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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr.

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Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Verhältnissen der durch sie getrennten Staaten abhängig sein muß. Je nach
dem überwiegenden Schutz- oder Verkehrsbedürfuis sind natürliche Grenzen will¬
kommen oder unwillkommen. Schon der Grenzverlauf im einzelnen, der Besitz
der Pässe, womöglich der Ausgänge aus dem Gebirge und des jenseitigen Vor¬
landes zeigt den stärkeren der beiden Nachbarn an. Und so wird Mißtrauen
oder Bündnis, Zuversicht oder Furcht die technisch-zivilisatorische Ausgestaltung
der beiderseitigen Grenzgegenden entscheidend beeinflussen. D. h. aber, daß der
Grad der Beseitigung natürlicher Grenzen von dem historisch-politischen Moment
abhängig ist. Man könnte hier an die Geschichte des Kanaltunnel-Projekts
zwischen England und Frankreich erinnern. Es würde zu weit führen, im
einzelnen zu verfolgen, wie an Stelle mangelnder oder beseitigter natürlicher
Grenzen der Ersatz durch künstlichen Festungsbau einsetzt, und je nach den
politischen Nachbarverhältnissen dieser militärische Grenzsaum seine Ausführung
erhält.

Nur eine merkwürdige Umkehrung sei erwähnt, nämlich der in Kriegs- und
Friedenszeiten sehr erfolgreiche Schutz der russisch-deutschen Grenze durch
russischerseits vermiedenen Straßen- und Eisenbahnbau. Dieses kulturwidrige
Verfahren, verstärkt durch den Kosakenkordon, wirkt wie die Errichtung natür¬
licher Grenzen. Denn der Grenzstreifen bleibt weit unter dem Verkehrsniveau
seiner Umgebung, und wir erinnern uns jener Grenzwildnisse barbarischer Völker,
die uns oben beschäftigten. Auch sie sind künstlich-natürliche Grenzschutzräume.

Es drängt sich in unseren Tagen hier noch ein anderer Vergleich auf.
Die natürliche Grenze, der Greuzsaum, gleicht dem Niemandsland zwischen den
Schützengräben des Stellungskriegs und andererseits dem Pufferstaat in
Friedenszeiten. Der Weltkrieg lehrt, wie stark für solch ein Zwischen¬
staatswesen die Versuchung ist, seine Aufgabe zu vergessen, gewissermaßen
eine natürliche Grenze, ein neutraler Grenzsaum zu sein. Und zur Stunde
liegt es nahe, zu betonen, welche unvergleichlichen Vorteile sür unser
eigenes Land, welch wirksamer Schutz seiner Industrie vor Luftangriffen die
Eroberung breiter Landstreifen im Westen und Osten bedeutet. Die Flucht
militärisch-wertvoller Industrien aus den durch das Flugwesen bedrohten Grenz¬
gebieten ins Innere des Landes haben wir gleichwohl vor Augen: Der Grenz¬
streifen kann nicht breit genug sein. Die Entwertung jedes natürlichen Grenz¬
schutzes durch die Entwicklung des Luftverkehrs, der Luftflotten, kann in ihrer
enormen Wirkung noch gar nicht übersehen werden.

Jedoch ungeachtet all dieser Einschränkungen des Begriffs der natürlichen
Grenzen wird er im Gebiet der politischen und historischen Geographie immer An¬
wendung finden, so wie die Durchbrechung eines gültigen Prinzips, dessen Wert
nicht erschüttert. Es wird allerdings der historische Geograph ihm mehr Auf¬
merksamkeit zuwenden müssen, als der Politiker es darf, und im Krieg zumal
macht sich für diesen der Mangel an sicheren Anhaltspunkten zur Grenzfestlegung
besonders bemerklich.


Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen

Verhältnissen der durch sie getrennten Staaten abhängig sein muß. Je nach
dem überwiegenden Schutz- oder Verkehrsbedürfuis sind natürliche Grenzen will¬
kommen oder unwillkommen. Schon der Grenzverlauf im einzelnen, der Besitz
der Pässe, womöglich der Ausgänge aus dem Gebirge und des jenseitigen Vor¬
landes zeigt den stärkeren der beiden Nachbarn an. Und so wird Mißtrauen
oder Bündnis, Zuversicht oder Furcht die technisch-zivilisatorische Ausgestaltung
der beiderseitigen Grenzgegenden entscheidend beeinflussen. D. h. aber, daß der
Grad der Beseitigung natürlicher Grenzen von dem historisch-politischen Moment
abhängig ist. Man könnte hier an die Geschichte des Kanaltunnel-Projekts
zwischen England und Frankreich erinnern. Es würde zu weit führen, im
einzelnen zu verfolgen, wie an Stelle mangelnder oder beseitigter natürlicher
Grenzen der Ersatz durch künstlichen Festungsbau einsetzt, und je nach den
politischen Nachbarverhältnissen dieser militärische Grenzsaum seine Ausführung
erhält.

Nur eine merkwürdige Umkehrung sei erwähnt, nämlich der in Kriegs- und
Friedenszeiten sehr erfolgreiche Schutz der russisch-deutschen Grenze durch
russischerseits vermiedenen Straßen- und Eisenbahnbau. Dieses kulturwidrige
Verfahren, verstärkt durch den Kosakenkordon, wirkt wie die Errichtung natür¬
licher Grenzen. Denn der Grenzstreifen bleibt weit unter dem Verkehrsniveau
seiner Umgebung, und wir erinnern uns jener Grenzwildnisse barbarischer Völker,
die uns oben beschäftigten. Auch sie sind künstlich-natürliche Grenzschutzräume.

