Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

eintrifft, und der Kulturunterschied zwischen Herrscher und Beherrschten die
Aufrechterhaltung der Abhängigkeit nicht selbstverständlich macht, so zeigen sich
Ansätze von Selbständigkeit, wie z. B. in den englischen Tochterstaaten. Der
Zerfall eines Weltreichs aber geschieht ebenfalls längs der natürlichen Grenzen
in seinem Innern und durch sie mit veranlaßt. Diese haben vielleicht einst
seine Entstehung gehemmt, nur günstige Umstände überwanden ihren Widerstand.
Anderwärts aber waren die hemmenden Schranken vielleicht stark genug. Auf
jeden Fall kommen wir zu dem Resultat, daß natürliche Grenzen die Zahl der
Einzelstaaten vermehren. Ihre historische Wirksamkeit also war und ist noch heute
sehr erheblich. Man könnte geneigt sein, in ihnen eine regulierende, mäßigende
Kraft anzuerkennen. Doch vermeidet man besser ein Werturteil. Letzten Endes
stellen sie doch einen militärischen Wert dar. Hemmen sie die Entfaltung über¬
mächtiger Reiche, sind sie Befestigungen, Verteidigungslinien zu vergleichen, so
sind sie eben ein Schutz der Schwächeren, ja der Schwachen (Andorra!). Ihr
Schutzbedürfnis kennt der starke Staat wenig oder gar nicht. Ihm verkehrt sich
der Wert natürlicher Grenzen eher ins Gegenteil. Ihr Fehlen hat einen Staat
entstehen lassen von mehr als doppelter zusammenhängender Fläche Europas,
das russische Reich.

In gleicher Weise widerspricht nun aber dem Schutzbedürfnis auch das
Verkehrsbedürfnis. Es besteht eine unlösbare Spannung zwischen Verkehr und
Grenze. Ist der Krieg die Fortsetzung der Politik, so ist der Schützengraben,
das völlige Aufhören des Verkehrs, die andere Form der Grenze. Im Frieden
verlegt sich die Hemmung des Verkehrs durch sie in eine technische und eine
verwaltungsmäßige. Diese findet sich als Zollschranke fast überall. Jene nur
im Bereich natürlicher Grenzen. Sofern diese aber, wie wir sahen, die Zahl
der Einzelstaaten vermehren, verlängern sie auch die Grenzen. Die Küste hat
auch hier ihre Vorzugsstellung. Mit der gern getragenen Unbequemlichkeit der
Umladung erkauft sie die Möglichkeit des Weltverkehrs. Zuerst erheben also
die Küstenstaaten, der englische Freihandel, und darnach auch der Kaufmann
im Innern des Festlandes im Namen der Weltwirtschaft je länger je mehr
Einwände gegen die Grenzen und zumal die natürlichen Grenzen. Verkehrs¬
bedürfnis und Machtstreben kommen also hier überein. eine Sachlage, welche
die Verwandtschaft beider Richtungen zu erkennen gibt. Beider Endziel
ist der Einheitsstaat. Die Spannung zwischen Schutzbedürfnis und Ver¬
kehrsbedürfnis, zwischen Grenze und Handel, zwischen Schützengraben und
Zivilisation ist letzten Endes eben die zwischen Einzelstaat und Gesamtstaat.

Vorläufig scheinen wir uns durch die Verkehrsentwicklung ermöglichten
größeren staatlichen Interessengemeinschaften zu nähern, mehr oder weniger
organischen Staatenbünden. Und es ist bezeichnend dafür, wie weit wir von
dem Weüstaat entfernt sind, daß selbst ein Naumann solche Staatengemeinschaften
mit einem durchgehenden Schützengraben umgeben will. Wir aber können hier
feststellen, daß der Wert natürlicher Grenzen in hohem Maße von den politischen


