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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität

vom 2. ZUM 3. August beschrieben hat, mit Genugtuung festgestellt, daß die
ersten Gewehrschüsse auf belgischen Gebiet dach die belgischen Gensdarmen
gegen die Deutschen abgefeuert worden sind. "Damit war Blut geflossen und
Unwiderrufliches geschehen."

Ich bin nicht der Meinung, daß diese und andere auf derselben Linie
liegenden Tatsachen wesentlich für die völkerrechtliche Beurteilung sind. Ihre
Aufdeckung ist schätzbares Material, um einer irregeleiteten öffentlichen Meinung
avf den richtigen Weg zu helfen, indem man sich dem gang und gäbe gewordenen
Maßstab anpaßt und auf die Gesichtspunkte eingeht, von welchen die hypnoti¬
sierte Welt ihr Urteil über Deutschlands Recht abhängig macht.

Daß die spätere Nachwelt ganz andere Maßstäbe anlegen und mit der
subjektiven Unwahrhaftigkeit des englischen Vorwandes auch dessen objektive
Nichtigkeit erkennen wird, dessen dürfen wir uns, glaube ich, getrosten. Der
Weg, auf welchem das Urteil der Geschichte sich bilden wird, führt aber über
die begriffsjuristische Denkweise, welche im Privatrecht allmählich auf das richtige
Matz beschränkt, sich nunmehr die Herrschaft im Völkerrecht erobern zu wollen
scheint, weit hinaus. Die Wechselbeziehung zwischen der Vielgsstaltigkeit des
Geschehens und dem inneren Reichtum richtigen Rechtes, die Entwicklung des
von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbenden Buchstabenrechtes zu dem Rechte,
das mit uns geboren ist, das Verhältnis der Politik und der Geschichte zum
Völkerrecht, müssen und werden in künftigen lichteren Zeiten besser als jetzt er¬
kannt werden. Damit wird der schwelende Dunst trüber Rabulisterei aus der
Politik und aus dem Völkerrecht weggeblasen sein zum Heile internationaler
Verständigung, welcher trotz Völkerhaß und Lügenpest der Gegenwart und trotz aller
Giftgase die Zukunft gehören muß, aufgebaut auf der Erkenntnis politischer Jnteressen-
vereinigung, nach dem freien Willen freier, gleichberechtigter und starker Staaten.




Es sind zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte, unter denen Belgiens
Neutralitätsrecht zu beurteilen ist. Diese Gesichtspunkte finden in zwei auch
zeitlich weit auseinanderliegenden diplomatischen Urkunden ihre Stütze.

Die eine Stütze der gegen Deutschland gerichteten Anklage ist der belgische
Neutralisierungsvertrag vom 19. April 1839, die andere die Haager Neutralitüts-
Zonvention von 1907.

Am 19. April 1839 wurden drei Verträge geschlossen: ein belgisch-hol¬
ländischer und je ein Vertrag der fünf Großmächte (Frankreich, England,
Österreich, Preußen, Rußland) mit Belgien und mit Holland. Das Verhältnis
dieser Verträge ist folgendes: Der belgisch-holländische Vertrag bestimmt in
nierundzwanzig Artikeln die Unabhängigkeit, die Grenzen, die Wasserverhältnisse,
die Finanzverhältnisse des neugegründeten Königreichs Belgien. Die beiden
Verträge der Großwächte sind ganz kurz und sprechen nur den Beitritt der
Großmächte zu den vierundzwanzig Artikeln des Hauptvertrages aus. Der
Artikel 7 des Hauptvertrages bestimmt:


Belgiens Neutralität

vom 2. ZUM 3. August beschrieben hat, mit Genugtuung festgestellt, daß die
ersten Gewehrschüsse auf belgischen Gebiet dach die belgischen Gensdarmen
gegen die Deutschen abgefeuert worden sind. „Damit war Blut geflossen und
Unwiderrufliches geschehen."

Ich bin nicht der Meinung, daß diese und andere auf derselben Linie
liegenden Tatsachen wesentlich für die völkerrechtliche Beurteilung sind. Ihre
Aufdeckung ist schätzbares Material, um einer irregeleiteten öffentlichen Meinung
avf den richtigen Weg zu helfen, indem man sich dem gang und gäbe gewordenen
Maßstab anpaßt und auf die Gesichtspunkte eingeht, von welchen die hypnoti¬
sierte Welt ihr Urteil über Deutschlands Recht abhängig macht.

Daß die spätere Nachwelt ganz andere Maßstäbe anlegen und mit der
subjektiven Unwahrhaftigkeit des englischen Vorwandes auch dessen objektive
Nichtigkeit erkennen wird, dessen dürfen wir uns, glaube ich, getrosten. Der
Weg, auf welchem das Urteil der Geschichte sich bilden wird, führt aber über
die begriffsjuristische Denkweise, welche im Privatrecht allmählich auf das richtige
Matz beschränkt, sich nunmehr die Herrschaft im Völkerrecht erobern zu wollen
scheint, weit hinaus. Die Wechselbeziehung zwischen der Vielgsstaltigkeit des
Geschehens und dem inneren Reichtum richtigen Rechtes, die Entwicklung des
von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbenden Buchstabenrechtes zu dem Rechte,
das mit uns geboren ist, das Verhältnis der Politik und der Geschichte zum
Völkerrecht, müssen und werden in künftigen lichteren Zeiten besser als jetzt er¬
kannt werden. Damit wird der schwelende Dunst trüber Rabulisterei aus der
Politik und aus dem Völkerrecht weggeblasen sein zum Heile internationaler
Verständigung, welcher trotz Völkerhaß und Lügenpest der Gegenwart und trotz aller
Giftgase die Zukunft gehören muß, aufgebaut auf der Erkenntnis politischer Jnteressen-
vereinigung, nach dem freien Willen freier, gleichberechtigter und starker Staaten.




