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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Neue Homerbücher

eingeschworen, unmittelbar aus den Quellen schöpfend, sicher und unbeirrt
urteilend, hat er das Beste über Homer geschrieben, eine feinsinnige Synthese
in schlichter, ansprechender Darstellung. Was er in dem größeren Werke "Homer"
gegeben hat, ist für das kleinere "Die homerische Dichtung" zum Teil wörtlich
übernommen, zum Teil zusammengefaßt und bearbeitet oder auch erweitert und
geändert worden.

Jenes behandelt zunächst in den "Vorfragen" das Geographische, die
historischen Voraussetzungen, die epische Poesie und endlich die Überlieferung
über Homer und die Aufzeichnung der Epen. In dem Abschnitt "Die homerische
Welt" werden Natur und Leben, der homerische Mensch, Gesellschaft und Staat
und Religion geschildert; der dritte würdigt die homerische Poesie, und der
vierte behandelt die Homerkritik. In Aufbau und Einzelheiten gleich aus¬
gezeichnet, wird diese neue Ausgabe dem Buche treue, begeisterte Freunde zu¬
führen: einen besseren Führer durch Ilias und Odyssee vermag ich nicht zu
nennen. In manchen Punkten, die die eigentliche homerische Frage berühren,
wird man Finster jedoch nicht recht geben können.

Wenn wir die wichtigsten Teile der homerischen Frage einmal so formulieren:
War Homer und wer war er? Wann war er und welche Zeit schildert er?
War der Dichter der Ilias und der der Odyssee eine und dieselbe Person? --
so erklärt Finster entschieden: Homer hat gelebt. Er ist ein Jonier aus
Smyrna und hat um 700 die Ilias so komponiert, wie sie uns jetzt vorliegt
(Seite 66). Zu demselben Ergebnis gelangt in seinem neuesten Werk U. v. Wila-
mowitz*): . . . "Kein Zweifel darf auskommen, daß die Schöpfung der Ilias
nicht aus dem Nichts, sondern aus dem vorhandenen Materials erfolgte, aber
doch eine Schöpfung, eine einmalige Tat, ihr Dichter eine Person, ein Mensch
von eignem Können und Wollen war", und dieser Dichter muß, gibt auch
Wilamowitz schließlich, wenn auch sehr gewunden, zu. beinahe notwendig Homer
gewesen sein (vergl. S. 374). -- Das gleiche Resultat ergibt sich für Finster**)
noch auf einem anderen Wege, in dem Werke, das eine Geschichte Homers von
Dante bis Goethe, in Italien, Frankreich, England, Deutschland bringt- und
in ein starkes Bekenntnis zu der poetischen Persönlichkeit Homers ausklingt:
"Mir ist", so sagt er, "bei meiner Wanderung durch die Jahrhunderte klar
geworden, daß sich so viele geistvolle Menschen unmöglich im Irrtum befunden
haben können, wenn sie sich um die Erfassung des Charakterbildes Homers be¬
mühten ......Es darf der Irrtum nicht bleiben, als ob die Ilias etwas
qualitativ anderes wäre als irgendeine große poetische Schöpfung der Welt.
Wir müssen anerkennen, daß, so viele Vorgänger und Vorlagen Homer auch
gehabt haben möge, in erster Linie die Frage gestellt werden muß, was er
aus dem übernommenen Gute gemacht habe, inwiefern in der Gesamtheit der
Epen der Stempel seines Genies zu spüren sei."




*) "Die Ilias und Homer". Berlin 1916, Weidmannsche Buchhandlung (VI u. 5W S.).
"
"Homer in der Neuzeit. Leipzig 19.t2, Teubner lVIII u. 530 S.).
Neue Homerbücher

eingeschworen, unmittelbar aus den Quellen schöpfend, sicher und unbeirrt
urteilend, hat er das Beste über Homer geschrieben, eine feinsinnige Synthese
in schlichter, ansprechender Darstellung. Was er in dem größeren Werke „Homer"
gegeben hat, ist für das kleinere „Die homerische Dichtung" zum Teil wörtlich
übernommen, zum Teil zusammengefaßt und bearbeitet oder auch erweitert und
geändert worden.

Jenes behandelt zunächst in den „Vorfragen" das Geographische, die
historischen Voraussetzungen, die epische Poesie und endlich die Überlieferung
über Homer und die Aufzeichnung der Epen. In dem Abschnitt „Die homerische
Welt" werden Natur und Leben, der homerische Mensch, Gesellschaft und Staat
und Religion geschildert; der dritte würdigt die homerische Poesie, und der
vierte behandelt die Homerkritik. In Aufbau und Einzelheiten gleich aus¬
gezeichnet, wird diese neue Ausgabe dem Buche treue, begeisterte Freunde zu¬
führen: einen besseren Führer durch Ilias und Odyssee vermag ich nicht zu
nennen. In manchen Punkten, die die eigentliche homerische Frage berühren,
wird man Finster jedoch nicht recht geben können.