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

eintrifft, und der Kulturunterschied zwischen Herrscher und Beherrschten die
Aufrechterhaltung der Abhängigkeit nicht selbstverständlich macht, so zeigen sich
Ansätze von Selbständigkeit, wie z. B. in den englischen Tochterstaaten. Der
Zerfall eines Weltreichs aber geschieht ebenfalls längs der natürlichen Grenzen
in seinem Innern und durch sie mit veranlaßt. Diese haben vielleicht einst
seine Entstehung gehemmt, nur günstige Umstände überwanden ihren Widerstand.
Anderwärts aber waren die hemmenden Schranken vielleicht stark genug. Auf
jeden Fall kommen wir zu dem Resultat, daß natürliche Grenzen die Zahl der
Einzelstaaten vermehren. Ihre historische Wirksamkeit also war und ist noch heute
sehr erheblich. Man könnte geneigt sein, in ihnen eine regulierende, mäßigende
Kraft anzuerkennen. Doch vermeidet man besser ein Werturteil. Letzten Endes
stellen sie doch einen militärischen Wert dar. Hemmen sie die Entfaltung über¬
mächtiger Reiche, sind sie Befestigungen, Verteidigungslinien zu vergleichen, so
sind sie eben ein Schutz der Schwächeren, ja der Schwachen (Andorra!). Ihr
Schutzbedürfnis kennt der starke Staat wenig oder gar nicht. Ihm verkehrt sich
der Wert natürlicher Grenzen eher ins Gegenteil. Ihr Fehlen hat einen Staat
entstehen lassen von mehr als doppelter zusammenhängender Fläche Europas,
das russische Reich.

In gleicher Weise widerspricht nun aber dem Schutzbedürfnis auch das
Verkehrsbedürfnis. Es besteht eine unlösbare Spannung zwischen Verkehr und
Grenze. Ist der Krieg die Fortsetzung der Politik, so ist der Schützengraben,
das völlige Aufhören des Verkehrs, die andere Form der Grenze. Im Frieden
verlegt sich die Hemmung des Verkehrs durch sie in eine technische und eine
verwaltungsmäßige. Diese findet sich als Zollschranke fast überall. Jene nur
im Bereich natürlicher Grenzen. Sofern diese aber, wie wir sahen, die Zahl
der Einzelstaaten vermehren, verlängern sie auch die Grenzen. Die Küste hat
auch hier ihre Vorzugsstellung. Mit der gern getragenen Unbequemlichkeit der
Umladung erkauft sie die Möglichkeit des Weltverkehrs. Zuerst erheben also
die Küstenstaaten, der englische Freihandel, und darnach auch der Kaufmann
im Innern des Festlandes im Namen der Weltwirtschaft je länger je mehr
Einwände gegen die Grenzen und zumal die natürlichen Grenzen. Verkehrs¬
bedürfnis und Machtstreben kommen also hier überein. eine Sachlage, welche
die Verwandtschaft beider Richtungen zu erkennen gibt. Beider Endziel
ist der Einheitsstaat. Die Spannung zwischen Schutzbedürfnis und Ver¬
kehrsbedürfnis, zwischen Grenze und Handel, zwischen Schützengraben und
Zivilisation ist letzten Endes eben die zwischen Einzelstaat und Gesamtstaat.