Es drängt sich in unseren Tagen hier noch ein anderer Vergleich auf.
Die natürliche Grenze, der Greuzsaum, gleicht dem Niemandsland zwischen den
Schützengräben des Stellungskriegs und andererseits dem Pufferstaat in
Friedenszeiten. Der Weltkrieg lehrt, wie stark für solch ein Zwischen¬
staatswesen die Versuchung ist, seine Aufgabe zu vergessen, gewissermaßen
eine natürliche Grenze, ein neutraler Grenzsaum zu sein. Und zur Stunde
liegt es nahe, zu betonen, welche unvergleichlichen Vorteile sür unser
eigenes Land, welch wirksamer Schutz seiner Industrie vor Luftangriffen die
Eroberung breiter Landstreifen im Westen und Osten bedeutet. Die Flucht
militärisch-wertvoller Industrien aus den durch das Flugwesen bedrohten Grenz¬
gebieten ins Innere des Landes haben wir gleichwohl vor Augen: Der Grenz¬
streifen kann nicht breit genug sein. Die Entwertung jedes natürlichen Grenz¬
schutzes durch die Entwicklung des Luftverkehrs, der Luftflotten, kann in ihrer
enormen Wirkung noch gar nicht übersehen werden.

Jedoch ungeachtet all dieser Einschränkungen des Begriffs der natürlichen
Grenzen wird er im Gebiet der politischen und historischen Geographie immer An¬
wendung finden, so wie die Durchbrechung eines gültigen Prinzips, dessen Wert
nicht erschüttert. Es wird allerdings der historische Geograph ihm mehr Auf¬
merksamkeit zuwenden müssen, als der Politiker es darf, und im Krieg zumal
macht sich für diesen der Mangel an sicheren Anhaltspunkten zur Grenzfestlegung
besonders bemerklich.


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[0218] Natürliche Grenzen und Sprachgrenzen Verhältnissen der durch sie getrennten Staaten abhängig sein muß. Je nach dem überwiegenden Schutz- oder Verkehrsbedürfuis sind natürliche Grenzen will¬ kommen oder unwillkommen. Schon der Grenzverlauf im einzelnen, der Besitz der Pässe, womöglich der Ausgänge aus dem Gebirge und des jenseitigen Vor¬ landes zeigt den stärkeren der beiden Nachbarn an. Und so wird Mißtrauen oder Bündnis, Zuversicht oder Furcht die technisch-zivilisatorische Ausgestaltung der beiderseitigen Grenzgegenden entscheidend beeinflussen. D. h. aber, daß der Grad der Beseitigung natürlicher Grenzen von dem historisch-politischen Moment abhängig ist. Man könnte hier an die Geschichte des Kanaltunnel-Projekts zwischen England und Frankreich erinnern. Es würde zu weit führen, im einzelnen zu verfolgen, wie an Stelle mangelnder oder beseitigter natürlicher Grenzen der Ersatz durch künstlichen Festungsbau einsetzt, und je nach den politischen Nachbarverhältnissen dieser militärische Grenzsaum seine Ausführung erhält. Nur eine merkwürdige Umkehrung sei erwähnt, nämlich der in Kriegs- und Friedenszeiten sehr erfolgreiche Schutz der russisch-deutschen Grenze durch russischerseits vermiedenen Straßen- und Eisenbahnbau. Dieses kulturwidrige Verfahren, verstärkt durch den Kosakenkordon, wirkt wie die Errichtung natür¬ licher Grenzen. Denn der Grenzstreifen bleibt weit unter dem Verkehrsniveau seiner Umgebung, und wir erinnern uns jener Grenzwildnisse barbarischer Völker, die uns oben beschäftigten. Auch sie sind künstlich-natürliche Grenzschutzräume. Es drängt sich in unseren Tagen hier noch ein anderer Vergleich auf. Die natürliche Grenze, der Greuzsaum, gleicht dem Niemandsland zwischen den Schützengräben des Stellungskriegs und andererseits dem Pufferstaat in Friedenszeiten. Der Weltkrieg lehrt, wie stark für solch ein Zwischen¬ staatswesen die Versuchung ist, seine Aufgabe zu vergessen, gewissermaßen eine natürliche Grenze, ein neutraler Grenzsaum zu sein. Und zur Stunde liegt es nahe, zu betonen, welche unvergleichlichen Vorteile sür unser eigenes Land, welch wirksamer Schutz seiner Industrie vor Luftangriffen die Eroberung breiter Landstreifen im Westen und Osten bedeutet. Die Flucht militärisch-wertvoller Industrien aus den durch das Flugwesen bedrohten Grenz¬ gebieten ins Innere des Landes haben wir gleichwohl vor Augen: Der Grenz¬ streifen kann nicht breit genug sein. Die Entwertung jedes natürlichen Grenz¬ schutzes durch die Entwicklung des Luftverkehrs, der Luftflotten, kann in ihrer enormen Wirkung noch gar nicht übersehen werden. Jedoch ungeachtet all dieser Einschränkungen des Begriffs der natürlichen Grenzen wird er im Gebiet der politischen und historischen Geographie immer An¬ wendung finden, so wie die Durchbrechung eines gültigen Prinzips, dessen Wert nicht erschüttert. Es wird allerdings der historische Geograph ihm mehr Auf¬ merksamkeit zuwenden müssen, als der Politiker es darf, und im Krieg zumal macht sich für diesen der Mangel an sicheren Anhaltspunkten zur Grenzfestlegung besonders bemerklich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331409/218>, abgerufen am 25.08.2024.