Wenn wir die wichtigsten Teile der homerischen Frage einmal so formulieren:
War Homer und wer war er? Wann war er und welche Zeit schildert er?
War der Dichter der Ilias und der der Odyssee eine und dieselbe Person? —
so erklärt Finster entschieden: Homer hat gelebt. Er ist ein Jonier aus
Smyrna und hat um 700 die Ilias so komponiert, wie sie uns jetzt vorliegt
(Seite 66). Zu demselben Ergebnis gelangt in seinem neuesten Werk U. v. Wila-
mowitz*): . . . „Kein Zweifel darf auskommen, daß die Schöpfung der Ilias
nicht aus dem Nichts, sondern aus dem vorhandenen Materials erfolgte, aber
doch eine Schöpfung, eine einmalige Tat, ihr Dichter eine Person, ein Mensch
von eignem Können und Wollen war", und dieser Dichter muß, gibt auch
Wilamowitz schließlich, wenn auch sehr gewunden, zu. beinahe notwendig Homer
gewesen sein (vergl. S. 374). — Das gleiche Resultat ergibt sich für Finster**)
noch auf einem anderen Wege, in dem Werke, das eine Geschichte Homers von
Dante bis Goethe, in Italien, Frankreich, England, Deutschland bringt- und
in ein starkes Bekenntnis zu der poetischen Persönlichkeit Homers ausklingt:
„Mir ist", so sagt er, „bei meiner Wanderung durch die Jahrhunderte klar
geworden, daß sich so viele geistvolle Menschen unmöglich im Irrtum befunden
haben können, wenn sie sich um die Erfassung des Charakterbildes Homers be¬
mühten ......Es darf der Irrtum nicht bleiben, als ob die Ilias etwas
qualitativ anderes wäre als irgendeine große poetische Schöpfung der Welt.
Wir müssen anerkennen, daß, so viele Vorgänger und Vorlagen Homer auch
gehabt haben möge, in erster Linie die Frage gestellt werden muß, was er
aus dem übernommenen Gute gemacht habe, inwiefern in der Gesamtheit der
Epen der Stempel seines Genies zu spüren sei."




*) „Die Ilias und Homer". Berlin 1916, Weidmannsche Buchhandlung (VI u. 5W S.).
"
„Homer in der Neuzeit. Leipzig 19.t2, Teubner lVIII u. 530 S.).
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[0424] Neue Homerbücher eingeschworen, unmittelbar aus den Quellen schöpfend, sicher und unbeirrt urteilend, hat er das Beste über Homer geschrieben, eine feinsinnige Synthese in schlichter, ansprechender Darstellung. Was er in dem größeren Werke „Homer" gegeben hat, ist für das kleinere „Die homerische Dichtung" zum Teil wörtlich übernommen, zum Teil zusammengefaßt und bearbeitet oder auch erweitert und geändert worden. Jenes behandelt zunächst in den „Vorfragen" das Geographische, die historischen Voraussetzungen, die epische Poesie und endlich die Überlieferung über Homer und die Aufzeichnung der Epen. In dem Abschnitt „Die homerische Welt" werden Natur und Leben, der homerische Mensch, Gesellschaft und Staat und Religion geschildert; der dritte würdigt die homerische Poesie, und der vierte behandelt die Homerkritik. In Aufbau und Einzelheiten gleich aus¬ gezeichnet, wird diese neue Ausgabe dem Buche treue, begeisterte Freunde zu¬ führen: einen besseren Führer durch Ilias und Odyssee vermag ich nicht zu nennen. In manchen Punkten, die die eigentliche homerische Frage berühren, wird man Finster jedoch nicht recht geben können. Wenn wir die wichtigsten Teile der homerischen Frage einmal so formulieren: War Homer und wer war er? Wann war er und welche Zeit schildert er? War der Dichter der Ilias und der der Odyssee eine und dieselbe Person? — so erklärt Finster entschieden: Homer hat gelebt. Er ist ein Jonier aus Smyrna und hat um 700 die Ilias so komponiert, wie sie uns jetzt vorliegt (Seite 66). Zu demselben Ergebnis gelangt in seinem neuesten Werk U. v. Wila- mowitz*): . . . „Kein Zweifel darf auskommen, daß die Schöpfung der Ilias nicht aus dem Nichts, sondern aus dem vorhandenen Materials erfolgte, aber doch eine Schöpfung, eine einmalige Tat, ihr Dichter eine Person, ein Mensch von eignem Können und Wollen war", und dieser Dichter muß, gibt auch Wilamowitz schließlich, wenn auch sehr gewunden, zu. beinahe notwendig Homer gewesen sein (vergl. S. 374). — Das gleiche Resultat ergibt sich für Finster**) noch auf einem anderen Wege, in dem Werke, das eine Geschichte Homers von Dante bis Goethe, in Italien, Frankreich, England, Deutschland bringt- und in ein starkes Bekenntnis zu der poetischen Persönlichkeit Homers ausklingt: „Mir ist", so sagt er, „bei meiner Wanderung durch die Jahrhunderte klar geworden, daß sich so viele geistvolle Menschen unmöglich im Irrtum befunden haben können, wenn sie sich um die Erfassung des Charakterbildes Homers be¬ mühten ......Es darf der Irrtum nicht bleiben, als ob die Ilias etwas qualitativ anderes wäre als irgendeine große poetische Schöpfung der Welt. Wir müssen anerkennen, daß, so viele Vorgänger und Vorlagen Homer auch gehabt haben möge, in erster Linie die Frage gestellt werden muß, was er aus dem übernommenen Gute gemacht habe, inwiefern in der Gesamtheit der Epen der Stempel seines Genies zu spüren sei." *) „Die Ilias und Homer". Berlin 1916, Weidmannsche Buchhandlung (VI u. 5W S.). " „Homer in der Neuzeit. Leipzig 19.t2, Teubner lVIII u. 530 S.).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/424>, abgerufen am 23.07.2024.