Vorläufig scheinen wir uns durch die Verkehrsentwicklung ermöglichten
größeren staatlichen Interessengemeinschaften zu nähern, mehr oder weniger
organischen Staatenbünden. Und es ist bezeichnend dafür, wie weit wir von
dem Weüstaat entfernt sind, daß selbst ein Naumann solche Staatengemeinschaften
mit einem durchgehenden Schützengraben umgeben will. Wir aber können hier
feststellen, daß der Wert natürlicher Grenzen in hohem Maße von den politischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0217" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/331625"/>
          <fw type="header" place="top"> Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_690" prev="#ID_689"> eintrifft, und der Kulturunterschied zwischen Herrscher und Beherrschten die<lb/>
Aufrechterhaltung der Abhängigkeit nicht selbstverständlich macht, so zeigen sich<lb/>
Ansätze von Selbständigkeit, wie z. B. in den englischen Tochterstaaten. Der<lb/>
Zerfall eines Weltreichs aber geschieht ebenfalls längs der natürlichen Grenzen<lb/>
in seinem Innern und durch sie mit veranlaßt. Diese haben vielleicht einst<lb/>
seine Entstehung gehemmt, nur günstige Umstände überwanden ihren Widerstand.<lb/>
Anderwärts aber waren die hemmenden Schranken vielleicht stark genug. Auf<lb/>
jeden Fall kommen wir zu dem Resultat, daß natürliche Grenzen die Zahl der<lb/>
Einzelstaaten vermehren. Ihre historische Wirksamkeit also war und ist noch heute<lb/>
sehr erheblich. Man könnte geneigt sein, in ihnen eine regulierende, mäßigende<lb/>
Kraft anzuerkennen. Doch vermeidet man besser ein Werturteil. Letzten Endes<lb/>
stellen sie doch einen militärischen Wert dar. Hemmen sie die Entfaltung über¬<lb/>
mächtiger Reiche, sind sie Befestigungen, Verteidigungslinien zu vergleichen, so<lb/>
sind sie eben ein Schutz der Schwächeren, ja der Schwachen (Andorra!). Ihr<lb/>
Schutzbedürfnis kennt der starke Staat wenig oder gar nicht. Ihm verkehrt sich<lb/>
der Wert natürlicher Grenzen eher ins Gegenteil. Ihr Fehlen hat einen Staat<lb/>
entstehen lassen von mehr als doppelter zusammenhängender Fläche Europas,<lb/>
das russische Reich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_691"> In gleicher Weise widerspricht nun aber dem Schutzbedürfnis auch das<lb/>
Verkehrsbedürfnis. Es besteht eine unlösbare Spannung zwischen Verkehr und<lb/>
Grenze. Ist der Krieg die Fortsetzung der Politik, so ist der Schützengraben,<lb/>
das völlige Aufhören des Verkehrs, die andere Form der Grenze. Im Frieden<lb/>
verlegt sich die Hemmung des Verkehrs durch sie in eine technische und eine<lb/>
verwaltungsmäßige. Diese findet sich als Zollschranke fast überall. Jene nur<lb/>
im Bereich natürlicher Grenzen. Sofern diese aber, wie wir sahen, die Zahl<lb/>
der Einzelstaaten vermehren, verlängern sie auch die Grenzen. Die Küste hat<lb/>
auch hier ihre Vorzugsstellung. Mit der gern getragenen Unbequemlichkeit der<lb/>
Umladung erkauft sie die Möglichkeit des Weltverkehrs. Zuerst erheben also<lb/>
die Küstenstaaten, der englische Freihandel, und darnach auch der Kaufmann<lb/>
im Innern des Festlandes im Namen der Weltwirtschaft je länger je mehr<lb/>
Einwände gegen die Grenzen und zumal die natürlichen Grenzen. Verkehrs¬<lb/>
bedürfnis und Machtstreben kommen also hier überein. eine Sachlage, welche<lb/>
die Verwandtschaft beider Richtungen zu erkennen gibt. Beider Endziel<lb/>
ist der Einheitsstaat. Die Spannung zwischen Schutzbedürfnis und Ver¬<lb/>
kehrsbedürfnis, zwischen Grenze und Handel, zwischen Schützengraben und<lb/>
Zivilisation ist letzten Endes eben die zwischen Einzelstaat und Gesamtstaat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_692" next="#ID_693"> Vorläufig scheinen wir uns durch die Verkehrsentwicklung ermöglichten<lb/>