Es sind zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte, unter denen Belgiens
Neutralitätsrecht zu beurteilen ist. Diese Gesichtspunkte finden in zwei auch
zeitlich weit auseinanderliegenden diplomatischen Urkunden ihre Stütze.

Die eine Stütze der gegen Deutschland gerichteten Anklage ist der belgische
Neutralisierungsvertrag vom 19. April 1839, die andere die Haager Neutralitüts-
Zonvention von 1907.

Am 19. April 1839 wurden drei Verträge geschlossen: ein belgisch-hol¬
ländischer und je ein Vertrag der fünf Großmächte (Frankreich, England,
Österreich, Preußen, Rußland) mit Belgien und mit Holland. Das Verhältnis
dieser Verträge ist folgendes: Der belgisch-holländische Vertrag bestimmt in
nierundzwanzig Artikeln die Unabhängigkeit, die Grenzen, die Wasserverhältnisse,
die Finanzverhältnisse des neugegründeten Königreichs Belgien. Die beiden
Verträge der Großwächte sind ganz kurz und sprechen nur den Beitritt der
Großmächte zu den vierundzwanzig Artikeln des Hauptvertrages aus. Der
Artikel 7 des Hauptvertrages bestimmt:


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[0334] Belgiens Neutralität vom 2. ZUM 3. August beschrieben hat, mit Genugtuung festgestellt, daß die ersten Gewehrschüsse auf belgischen Gebiet dach die belgischen Gensdarmen gegen die Deutschen abgefeuert worden sind. „Damit war Blut geflossen und Unwiderrufliches geschehen." Ich bin nicht der Meinung, daß diese und andere auf derselben Linie liegenden Tatsachen wesentlich für die völkerrechtliche Beurteilung sind. Ihre Aufdeckung ist schätzbares Material, um einer irregeleiteten öffentlichen Meinung avf den richtigen Weg zu helfen, indem man sich dem gang und gäbe gewordenen Maßstab anpaßt und auf die Gesichtspunkte eingeht, von welchen die hypnoti¬ sierte Welt ihr Urteil über Deutschlands Recht abhängig macht. Daß die spätere Nachwelt ganz andere Maßstäbe anlegen und mit der subjektiven Unwahrhaftigkeit des englischen Vorwandes auch dessen objektive Nichtigkeit erkennen wird, dessen dürfen wir uns, glaube ich, getrosten. Der Weg, auf welchem das Urteil der Geschichte sich bilden wird, führt aber über die begriffsjuristische Denkweise, welche im Privatrecht allmählich auf das richtige Matz beschränkt, sich nunmehr die Herrschaft im Völkerrecht erobern zu wollen scheint, weit hinaus. Die Wechselbeziehung zwischen der Vielgsstaltigkeit des Geschehens und dem inneren Reichtum richtigen Rechtes, die Entwicklung des von Geschlecht zu Geschlecht sich forterbenden Buchstabenrechtes zu dem Rechte, das mit uns geboren ist, das Verhältnis der Politik und der Geschichte zum Völkerrecht, müssen und werden in künftigen lichteren Zeiten besser als jetzt er¬ kannt werden. Damit wird der schwelende Dunst trüber Rabulisterei aus der Politik und aus dem Völkerrecht weggeblasen sein zum Heile internationaler Verständigung, welcher trotz Völkerhaß und Lügenpest der Gegenwart und trotz aller Giftgase die Zukunft gehören muß, aufgebaut auf der Erkenntnis politischer Jnteressen- vereinigung, nach dem freien Willen freier, gleichberechtigter und starker Staaten. Es sind zwei ganz verschiedene Gesichtspunkte, unter denen Belgiens Neutralitätsrecht zu beurteilen ist. Diese Gesichtspunkte finden in zwei auch zeitlich weit auseinanderliegenden diplomatischen Urkunden ihre Stütze. Die eine Stütze der gegen Deutschland gerichteten Anklage ist der belgische Neutralisierungsvertrag vom 19. April 1839, die andere die Haager Neutralitüts- Zonvention von 1907. Am 19. April 1839 wurden drei Verträge geschlossen: ein belgisch-hol¬ ländischer und je ein Vertrag der fünf Großmächte (Frankreich, England, Österreich, Preußen, Rußland) mit Belgien und mit Holland. Das Verhältnis dieser Verträge ist folgendes: Der belgisch-holländische Vertrag bestimmt in nierundzwanzig Artikeln die Unabhängigkeit, die Grenzen, die Wasserverhältnisse, die Finanzverhältnisse des neugegründeten Königreichs Belgien. Die beiden Verträge der Großwächte sind ganz kurz und sprechen nur den Beitritt der Großmächte zu den vierundzwanzig Artikeln des Hauptvertrages aus. Der Artikel 7 des Hauptvertrages bestimmt:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/334>, abgerufen am 23.07.2024.