weil „lange andauernde poetische Behandlung die altertümliche Färbung festgehalten hatte", sondern weil er an der Scheide zweier Kulturen steht, die er unbefangen beide verwertet, weil er beide aus eigener Anschauung kennt; dabei kann zugegeben werden, daß er sich dann und wann gewisser Gegensätze bewußt ist. Freilich wird die zünftige Homerphilologie sich zu dieser Meinung nie bekehren, weil Homer dann zu hoch hinaufgerückt werden muß, und das soll wieder nicht gehen wegen der wesentlichen Unterschiede der homerischen Kultur von der kretisch-mykenischen. Diese werden aber vielfach erst gewonnen aus der Heranziehung von Dingen, die Homer nicht nennt, ohne daß wir wissen, ob er sie nicht doch kennt: „Hatte man nicht", sagt Wilamowitz, „das ,Löwentor' und das .Schatzhaus des Atreus' immer ge¬ kannt und gewußt, daß Homer von Skulptur und von Kuppelgräbern nichts weiß? Von der ganzen Malerei weiß er^mchtK, die uns nun vertraut ist ... . Der Blumenflor und die spielenden Asche »der kretischen Vasen sind ihm fremd . .'. Der Palast des Odyssees zeigt einen Saal und einen Vorraum,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/425>, abgerufen am 23.07.2024.