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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutrcilität

"Belgien wird einen unabhängigen und beständig neutralen Staat bilden.
Es wird gehalten sein, dieselbe Neutralität gegenüber allen andern Staaten zu
beobachten."

In den beiden Großmächteverträgen heißt es dann von den vierundzwanzig
Artikeln des Hauptvertrages: " ... sont con8i(Zei-6s comme ^fut la, nome
kvrce et valeur que 8'ii8 ötaient textuellement in8ere8 6an8 le x"-e8ent
Acte et qu'Ü8 8e trouvent ain8i p!-rLL8 80U8 1^ Mrantie cle Ieur8 eine8
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Das ist die berühmte Garantieklausel.

So einfach die Bestimmungen klingen und so wenig Skrupel sich Millionen
Menschen darüber machen, die seit 1914 darüber mit einem fertigen Urteil
absprechen, so zweifelhaft ist ihr Sinn, so unmöglich ist es, aus dem Wortlaut
ihre Bedeutung und ihre Tragweite zu bestimmen.

Was ist Neutralität? Was ist beständige Neutralität? Welche Pflichten
erlegt sie dem neutralisierten Staat im Frieden, im Kriege, in den verschiedenen
Möglichkeiten der Kriegsvorgänge auf? Welche Rechte gewährt sie? Was
bedeutet Stellung unter die Garantie der Mächte? Welche Pflichten erlegt
sie den Mächten auf? Welche völkerrechtlichen Folgen knüpfen sich an die
Verletzung der Pflichten durch den neutralisierten Staat, durch andere Staaten,
durch die Großmächte, durch Holland?

Soviel Fragen, soviel Zweifel. DerWortlaut des Vertrages sagt nichts über sie.

Welche Hilfsmittel der Auslegung gibt es? Maßgebend soll der Wille
der Vertragschließenden sein. Was ist Wille? Wessen Wille ist maßgebend?
Der Wille der Delegierten, die den Vertrag schlössen? Der Wille der Staats¬
oberhäupter? Der Wille der Völker? Wie, wenn jeder unter demselben Wort
etwas anderes verstand?

Im Privatrecht haben solche Probleme dazu geführt, die sogenannte Aus
legung der Vertrüge auf die Kunst der Rechtsanwendung, das heißt auf die
Findung des sachgemäßen Rechts zurückzuführen. Wie viel mehr muß dies
im Verhältnis der Staaten zutreffen, bei denen politische Interessen verfolgt,
neue Verhältnisse geschaffen werden, für welche erst die jetzt getroffenen Verab¬
redungen den rechtlichen Boden feststellen.

Gewiß scheint zu sein, daß die Staaten sich binden wollten. Aber wie
kann man sagen, daß sie gebunden sind, wenn man nicht weiß, woran sie sich
haben binden wollen? Auch im Privatrecht kommt derartiges vor. Dann
bleibt nichts übrig als auf die Umstände zurückzugehen, unter welchen der Ver¬
trag geschlossen ist, auf seine Entstehungsgeschichte und den Zweck des Vertrages.

Müßte man die Methoden des Privatrechtes, welches doch beherrscht wird
von den Grundgedanken der Vertragstreue, auf das Völkerrecht anwenden, so
wäre man darauf angewiesen, die Neutralisierung auf ihren Zweck im Ver¬
hältnis der beteiligten Staaten zu prüfen. Wie viel mehr muß dies gelten
im Staatenverhältnis, im Völkerrecht!


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Belgiens Neutrcilität

„Belgien wird einen unabhängigen und beständig neutralen Staat bilden.
Es wird gehalten sein, dieselbe Neutralität gegenüber allen andern Staaten zu
beobachten."

In den beiden Großmächteverträgen heißt es dann von den vierundzwanzig
Artikeln des Hauptvertrages: „ ... sont con8i(Zei-6s comme ^fut la, nome
kvrce et valeur que 8'ii8 ötaient textuellement in8ere8 6an8 le x»-e8ent
Acte et qu'Ü8 8e trouvent ain8i p!-rLL8 80U8 1^ Mrantie cle Ieur8 eine8
^-1ZL8te8."

Das ist die berühmte Garantieklausel.

So einfach die Bestimmungen klingen und so wenig Skrupel sich Millionen
Menschen darüber machen, die seit 1914 darüber mit einem fertigen Urteil
absprechen, so zweifelhaft ist ihr Sinn, so unmöglich ist es, aus dem Wortlaut
ihre Bedeutung und ihre Tragweite zu bestimmen.

Was ist Neutralität? Was ist beständige Neutralität? Welche Pflichten
erlegt sie dem neutralisierten Staat im Frieden, im Kriege, in den verschiedenen
Möglichkeiten der Kriegsvorgänge auf? Welche Rechte gewährt sie? Was
bedeutet Stellung unter die Garantie der Mächte? Welche Pflichten erlegt
sie den Mächten auf? Welche völkerrechtlichen Folgen knüpfen sich an die
Verletzung der Pflichten durch den neutralisierten Staat, durch andere Staaten,
durch die Großmächte, durch Holland?

Soviel Fragen, soviel Zweifel. DerWortlaut des Vertrages sagt nichts über sie.