größeren staatlichen Interessengemeinschaften zu nähern, mehr oder weniger<lb/>
organischen Staatenbünden. Und es ist bezeichnend dafür, wie weit wir von<lb/>
dem Weüstaat entfernt sind, daß selbst ein Naumann solche Staatengemeinschaften<lb/>
mit einem durchgehenden Schützengraben umgeben will. Wir aber können hier<lb/>
feststellen, daß der Wert natürlicher Grenzen in hohem Maße von den politischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0217] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen eintrifft, und der Kulturunterschied zwischen Herrscher und Beherrschten die Aufrechterhaltung der Abhängigkeit nicht selbstverständlich macht, so zeigen sich Ansätze von Selbständigkeit, wie z. B. in den englischen Tochterstaaten. Der Zerfall eines Weltreichs aber geschieht ebenfalls längs der natürlichen Grenzen in seinem Innern und durch sie mit veranlaßt. Diese haben vielleicht einst seine Entstehung gehemmt, nur günstige Umstände überwanden ihren Widerstand. Anderwärts aber waren die hemmenden Schranken vielleicht stark genug. Auf jeden Fall kommen wir zu dem Resultat, daß natürliche Grenzen die Zahl der Einzelstaaten vermehren. Ihre historische Wirksamkeit also war und ist noch heute sehr erheblich. Man könnte geneigt sein, in ihnen eine regulierende, mäßigende Kraft anzuerkennen. Doch vermeidet man besser ein Werturteil. Letzten Endes stellen sie doch einen militärischen Wert dar. Hemmen sie die Entfaltung über¬ mächtiger Reiche, sind sie Befestigungen, Verteidigungslinien zu vergleichen, so sind sie eben ein Schutz der Schwächeren, ja der Schwachen (Andorra!). Ihr Schutzbedürfnis kennt der starke Staat wenig oder gar nicht. Ihm verkehrt sich der Wert natürlicher Grenzen eher ins Gegenteil. Ihr Fehlen hat einen Staat entstehen lassen von mehr als doppelter zusammenhängender Fläche Europas, das russische Reich. In gleicher Weise widerspricht nun aber dem Schutzbedürfnis auch das Verkehrsbedürfnis. Es besteht eine unlösbare Spannung zwischen Verkehr und Grenze. Ist der Krieg die Fortsetzung der Politik, so ist der Schützengraben, das völlige Aufhören des Verkehrs, die andere Form der Grenze. Im Frieden verlegt sich die Hemmung des Verkehrs durch sie in eine technische und eine verwaltungsmäßige. Diese findet sich als Zollschranke fast überall. Jene nur im Bereich natürlicher Grenzen. Sofern diese aber, wie wir sahen, die Zahl der Einzelstaaten vermehren, verlängern sie auch die Grenzen. Die Küste hat auch hier ihre Vorzugsstellung. Mit der gern getragenen Unbequemlichkeit der Umladung erkauft sie die Möglichkeit des Weltverkehrs. Zuerst erheben also die Küstenstaaten, der englische Freihandel, und darnach auch der Kaufmann im Innern des Festlandes im Namen der Weltwirtschaft je länger je mehr Einwände gegen die Grenzen und zumal die natürlichen Grenzen. Verkehrs¬ bedürfnis und Machtstreben kommen also hier überein. eine Sachlage, welche die Verwandtschaft beider Richtungen zu erkennen gibt. Beider Endziel ist der Einheitsstaat. Die Spannung zwischen Schutzbedürfnis und Ver¬ kehrsbedürfnis, zwischen Grenze und Handel, zwischen Schützengraben und Zivilisation ist letzten Endes eben die zwischen Einzelstaat und Gesamtstaat. Vorläufig scheinen wir uns durch die Verkehrsentwicklung ermöglichten größeren staatlichen Interessengemeinschaften zu nähern, mehr oder weniger organischen Staatenbünden. Und es ist bezeichnend dafür, wie weit wir von dem Weüstaat entfernt sind, daß selbst ein Naumann solche Staatengemeinschaften mit einem durchgehenden Schützengraben umgeben will. Wir aber können hier feststellen, daß der Wert natürlicher Grenzen in hohem Maße von den politischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/217
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/217>, abgerufen am 25.08.2024.