Welche Hilfsmittel der Auslegung gibt es? Maßgebend soll der Wille
der Vertragschließenden sein. Was ist Wille? Wessen Wille ist maßgebend?
Der Wille der Delegierten, die den Vertrag schlössen? Der Wille der Staats¬
oberhäupter? Der Wille der Völker? Wie, wenn jeder unter demselben Wort
etwas anderes verstand?

Im Privatrecht haben solche Probleme dazu geführt, die sogenannte Aus
legung der Vertrüge auf die Kunst der Rechtsanwendung, das heißt auf die
Findung des sachgemäßen Rechts zurückzuführen. Wie viel mehr muß dies
im Verhältnis der Staaten zutreffen, bei denen politische Interessen verfolgt,
neue Verhältnisse geschaffen werden, für welche erst die jetzt getroffenen Verab¬
redungen den rechtlichen Boden feststellen.

Gewiß scheint zu sein, daß die Staaten sich binden wollten. Aber wie
kann man sagen, daß sie gebunden sind, wenn man nicht weiß, woran sie sich
haben binden wollen? Auch im Privatrecht kommt derartiges vor. Dann
bleibt nichts übrig als auf die Umstände zurückzugehen, unter welchen der Ver¬
trag geschlossen ist, auf seine Entstehungsgeschichte und den Zweck des Vertrages.

Müßte man die Methoden des Privatrechtes, welches doch beherrscht wird
von den Grundgedanken der Vertragstreue, auf das Völkerrecht anwenden, so
wäre man darauf angewiesen, die Neutralisierung auf ihren Zweck im Ver¬
hältnis der beteiligten Staaten zu prüfen. Wie viel mehr muß dies gelten
im Staatenverhältnis, im Völkerrecht!


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[0335] Belgiens Neutrcilität „Belgien wird einen unabhängigen und beständig neutralen Staat bilden. Es wird gehalten sein, dieselbe Neutralität gegenüber allen andern Staaten zu beobachten." In den beiden Großmächteverträgen heißt es dann von den vierundzwanzig Artikeln des Hauptvertrages: „ ... sont con8i(Zei-6s comme ^fut la, nome kvrce et valeur que 8'ii8 ötaient textuellement in8ere8 6an8 le x»-e8ent Acte et qu'Ü8 8e trouvent ain8i p!-rLL8 80U8 1^ Mrantie cle Ieur8 eine8 ^-1ZL8te8." Das ist die berühmte Garantieklausel. So einfach die Bestimmungen klingen und so wenig Skrupel sich Millionen Menschen darüber machen, die seit 1914 darüber mit einem fertigen Urteil absprechen, so zweifelhaft ist ihr Sinn, so unmöglich ist es, aus dem Wortlaut ihre Bedeutung und ihre Tragweite zu bestimmen. Was ist Neutralität? Was ist beständige Neutralität? Welche Pflichten erlegt sie dem neutralisierten Staat im Frieden, im Kriege, in den verschiedenen Möglichkeiten der Kriegsvorgänge auf? Welche Rechte gewährt sie? Was bedeutet Stellung unter die Garantie der Mächte? Welche Pflichten erlegt sie den Mächten auf? Welche völkerrechtlichen Folgen knüpfen sich an die Verletzung der Pflichten durch den neutralisierten Staat, durch andere Staaten, durch die Großmächte, durch Holland? Soviel Fragen, soviel Zweifel. DerWortlaut des Vertrages sagt nichts über sie. Welche Hilfsmittel der Auslegung gibt es? Maßgebend soll der Wille der Vertragschließenden sein. Was ist Wille? Wessen Wille ist maßgebend? Der Wille der Delegierten, die den Vertrag schlössen? Der Wille der Staats¬ oberhäupter? Der Wille der Völker? Wie, wenn jeder unter demselben Wort etwas anderes verstand? Im Privatrecht haben solche Probleme dazu geführt, die sogenannte Aus legung der Vertrüge auf die Kunst der Rechtsanwendung, das heißt auf die Findung des sachgemäßen Rechts zurückzuführen. Wie viel mehr muß dies im Verhältnis der Staaten zutreffen, bei denen politische Interessen verfolgt, neue Verhältnisse geschaffen werden, für welche erst die jetzt getroffenen Verab¬ redungen den rechtlichen Boden feststellen. Gewiß scheint zu sein, daß die Staaten sich binden wollten. Aber wie kann man sagen, daß sie gebunden sind, wenn man nicht weiß, woran sie sich haben binden wollen? Auch im Privatrecht kommt derartiges vor. Dann bleibt nichts übrig als auf die Umstände zurückzugehen, unter welchen der Ver¬ trag geschlossen ist, auf seine Entstehungsgeschichte und den Zweck des Vertrages. Müßte man die Methoden des Privatrechtes, welches doch beherrscht wird von den Grundgedanken der Vertragstreue, auf das Völkerrecht anwenden, so wäre man darauf angewiesen, die Neutralisierung auf ihren Zweck im Ver¬ hältnis der beteiligten Staaten zu prüfen. Wie viel mehr muß dies gelten im Staatenverhältnis, im Völkerrecht! 21»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/335>, abgerufen am 25.08.2024.